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Der Medien-Zorn: Die Jump-Cut-Medien-Kolumne von Carsten Zorn. |
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(Jump-Cut-Medienkolumne, 3. Folge, 12.12.00) (Lehr-)Wochen der EntscheidungWas Polit-Soaps so alles über die gegenwärtige Gesellschaft erzählen können: Das US-Präsidentschafts-Wahl-Debakel und die Berichterstattung darüber (CNN et al.): von Carsten Zorn Das, worauf gar nicht gewartet werden kann, läßt die Erwartung kalt. (Hans Blumenberg) Das dagegen, wovon man erwarten darf, es wenigstens zu Lebzeiten noch erleben zu dürfen, das kann die Erwartung auch schon mal ziemlich heißlaufen lassen. Und erst, wenn man auch noch den Zeitpunkt seines Eintretens recht genau zu kennen meint... Die Nacht der Entscheidung. Daß ich nicht lache! In der Wahl-Nacht vom 7./8. November sendete das ZDF eine Sondersendung zur amerikanischen Präsidentschafts-Wahl. Die ganze Nacht hindurch. Die Sendung trug den Titel Die Entscheidung. Ebenfalls die ganze Nacht hindurch, bis zum nächsten Morgen. Allein, die auf diese Weise hartnäckig (gleichsam wie in einem Regen-Ritual) beschworene Entscheidung, sie weigerte sich ebenso hartnäckig sich einzustellen wie der ersehnte Regen - der allerdings im Anschluß an entsprechende Rituale wohl regelmäßig noch länger auf sich warten lassen und ungleich häufiger wohl auch einfach ganz ausbleiben dürfte (als eine Entscheidung bei demokratischen Wahlen). Wie auch immer. Der in der Wahlnacht zwischenzeitliche entstandene Eindruck, sie (die Entscheidung) sei doch noch Fleisch geworden, ihre Transsubstantiation in die Immanenz und Profaneität des politischen Alltags moderner Demokratien, die zu begehen das Fernsehen in dieser Nacht angetreten war, sei gelungen - er war jedenfalls bald wieder zerstoben, die Fernseh-Messe verdorben; und blieb dies bis zu ihrem Ende, ihres Glanzes entkleidet und ihres Höhepunktes beraubt - und wir um ihn betrogen. Das Fernsehen (bzw. Amerika, ja: die Demokratie?) hatte mir also zuviel versprochen. Und das war sehr ärgerlich. Und nicht nur für mich. Auch die Börse etwa reagierte verstimmt, verunsichert, ja geschockt - wie es in Börsen-Berichten hieß. (Ich finde, die mit der längst akzeptierten Anthropomorphisierung der Börse eröffneten Möglichkeiten sind bislang ja noch nicht mal annähernd ausgeschöpft worden. Die Börse war, würde ich ja - wenn schon, denn schon - sagen, echt sauer, ziemlich angenervt, ach was: total verarscht fühlte sie sich. Genau wie ich halt.) Bereits am nächsten Tag freilich hatte zumindest das Fernsehen sich wieder gefaßt und ziemlich hellsichtig auf alles, was noch folgen sollte, eingestellt: Die ZDF-Sondersendung zur amerikanischen Wahl hieß nun Die Hängepartie. Entscheidung und Geschwindigkeit Eine Wahl hat gefälligst eindeutig auszugehen! Vor allem aber haben wir alle doch längst glauben dürfen, daß die modernsten Methoden der Prognostik, Hoch- und Wahrscheinlichkeitsrechnung zuverlässige Ergebnisse produzieren - lange bevor die tatsächliche Stimmenauszählung abgeschlossen ist. Und man also auch gleich am Abend nach der Stimmabgabe feiern kann bzw. jedenfalls: Gewißheit hat. Das amtliche Endergebnisses war doch längst Formsache geworden und kaum noch mehr als eine versteckte Meldung wert. Vor allem also hat die Sache schnell zu einem Ergebnis zu führen. Schnelle und klare Siege (und Niederlagen), damit können wir leben! (Sind wir doch alle als faire Sportler erzogen.) Und so kann man am Ende den Medien dann auch kaum noch böse sein, daß sie unbedingt noch in der Wahlnacht (irgend) ein Ergebnis verkünden wollten. Ja, sie durften sogar