Turin im Winter. Es herrscht klare Sicht. Nicht nur
auf den Leinwänden, die das
Turiner
Filmfestival an zehn Tagen bis Ende November bespielte. Nach dem
Auflösen des Nebels rückt das mit Schnee bedeckte Alpenmassiv im
Westen als blaugraues Hintergrundpanorama zum Greifen nahe an die piemontesische
Hauptstadt heran. Eine beeindruckende Kulisse, vor der sich das "höchste
Museum der Welt", die Mole Antonelliana, keck in den hellblauen, wolkenlosen
Himmel verjüngt. 167 Meter hoch, beherbergt das 1863 als Synagoge
konstruierte Gebäude des Architekten Alessandro Antonelli seit Juli
2000 das Nationale Kinomuseum
(Museo Nazionale
del Cinema).
In diesem Winter kehrte das 22. Filmfestival in das historische Zentrum von
Turin, in die direkte Nachbarschaft der Mole zurück. Einige Jahre hatte
Lingotto 1919 eröffneter zweiter Produktionsstandort der Fiat-Werke,
heute ein von der Kommune finanziertes, von dem Architekten Renzo Piano
umgebautes Kultur- und Messeareal als Spielort gedient. Die Rückkehr
in die Altstadt war eine logistische Entscheidung, die dem Festival mehr
Besucher und ein Plus verkaufter Kino-Tickets einbrachte.
Darüber hinaus bot der Umzug Turins Stadtverwaltung die Gelegenheit,
einen Tag nach Festivalstart auf einer Pressekonferenz das Projekt eines
"Cineborgo" vorzustellen. In den nächsten Jahren soll sich aus dem
studentisch geprägten Stadtviertel, in dem sich das Nationale Filmmuseum
sowie das dazu gehörende Kino Massimo befinden, ein kulturelles Zentrum
mit Schwerpunkt auf der "siebten Kunst" entwickeln. Die existierenden Museen,
Theater, die Universität und die italienische Rundfunk- und Fernsehanstalt
RAI sowie Geschäfte bzw. Restaurants sollen in das ambitionierte Konzept
der "Kinostadt" integriert werden.
Inwiefern der jetzige Direktor des Nationalen Filmmuseums und frühere
Leiter der Internationalen Filmspiele in Venedig, Alberto Barbera, beim 23.
Filmfestival 2005 in Turin eine Rolle übernehmen könnte, wird derzeit
(nicht nur) in der regionalen Presse diskutiert: "Il Giornale del Piemonte"
spricht euphorisch von einer durch die Person Barbera garantierten
"Professionalität, die von einem Festival auf der Ebene von Cannes,
Venedig oder Berlin träumen lässt" (14.11.). Die für das Filmfest
Verantwortlichen äußern sich in "La Stampa" dagegen verhalten:
"Das Festival kann nicht auf seine Unabhängigkeit verzichten." (20.11.)
Eine punktuelle Zusammenarbeit schließt man jedoch nicht aus.
"Turin is always on the move", fasst Alberto Barbera in unserem Gespräch
am Rande eines Besuchs des Filmmuseums die Dynamik der Stadt zusammen. Aber
es bleibt ihr auch keine andere Wahl. Fiat, gern als "das ökonomische
Herz des Piemont" (Giorgio Bocca) zitiert, hat seit den 80er Jahren die
Produktion in Turin gedrosselt, Arbeiter entlassen, Standorte geschlossen
und die Fertigung ins Ausland verlagert. Über hundert Jahre lang, seit
der Gründung im Jahre 1899, prägten der Automobilkonzern, die
Auseinandersetzungen um den Fortbestand der Arbeitsplätze und die mit
den Fabriken reich gewordene Industriellendynastie Agnelli die Fama Turins
als Autostadt Nummer 1 in Italien. Die guten Jahre sind vorbei. Heutzutage
arbeitet die Stadt daran, das Image als Industriemoloch ab- und eine
tourismusfreundlichere Reputation, etwa als Kulturkapitale, überzustreifen.
Ein Strukturwandel, über den man beim ersten Eindruck vor Ort denkt,
er sei vollendet. Denn für den Besucher, der durch Europas Barockhauptstadt
und Kunstmetropole flaniert, erinnert wenig an die industrielle Vergangenheit.
