Gerade startete "The Clearing - Anatomie einer Entführung"
mit Robert Redfort, Helen Mirren und William Dafoe in den Kinos. Gedreht
wurde der Thriller in North Carolina, einer der Filmhochburgen der USA, die
noch vor zwei Jahren hinter Kalifornien und New York Rang drei belegte.
"Bitte keine Fotos on stage und auf keinen Fall etwas umstellen."
Lee schaut die Schar Filmfans, die sich an diesem Samstagmittag in dem Café
der Screen Gems Studios in Wilmington treffen, aufmerksam an. Auf
der einstündigen Tour über das Gelände wird es zwar viele
Eindrücke, aber keine Erinnerungsstücke von den Sets geben.
In den Filmstudios, die aus der Ferne an massige Lagerhallen erinnern, wird
zurzeit die High-School-Serie "One Tree Hill" fürs amerikanische Fernsehen
gedreht, und die Darsteller sollen am Montag alles so vorfinden, wie sie
es verlassen haben. Die meisten Besucher kommen an diesem Wochenende, um
dieselbe Luft zu schnuppern wie die Schauspieler aus der Teenie-Serie
"Dawsons Creek", die von 1998 bis April 2003 in den Studios und "on
location" in Wilmington sowie an der Cape-Fear-Küste gedreht wurde.
Im Kühlschrank am Set von "One Tree Hill" stehen Orangensaft und Milch,
deren Haltbarkeitsdatum längst abgelaufen ist. In der unbenutzten
Spülmaschine baumelt das Preisschild, und hinter einer Schrankwand verbirgt
sich die Kamera: Willkommen in der Filmwelt mit ihrer hölzernen Kulisse,
schwenkbarer Einrichtung sowie den ausgeleuchteten Räumen, in denen
grelle Scheinwerfer durch die offene Decke ragen.
Alles begann hier in den frühen 80er Jahren. Die Produzenten Dino De
Laurentiis und Frank Capra jr. wurden bei ihrer Suche nach einem Drehort
für die Verfilmung eines Romans von Stephen King in dem verschlafenen
North Carolina fündig. Mit "Der Feuerteufel" rüttelten sie 1983
alle wach, und die Kreativen aus der Film- und Fernsehbranche zog es fortan
an die Küste im Osten, auf die Hügel im Landesinneren oder in die
Wälder der Blue Smoky Mountains im Westen von North Carolina.
Mehr als 700 Produktionen wurden bis heute in dem Staat abgewickelt. Auf
über sechs Milliarden Dollar beziffert die Filmkommission North Carolina
den Gesamtumsatz. Hinter den Erfolgs-Bilanzen verbergen sich Kinofilme und
in diesen wiederum Szenen, die Kultcharakter haben: Der Wassertanz von Patrick
Swayze und Jennifer Grey in "Dirty Dancing" wurde am Lake Lure gedreht. Daniel
Day-Lewis rannte sich in "Der letzte Mohikaner" im Chimney Rock Park die
Seele aus dem Leib. In einem Apartmenthaus in Wilmington lebte Dorothy alias
Isabella Rosselllini in "Blue Velvet", und das Team von "The Clearing" trotzte
in den Bergen um Asheville den Stürmen.
An normalen Tagen ist das historische Zentrum von Wilmington, das 1739 von
europäischen Siedlern gegründet wurde, ein ruhiges Plätzchen.
Doch heute ist kein normaler Tag, sondern letzter Drehtag für den
HBO-Fernsehfilm "My Life in Idlewild mit der Band Outkast als Hauptakteur.
Die Straße vor dem sahneweißen, viktorianischen Bed & Breakfast
"The Verandas" ist abgesperrt. Überall parken Lastwagen.
"Ein Film - und der Geruch nach Diesel", so beschreibt Francine DeCoursey
das Aroma der Filmarbeit. Eine Portion Wehmut liegt in ihrer Stimme, denn
seit mehr als zwei Jahren leidet die Branche vor Ort an Auftragsmangel.
"Früher wurden hier im Schnitt 23, heute nur drei bis vier Filme pro
Jahr gedreht." Die Produzentin und Agentin treffen wir mit der Autorin Connie
Nelson ("Film Junkies Guide to North Carolina") im Water Street Restaurant
an der Promenade des Cape Fear River. Beide kennen sich im Filmzirkus, der
seit 1983 in Wilmington Halt machte, bestens aus.
Einen herben Verlust musste die Film-Wirtschaft vor zwei Jahren hinnehmen,
als "Unterwegs nach Cold Mountain" in den rumänischen Karpaten statt
in den Bergen North Carolinas gedreht wurde, wo die Lovestory zu Zeiten des
Bürgerkriegs von dem einheimischen Autor Charles Frazier in seinem
Debütroman 1997 angesiedelt worden war.
Ganz in der Nähe des Handlungsorts, in Asheville, feierte man im November
das zweite Filmfestival. Die Schauspielerin Andie MacDowell, die in der Stadt
lebt, eröffnete die viertägige Veranstaltung. Die Majors mögen
im Augenblick überall auf der Welt auf der Suche nach dem günstigsten
Hot Spot für ihre Millionen-Dollar-Filme sein. Die Cineasten in North
Carolina konzentrieren sich derweil auf ihr "Kerngeschäft": die Liebe
zum Film.
Connie Nelson; Floyd Harris: Film Junkie's Guide to North
Carolina, bei amazon.com für 14,50 $
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