legitimerweise glauben, daß, was sich zwischenzeitlich abzeichnete als solches gelten durfte. Jeder Fernsehzuschauer erwartete es schließlich ebenso, wollte eines hören und ebensogerne (wie die Medien) daran glauben - selbst, wie man sah, der vermeintliche (und nun wohl doch tatsächliche) Wahl-Verlierer Al Gore. Heiße Erwartungen Anders gesagt: In der Art wie wir heute die umgehende Feststellung von Wahlergebnissen (irgendwann am späten Wahlabend wenigstens) erwarten, das gehört wohl zu einer dritten (evolutionär neuen) Klasse von Erwartungen, um die man Luhmanns Klassifizierungsschema für Erwartungen (kognitive/normative) ergänzen zu müssen scheint. Handelt es sich hier doch offenbar um Erwartungen, die weder normativ zu nennen wären (weil an ihnen eben nicht, wie an normativen Erwartungen, auch noch gegen alle Evidenzen festgehalten wird) noch kognitiv. Denn sie lassen sich zwar, wie diese (also kognitive), durchaus ändern - ihre Enttäuschung jedoch wirkt zunächst mal geradezu so erschütternd als wären es längst normative geworden. Man könnte sie darum vielleicht als durch Gewöhnung zu Gewißheiten geronnene Erwartungen bezeichnen, als natürliche oder vielleicht auch heiße Erwartungen; es sind jedenfalls Erwartungen, die anzeigen, wie sehr auch wir (noch/gerade) heute dazu neigen, einiges an unserer technisch-sozialen zweiten Natur so zu behandeln als sei es Teil unserer ersten (bzw.: als gäbe es überhaupt noch/wieder irgendwelche Gewißheiten). Solche Erwartungen bilden sich nun offenbar insbesondere dort (und besonders leicht), wo Technik involviert ist - die halt auch nicht ganz unwesentlich daran beteiligt ist, daß heute so vieles so reibungslos funktioniert, daß man schließlich glaubt, dies quasi - eben: natürlich erwarten zu dürfen. (Was in diesem Zusammenhang funktionieren heißen soll? Gemeint ist, daß im übrigen geschehen (mag), was will: die Technik liefert die beabsichtigten Ergebnisse. (Niklas Luhmann, im flgd. N.L.). Also: Das Funktionieren kann man feststellen, wenn es gelingt, die ausgeklammerte Welt von Einwirkungen auf das bezweckte Resultat abzuhalten. (N.L.)) Jedenfalls, um das noch mal festzuhalten: Ausgerechnet gegenüber dem vielleicht Artifiziellsten überhaupt, funktionierender Technik, verhalten wir uns also offenbar nicht selten wie gegenüber dem Natürlichsten überhaupt. Technik Daß technische Arrangements in der gesellschaftlichen Evolution präferiert werden, scheint vor allem damit zusammenzuhängen, daß sie, obwohl es um artifizielle Objekte geht, Konsens einsparen. Was funktioniert, das funktioniert. Was sich bewährt, das hat sich bewährt. Darüber braucht man kein Einverständnis mehr zu erzielen. Technik erspart (...), soweit sie Abläufe koordiniert, die stets schwierige und konfliktträchtige Koordination menschlichen Handelns.(N. L.) Im Falle von Wahlen (und der hier in Rede stehenden allemal) und Wahlausgängen ist Technik gleich in mehrerlei Hinsichten involviert: in Gestalt von Hochrechnungen unter anderem, von Prognosen und Umfragen, in Gestalt von Stimmzettel-Zählgeräten sowie schließlich zum Beispiel auch in Gestalt jener sonderbaren, inzwischen wohl weltberühmten floridaschen Stimmzettel-Durchstoß-Technik, mit deren Beschreibung (sowie aller Probleme, die darum herum enstanden sind; nicht-vollständig oder nicht-eindeutig ausgestanzte Löcher etwa) CNN unzählige Stunden seiner Sendezeit zu füllen wußte, und mit der mittlerweile auch verschiedenste, oberste und unterste, Gerichte schon seit Wochen sich rumschlagen müssen. In jeder dieser Gestalten versagte die Technik in diesem Fall - oder offenbarte doch wenigstens erhebliche