Zurzeit wird überall gebuddelt, Asphalt aufgerissen, gebohrt und gegraben,
um
Plätze
und Sehenswürdigkeiten piekfein herauszuputzen und die Infrastruktur
für die zur Winterolympiade 2006 anreisenden Gäste zu verbessern.
Der Lärm des Presslufthammers unterstreicht mit seinem
regelmäßigen Takt den Termindruck. Grell orangefarbene
Absperrbänder aus Plastik trennen die Baustelle auf der Piazza San Carlo
von den Arkadengängen. Im Caffé San Carlo, einer Institution
in Turin seit 1822, treffen sich die Turiner am frühen Abend zum geselligen
Aperitif mit Gourmet-Häppchen. Einen Häuserzug weiter, in der Galleria
San Federico, versteckt sich das im Jugendstil erbaute Cinema Lux, einer
von vier Spielorten während des Festivals im November.
"Torino è tutta un set" (Ganz Turin ist ein Filmset) beginnt ein Artikel
in einer Beilage von der Zeitung La Stampa. Film hat in Turin Tradition.
Nicht nur im Museo Nazionale del Cinema in der Via Montebello, das
Geschichte und Gegenwart der siebten Kunst archiviert und für das Publikum
aufbereitet, sondern auch als Schauplatz berühmter internationaler und
bei uns wenig bekannter nationaler Produktionen aus fast hundert Jahren:
1914 wurde einer der ersten Monumentalschinken "Cabiria" in
Turin gedreht. "Krieg und Frieden" mit Audrey Hepburn spielte in Russland,
entstand aber Mitte der 50er Jahre vor dem Castello del Valentino, einem
Lustschloss im französischen Stil im Parco del Valentino. Michael Caine
jagte in der 60er-Jahre-Version von "The Italian Job" auf der Flucht vor
der Polizei über die Boulevards, und der Protagonist aus "Così
ridevano" von Regisseur Gianni Amelio kommt aus Sizilien eines Morgens am
zementgrauen Bahnhof Porta Nuova an. Weitere Schauplätze waren neben
der erwähnten Piazza San Carlo die Via Po, eine Arkadenstraße
mit Buchhandlungen, Cafés und Restaurants, sowie das älteste
und nobelste Restaurant der Stadt: "Del Cambio", ein Name der sowohl für
den Wechsel von Geld als auch für den Austausch der Droschkenpferde
steht.
Nach Mitternacht Mythos und Mysterium im Filmmuseum in Turin
Für die romantische Dreiecksgeschichte zwischen einem
Nachtwächter und einer jungen Frau, die in einem Fast- Food-Restaurant
arbeitet, war das Filmmuseum in der Mole Antonelliana Schauplatz einer Liebe
mit Hindernissen. Der Regisseur Davide Ferrario präsentierte die
Independent- Produktion "Dopo Mezzanotte" (Nach Mitternacht") mit Erfolg
2004 auf dem Festival in Berlin im Programm des Internationalen Forum des
Jungen Films (Foto: Promo). Vor einem Zitat von Antoine Lumière, "Das
Kino ist eine Erfindung ohne Zukunft" kommen sich die Protagonisten näher
und konterkarieren die nihilistische Aussage ebenso wie es das Filmmuseum
tut. Wo sonst, wenn nicht in dieser Halle, dem modernen Tempel der Filmhistorie
und -gegenwart, laufen die Fäden so sinnbetörend, visuell anspruchsvoll
und zukunftsweisend zusammen? Tage möchte man hier verbringen. Und die
Nächte gleich dazu wie der sympathische wortkarge Nachtwächter
aus "Dopo Mezzanotte" in Nebenräume eindringen, sich in einem Zimmer
häuslich einrichten und mit dem Fahrstuhl aufs Dach fahren. Der
Durchschnittsbesucher muss sich mit den großzügigen
Öffnungszeiten (am Samstag bis 23 Uhr, in der Woche ab Dienstag, inklusive
Sonntag bis 20 Uhr) begnügen.