Schwächen. Und so etwas kann zu einem ernsten Problem werden - ist die moderne Gesellschaft doch (schon aus Zeitgründen) auf das reibungslose Funktionieren solcher Techniken angewiesen, ist dieses Funktionieren doch zunehmend in all ihre Operationen als Voraussetzung eingebaut: In allen gegenwärtigen Operationen muß die gesellschaftliche Kommunikation Technik voraussetzen und sich auf Technik verlassen können, weil in den Problemhorizonten der Operationen andere Möglichkeiten nicht mehr zur Verfügung stehen. Und der Zeitbedarf der Ablösung von Technik durch Einleitung regredierender Entwicklungen wäre derart groß und die sachlichen Konsequenzen wären derart gravierend und im einzelnen unabschätzbar, daß eine Umstellung auf andere Außenhalte der Gesellschaft praktisch ausgeschlossen ist. (N. L.). Soviel zum wohl unbewußten, aber gleichwohl ziemlich rationalen Kern der Widerstände dagegen, in Florida nun nachträglich eine komplette Handauszählung durchzusetzen. Finge man erst einmal an, alle mit der Hilfe von Technik erzielten (und errechneten) Ergebnisse mit rein menschlichen Mitteln nachvollziehen und nachprüfen zu wollen - wo kämen wir denn da hin! Offenbar würde es alle verfügbare, anderweitig aber offensichtlich nötiger gebrauchte Kapazität blockieren. Ts ts, was so alles schiefgehen kann! Das Debakel der US-amerikanischen Präsidentschaftswahl vom 7. November 2000 erinnerte darüberhinaus daran, daß die beschriebenen, evolutionär relativ jungen natürlichen Erwartungen sich nicht allein auf einzelne technische Geräte (Computer), technologische Systeme (Elektrizitätsversorgung) oder begrenzte technisch-soziale Systeme (wie den öffentlichen Nahverkehr etwa) beziehen können, sondern auch auf demokratische Verfahren, auf ganze Funktionssysteme (Wirtschaft, Recht usw.), ja letztlich wohl sogar auf die gesamte moderne Weltgesellschaft als System: Irgendwie gehen wir alle doch mit einer erstaunlichen Selbstverständlichkeit und Gewißheit davon aus, daß da draußen alles Tag für Tag genauso funktioniert, wie wir es gewöhnt sind. Nicht ganz abwegig scheint es dann auch, davon auszugehen, daß tendenziell immer mehr als Technik anzusprechen wäre - sofern man Technik eben dadurch definiert sieht, man als Technik alles bezeichnet, womit eben heiße Erwartungen verbunden werden können (und empirisch feststellbar auch verbunden werden); alles also, was, funktioniert es plötzlich einmal nicht mehr, unabhängig von allen veränderlichen Rahmenbedingungen, so, wie man es erwartet (produziert es also plötzlich keine brauchbaren Ergebnisse mehr oder fällt gleich ganz aus), einem regelrecht Bauchschmerzen verursacht, einen hilflos zurückläßt, einen zwingt, völlig außeralltägliche Improvisationskünste zu mobilisieren und einen schnell von Instanz zu Instanz rennen läßt. Weil sich dann immer schwer feststellen läßt, woran es denn nun eigentlich liegt - weil eben so viele, für einen Einzelnen kaum noch durchschaubare Voraussetzungen für sein reibungsloses Funktionieren nötig sind. Das jedenfalls ist ja wohl auch der Haupteffekt, den die wochenlange CNN-Berichterstattung über den Streit um das Florida Vote erzeugte: Man wurde gewahr, wieviele kleinste Einzelumstände (betreffend stylus, ballots, count-devices, dimples, hanging chats, absentee ballots, die Gesetzgebung einzelner Gemeinden usw.) ineinandergreifen müssen, damit eine Wahl in modernen Massendemokratien funktioniert bzw.: wieviel und wo dabei überall etwas schiefgehen kann. Moderne Demokratie, Herrschaft mittels Mehrheitsentscheidung, ist vor allem anderen eben: eine Technik (eine Herrschafts-Technik, natürlich), deren reibungsloses Funktionieren (mittlerweile) von zahllosen (weiteren) technischen Faktoren abhängt. So gesehen ist dann allerdings der Spott, der jetzt über den Amerikanern ausgeschüttet wird (vgl. etwa den TITANIC-Titel 12/2000: Amerika nach der Wahl: Das dümmste Volk der Welt), auch ein bißchen unfair und billig. Wer den Schaden hat... Man könnte jedenfalls, angesichts dieses Falls, schließlich auch auf den Gedanken kommen, daß wohl jede Technik (der medizinischen Diagnostik etwa, BSE (!), der Gesetzgebung, der wissenschaftlichen Evidenzerzeugung, der gerichtlichen Urteilsfindung, der schulischen Notenbildung), auf die sich diese Gesellschaft in all ihren Entscheidungen verlassen muß, würde sie einmal derart ins Zentrum der massenmedialen Aufmerksamkeit gerückt, würde sie einmal derart, wie jetzt die Wahlauszählungs-Verfahren in Florida (oder die Butterfly-Ballots in Palm Beach), der wochenlangen Beobachtung der ganzen Welt, und damit auch der von unzähligen Wissenschaftlern verschiedenster Disziplinen, von Rechtsexperten, Historikern usw. ausgesetzt - daß wohl keine einzige moderne Technik einer solchen Bewährungsprobe standhielte. Wie aber den Schaden vermeiden? (Man könnte) daran denken, Technik als funktionierende Simplifikation zu begreifen. Allerdings wissen wir auch (...), daß die Komplexität selbst sich in keine Reduktion einfangen, in keinem Modell repräsentieren läßt. Auch wenn es funktioniert, muß man immer damit rechnen, daß etwas übrig bleibt. > Gelingende< Reduktion läuft also auf unschädliches Ignorieren hinaus. (N.L.) Und der Witz wäre dann (einer jedenfalls), daß Legitimität durch Technik auf einem Paradox gründet (das sich nur in Form einer Tautologie formulieren läßt): Sie funktioniert, wenn und solange es funktioniert. Moderne Verfahren sind vor einer detaillierten Prüfung solange sicher, wie sie davor sicher sind. Empirisch löste sich dies dann so auf: Sie sind sicher, solange sie so eindeutige Ergebnisse zeitigen, sie so reibungslos funktionieren, daß nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit immer mögliche Ungenauigkeiten (Ungerechtigkeiten) nicht mehr ins Gewicht (zu) fallen (scheinen), freundlich übersehen, übergangen, in Kauf genommen werden. Einfach weil man, nach menschlichem Ermessen (und allen Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung), davon ausgehen zu können meint, daß eine genauere Untersuchung nicht verlohnte; weil sie am Ergebnis nichts ändern würde; weil ein klares Resultat, eine mit bewährten Mitteln erzeugte Entscheidung immer noch besser ist als ein niemals endender Prozeß von Prüfungen und Zweifeln usw. Und das gilt eben so lange, bis dann doch einmal auffällt, daß das eingespielte Ignorieren eben doch nicht ganz so unschädlich ist. (Im Falle Florida: Eben das Ignorieren bestimmter immer möglicher Fälle, für die die Technik (Stimmen-Zählen) keine eindeutigen Anweisungen vorsieht.) Anders gesagt: Das Funktionieren der modernen Gesellschaft würde ganz wesentlich abhängen von Techniken, die so schnell so eindeutige Ergebnisse zeitigen, daß dies ihre Fehlerhaftigkeit zu verbergen vermag und Nachfragen erspart. Also zwar immer ein Restrisiko bleibt - das von uns allen aber längst stillschweigend akzeptiert ist. Was das Problem erzeugt, stellte demnach dann jedoch zugleich auch die einzige Möglichkeit dar, es zu verhindern: Die eigentlich spannende Frage ist, ob die Errungenschaften der Technik nach einer Logik der Evolution irreversibel sind und jeder Ausfall daher nur durch neue Techniken kompensiert werden kann(...) (N. L.). Um die Unzulänglichkeiten ihrer Techniken zu verbergen, könnte die moderne Gesellschaft