Wir tauchen ein. Steigen durch die Pforte mit einem Hinweis auf die
Gründerin der Stiftung, Maria Adriana Prolo in die Unterwelt
des Gebäudes, quasi in seine Fundamente herab. Lösen ein Ticket
(inklusive Panorama-Aufzug 6.80 Euro) und stehen mit einem Fuß im
halbdunklen, rötlich-weiß wie aus dem Märchen von Schneewittchen
beleuchteten Cafè-Restaurant. Der Besuch startet mit Ausgrabungen,
der Archäologie des Kinos: den ersten Abbildungen, optischen Maschinen,
die Eindimensionales reproduzierten, zuerst beispielsweise als Schattenspiele
hinter aufgespannten weißen Tüchern.
"Kino ist Erinnerung", Veronica Geraci, unsere Begleiterin durch
das Labyrinth der Unterwelt, weiß die visuellen Knöpfe im Museum
und in unseren Köpfen zu bedienen. Aus ihren Sätzen spricht euphorische
Komplizenschaft: mit dem romantisch veranlagten, die Stummfilme liebenden
Nachtwächter aus "Dopo Mezzanotte", den forschend Interessierten, den
Sammlern und Sammlerinnen, die mit den bewegten Bildern und den Maschinen,
die sie reproduzieren, eine neue Welt für sich entdecken. "Ein Spiegel
der Gesellschaft" ist das Kino in ihren Augen, und die optischen Schachteln,
das Kaiserpanorama von Rom, die Reisekoffer mit den Utensilien für die
amorphen Linsen sind Unikate für die frühe Entdeckung der Bilderspiele
und ihren Transport. "Das Kino ist eng verbunden mit dem Alltag", kann Veronica
gerade noch sagen, und dann fährt der erste Zug in der Geschichte des
Films in den Bahnhof ein: inszeniert mit einer großen schwarzen Lokomotive
hinter einer Wand im Museum, die sich abrupt zurückschiebt, damit dem
heutigen Betrachter das Erschrecken der ersten Zuschauer bei der Vorführung
der Brüder Lumière im Februar 1895 in Lyon deutlich wird. Sie
hatten den Eindruck, dass eine reale Lok auf sie zufahre.
Das war die Geburtsstunde des Kinos. Die Manifeste, die auf dem Laufsteg
der Filmplakate zu sehen sind, berichten von seinen Gehversuchen über
das Jahrhundert. "Die rote Laterne", "Das süße Leben", "Jules
und Jim", "Rom offene Stadt", "Fahrraddiebe", "Die bleierne Zeit",
um nur einige von vielen zu nennen, gerahmt hinter Glas, luftig im Gang von
der Decke schwebend oder an der
Wand
befestigt. Dann gräbt man sich weiter vor, zu dem, was das Kino ausmacht:
die Produktionen, die Studios, die Regisseure, die Stars, die Ideen,
Entwürfe, aber auch die konkreten Erinnerungen: Sammlerstücke wie
Eintrittskarten von 1926, Fotos der pompösen Säle der 30er Jahre,
die an Theater erinnern, die Verträge mit den Stars, z.B. von James
Stewart mit Universal vom 31. August 1935, die visuellen Effekte, die Masken
von Fellinis "Satyricon" von 1968 bis zum "Planet der Affen" oder Darth Vader
von 1980. Vieles findet sich hier, in kleinen Nischen zu Filmthemen und -Genren
geordnet: Marilyn Monroe irrwirscht über eine Leinwand, ein Schminktisch
mit Bürste, Make-up und einem vertrockneten Rosenstrauß vermittelt
authentisches Flair, Storyboards und Kostüme z.B. aus "Lawrence von
Arabien", von Rudolfo Valentino oder eine Zeichnung vom Haupt der Medusa
für Fellinis Film "Casanova" vervollständigen den Parcours durch
die Welt des Kinos, des Immaginären und dem realen Tagwerk.
Alle Wege führen ins und um das lichtscheue "Herz des Museums":
zur Tempelaula, wo es sich der erschöpfte Kinoliebhaber auf hellroten
Liegen ergonomisch geformt bequem machen kann, bewacht von
dem Koloss aus "Cabiria", umströmt von einem imaginären
Kältehauch aus dem überdimensionalen Kühlschrank als
Eingangspforte zu einer der zehn Nischen, die um das Rondell arrangiert sind.