dadurch allerdings ja auch zu immer ausgefeilteren Techniken finden, die ihre eigenen Unzulänglichkeiten immer besser zu verbergen - vielleicht sogar: Probleme immer besser zu lösen vermögen? Zumindest: Eine möglichst störungsfrei geplante und eingerichtete Technik hat genau darin ihr Problem, wie sie wieder zu Störungen kommt, die auf Probleme aufmerksam machen, die für den Kontext des Funktionierens wichtig sind. (N. L.) War also das US-Wahldebakel in diesem Sinne eine wichtige, nötige, gar glückliche Störung? Die man nicht ignorieren sollte? Eine, die auf Probleme aufmerksam machen wollte, ja: auch uns hier in Europa machen sollte? Hat eigentlich schon mal jemand geprüft, welche Probleme bei knappen Wahl-Ergebnissen in Deutschland auftreten könnten? Wie steht es um unsere Stimmzettel, Auszählverfahren, Wahlgesetze, unser Wahlrecht? Nun jedenfalls wäre Gelegenheit, Problemen, wie sie sich in den USA zeigten, hier vorzubeugen - bevor sie echte Probleme machen. (Dummerweise kann man allerdings auch nie ganz sicher sein, daß man dadurch nicht nur verschlimmbessern würde - muß man doch immer mitbedenken, daß immer noch ganz andere Fälle möglich bleiben, für die dann vielleicht die bestehende Technik besser gerüstet wäre.) So eigenartige Bestimmungen wie sie in Florida, oder den gesamten USA(?), bestehen, gibt es wohl bei uns ja aber auch einfach nicht - wonach z.B. bei der Stimmabgabe die Absicht des Wählers zählt. Hat man so was Irres schon mal gehört? Da müssen sich selbst die geduldigsten Hermeneuten ja einfach die Zähne dran ausbeißen: anhand eines durch Löcher versehrten Zettels, also nicht mal anhand eines Textes, die Absicht eines Autors ermitteln zu wollen - wirklich, also so was! Und was etwa die Wahlkabinen angeht, sagte mir gerade eine Amerikanerin, würde sie ja immer denken: Wir fliegen zum Mond, aber diese Wahlkabinen sehen immer noch aus wie schmuddelige Duschkabinen aus den 50-er Jahren! (Die deutschen Wahllokale, die ich bislang von innen sehen konnte, sahen allerdings auch nicht gerade so aus, als erwarteten sie mich, den Souverän, einen von denen, von denen alle Macht ausgeht! Inzwischen sind öffentliche Toiletten einladender eingerichtet, jede Party-Einladung ansprechender gestaltet als unsere Stimmzettel und man bekommt an jeder Ecke für eine Mark bessere Stifte als die, mit denen man sein Kreuzchen machen muß.) Auf das Versagen einer Technik folgt der Einsatz einer anderen Was immer die Zufallsursachen technischer Erfindungen sein mögen: die Evolution greift zu und treibt die Strukturentwicklung der Gesellschaft die damit angebahnte Richtung.(N.L.) Für die Hypothese, daß problembehaftete Technik nur noch durch wieder andere Technik zu ersetzen sein könnte, liefert die noch immer nicht entschiedene amerikanische Präsidentschaftswahl einiges an Hinweisen. Wo die eine Technik (Wahlstimmenauszählung) ihre Fähigkeit verlor, Entscheidungshilfen zu liefern, da trat alsbald eine andere Technik auf den Plan und an deren Stelle, die (in der gegebenen Situation) klare(re) Resultate zu liefern versprach: Die Demoskopie. Die Ergebnisse der täglich erhobenen Meinungen zur Frage Should Gore continue? dürften jedenfalls nicht unerheblich auf alle Entscheidungen einwirken - die zur letztlichen Entscheidung beitragen werden. (Bei dieser Gelegenheit: Daß es am Ende gar keine Entscheidung geben könnte, ist schließlich schlichtweg ausgeschlossen). Nicht ganz unwichtig ist nun aber außerdem auch noch, daß beide Seiten, also sowohl die, die finden, daß Gore nun langsam mal aufhören sollte, wie die, die finden, er solle weitermachen, sich im wesentlichen auf sportliche Argumente verlassen. Den einen gilt Gore als schlechter Verlierer, der nicht weiß, wann man aufgeben muß. Für die anderen wäre es sportlich unfair, nicht auf die Ermittlung des exakten Ergebnisses zu bestehen. Entscheidungen in der Demokratie: Wahl - Kampf - Sport - Technik Nochmal: Daß technische Arrangements in der gesellschaftlichen Evolution präferiert werden, scheint vor allem damit zusammenzuhängen, daß sie (...) Konsens einsparen. So ersparen demokratische Wahlen mittels Stimmabgabe Einverständnis zum Beispiel insbesondere darüber, welche Kriterien man seiner Stimmabgabe zugrundelegen sollte. Einem Stimmzettel sieht man nicht an, welche merkwürdigen Überlegungen seinen Ausfüller etwa zur Entscheidung für die FDP bewogen haben mögen. Am Ende zählt allein die Zahl. (Was die Gründe für die Entscheidung für die FDP sehr schön erledigt). (Weshalb aber im übrigen ja auch die Verachtung kluger Demokratieverächter, wie die von Stefan George (Schon Zahl ist Frevel o.s.ä.) und Jorge Luis Borges (m. ä. Überlegungen), durchaus immer etwas Irritierendes an sich hat: Sie treffen halt schon nicht selten ziemlich genau den Kern des Systems. Das kümmert das System allerdings herzlich wenig. Es funktioniert halt so prächtig.) Entgegen aller anderslautenden Vermutungen über die Legitimitätsgrundlagen modernen Demokratien (mit Mehrheitsregel) könnten sie jedenfalls genau hier zu suchen sein - in dem Umstand also, daß dabei eben: mit einer Technik (Stimmen zählen) Entscheidungen herbeigeführt werden, für die heute keine Alternative mehr ernsthaft vorstellbar ist, weil nichts anderes so schön eindeutig, einfach und schnell meßbare und quantifizierbare Ergebnisse zu zeitigen vermag. Es haben eben, wie schon Robert Musil sarkastisch formulierte, ein Pferd und ein Boxmeister vor einem großen Geist voraus, daß sich ihre Leistung und Bedeutung einwandfrei messen läßt und der Beste unter ihnen auch wirklich als der Beste erkannt wird (wenn denn die Meß-Verfahren und -Techniken nur ausreichend klar sind, wie man nach der US-Wahl hinzufügen muß; C.Z.), und auf diese Weise sind der Sport und die Sachlichkeit verdientermaßen an die Reihe gekommen, die veralteten Begriffe von Genie und menschlicher Größe zu verdrängen. Das einzige, was uns Modernen noch bleibt, sind Relationen, die Möglichkeit zu vergleichen also - und dazu eignen sich in Zahlen ausdrückbare Verhältnisse (wie aus dem Sport bekannt) nun einmal am besten. Und es liegt auch auf der Hand, daß mit einer Gesellschaft, in der man sich Vergleichen in eindeutig Meßbarem stellen muß, Sportsgeist am besten kompatibel scheint, sich also auch dem Individuum als Verhältnis zur Gesellschaft empfiehlt. Die Medien tragen ein weiteres zur sportlichen Wahrnehmung der Demokratie bei (Hängepartie), bzw. dem Umstand Rechnung, daß diese Art der Wahrnehmung aller möglichen sozialen Sachverhalte nun einmal so verbreitet und alternativlos scheint. Und daß sich nun (wieder mal) am Beispiel Amerikas so deutlich gezeigt hat, daß Entscheidungen heute wohl am legitimsten sind, wenn sie sportlichem Geist Genüge zu tun vermögen, ist wohl auch kein Zufall. Schon 1918 hatte Max Weber, in seiner Studie zum Geist des Kapitalismus, geargwöhnt, daß in der Moderne dereinst einmal Sportsgeist als einziger Kandidat übrig bleiben könnte, an die Stelle entwerteter traditioneller Motivationen und Leidenschaften zu treten - und den Vorschein darauf halt auch schon in den USA ausgemacht: Auf dem Gebiet seiner höchsten Entfesselung, in den Vereinigten Staaten, neigt das seines religiös-ethischen Sinnes entkleidete Erwerbsstreben heute dazu, sich mit rein agonalen