Man setzt sich einen Kopfhörer auf und versinkt in den Bildern auf den
großen Leinwänden um einen herum: Stummfilme, Klassiker,
Filmküsse, Zitate ziehen vorbei. Viel Bildung, zu viele Eindrücke,
vielleicht schlummert man leicht ein, übergibt sich seinen Träumen,
verliert für einen Moment die Orientierung. Dann beginnt mit einem Mal
sphärische Musik. Bilder an den Wänden, die wie blickdichte
Vorhänge das Tageslicht aus dem Museum drängten, ziehen sich in
dem hohen Innenraum des Bauchs der Mole bis an ihre Kuppel wie von Geisterhand
langsam nach oben. Lichtstrahlen dringen ein, finden ihren Weg zu den ahnungslos
Dösenden. So muss sich Dracula an einem seiner angenehmsten Tage im
Sargbett gefühlt haben, nur dass ihn das Licht zu Staub zerfallen
ließ. Der Besucher des Filmmuseums fühlt sich dagegen erfrischt.
Alles um ihn herum gewinnt für einen kurzen Moment im natürlichen
Licht eine neue Gestalt, um dann, nach wenigen Minuten, wieder ins Dunkel
zu gleiten. Vorbei, für eine weitere Stunde legt sich das längst
vertraute Dämmerlicht über die Aula.
Es wird Zeit, noch mal loszuziehen. Noch nicht zum Ausgang, sondern zum
Höhepunkt der Zunft, zum Kern der Traumfabrik der Illusion gilt es
vorzustoßen: in die zehn Kapellen des Kults der Phantasie, der
Suggestion, der Verstrickung, der Avantgarde, des Experiments, der Liebe
und Leidenschaft, der Katastrophe, des Horrors, der Animation, kurz, zu den
Emotionen des Kinos. Zehn Themen-Räume umkreisen das Herz des Museums,
und Stanley Kubrick hätte, David Lynch und Francis Ford Coppola oder
Oliver Stone würde es gefallen. Das runde, mit roten Kissen gepolsterte
Bett in der "Liebeskapelle" lädt zur Rast, kein Spiegel an der Decke
reflektiert den seligen Schlaf, sondern in einem endlosen Reigen ergeben
sich Liebespaare am Betthimmel ihren Zärtlichkeiten. Oder man wählt
das Blümchensofa im plüschigen Ambiente eines Wohnzimmers, vergleicht
die filmische Umsetzung realer Ereignisse in "Gandhi", "Apollo 13" oder "JFK"
mit Wochenschauen im Pantoffelkino: wahr oder falsch ist der Titel dieses
Raums. Ein Schritt weiter wartet schon die Avantgarde in einem Chemielabor:
den Experimentalfilm findet man in der Spüle oder in einem Einmachglas.
Alles endet dort, wo es begann: Im Ambiente eines Kaffeehauses in Turin,
dem letzten Raum der zehn Kapellen. Er beamt uns zugleich in die Wirklichkeit
zurück, in die Filmvergangenheit und -gegenwart von Turin. Markierungen
auf dem Fußboden weisen den Weg zum Ausgang. Die Türen gleiten
lautlos auf, schließen sich, spucken uns aus, zurück in den
winterhellen, grellen Tag. Wir blinzeln unter dem azurblauen Himmel von Turin
etwas verstört wie nach einem zu langen Aufenthalt im dunklen Kinosaal.
Die Sicht draußen ist viel zu klar. Bis zum 9. Februar läuft im
Kino Arsenal im Filmhaus am Potsdamer Platz die Filmreihe: Cinema Italiano.
Ein Jahrhundert Kino aus Turin und dem Piemont. Infos unter Tel.: 030/269
55 100,
www.fdk-berlin.de
Am Dienstag, dem 1. Februar läuft z.B. um 19 Uhr "Cabiria" (180 Minuten);
am Donnerstag, 3.2., "La donna della Domenica" (Die Sonntagsfrau) mit Marcello
Mastroianni und Jacqueline Bisset; am Freitag, 4.2., "I Compagni" (Die Weber
von Turin) mit Marcello Mastroianni.
Die Reise nach Turin erfolgte mit Unterstützung der ENIT Berlin
(gebührenfreier Prospektservice unter Tel.: 00 800 00 48 25 42) und
Turismo Torino, Tel.: 0039/011/535181,
http://www.turismotorino.org
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