Leidenschaften zu assoziieren, die ihm nicht selten geradezu den Charakter des Sports aufprägen. Zum Beleg führt Weber die Schilderung des Falls eines längst schon sorgenlos-reichen Unternehmers im Rentenalter an, dessen weiterhin ungebremstes unternehmerisches Engagement sich längst nicht mehr durch das Interesse an Erwerb erklären ließ (und durch religiöse Motive schon gleich gar nicht): Könnte der Alte nicht mit seinen 75 000 $ jährlich sich zur Ruhe setzen? -- Nein! die Warenhausfront muß nun auf 400 Fuß verbreitert werden. Warum? -- That beats everything, meint er. Vielleicht aber ist das spezifisch amerikanische (längst aber nicht mehr nur dort herrschende, also: das spezifisch moderne) Amalgam aus Sachlichkeit und Sport, Technik und Spiel, Rationalität und Verschwendung (Wahlkampfkosten), protestantischem und katholischem Geist ja auch gar nicht so schlecht. Jedenfalls: Wieviel die in diesem Geist bis dato durchgeführten (und gelungenen, jedenfalls: klare und akzeptierte Ergebnisse zeitigenden) Wahlen in den USA uns allen tatsächlich ersparen können, das führt uns CNN ja jetzt seit Wochen vor Augen. Indem es ausführlich (und live) die Umständlichkeit der Verfahren vor verschiedensten amerikanischen Gerichten im Fall The Florida Vote ubertrug und überträgt - wo an die Stelle von gelungenen Reduktionen kaum zufriedenstellend entscheidbare, gemessen am eigentlichen Problem außerdem lächerlich kleinteilige Rechtsauslegungsfragen traten und treten - über die sich dann ja schließlich außerdem, bis zu diesem Zeitpunkt (11.12.00, 21:00 Uhr mitteleuropäischer Zeit), eben: auch kein Konsens erzielen ließ. Mehr noch: Für welchen Kandidaten die Sache nun auch immer glücklich ausgehen wird, die Anhänger des anderen werden ihn nicht als legitimen Sieger anerkennen. Wie sich nun noch ein legitimer Sieger ermitteln ließe, darüber läßt sich kein Konsens mehr erzielen. Es ließe sich freilich auch die juristische Praxis der Auslegung von Gesetzestexten oder Urteilsbegründungen, wie im amerikanischen case law, als Technik im hier verwendeten, erweiterten Sinne des Begriffs beschreiben. Sie arbeitet jedoch eben offenbar ungleich reibungsvoller. Sie ist eben Teil jener protestantischen Seite des modernen Entscheidungs-Arrangements, jener Techniken der Rationalität, auf die die Restprobleme abgewälzt werden, die sich (aktuell/gerade) mit richtiger Technik (noch?) nicht lösen lassen: Der Evolution von Technik folgt eine darauf eingestellte Strukturierung von Rationalität, und Rationalisierung ist nichts anderes als eine Form der Lösung der offen gebliebenen, gleichsam marginalen Konsensfragen. (N.L.) Abpfiff (mußte gerade feststellen, daß ausgerechnet der >Freitag< ebenfalls auf diesen Titel für einen Beitrag zur US-Wahl kam - naja, auch der >Freitag< kann ja mal richtig liegen) Am Ende werden gesetzliche Fristen (der Zeitpunkt etwa, zu dem die Wahlmänner einen Präsidenten wählen müssen) zu irgendeiner Entscheidung zwingen. Auch dies (Befristung, Zeitlimitation) ist freilich wieder nur eine Technik, Entscheidungen herbeizuführen. Und eine darüberhinaus, die wiederum aus der Welt des Sports/Spiels vertraut ist, ja dort vielleicht sogar ihren Ursprung und historischen Erstauftritt, auf jeden Fall aber ihre prägnanteste Formulierung gefunden hat: Das Spiel hat neunzig Minuten. Darauf können sich alle einstellen. Und heiße Erwartungen daran knüpfen - die nie enttäuscht werden. Gut, es gibt auch noch die Verlängerung und wenn selbst das nichts hilft: auch noch Elfmeterschießen. Irgendwann ist dann aber wirklich einfach mal - - - Schluß. |
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