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Wüstenfilme

Ein Wüstenführer muss geradeaus gehen können.
Raymond Depardon, Vom Westen unberührt

Von Ekkehard Knörer

 

Annäherung

Wenn die Natur im Film durch Rahmungen zur Landschaft wird, dann ist die Wüste der kinematografisch topische Ort, an dem diese Rahmungen sich aufzulösen beginnen. Der Ort, an dem die Kadrierung ihren Halt an den Gegebenheiten des Raums zu verlieren scheint. Zugleich verliert sich in der Wüste des Films die Figur des Menschen, aber selten wie am Meeresufer ein Gesicht am Sand. Vielmehr wird das Figürliche umspielt, sein Verschwinden, seine Marginalisierung, sein Erscheinen, die Unentscheidbarkeit zwischen Wirklichkeit und Fata Morgana. Als minimaler Kontrast von nichts und etwas, der weiten Unendlichkeit der Wüste und dem Fleck, der darin erscheint, am Horizont, in der Ferne, tritt die Figur auf in binärer Opposition zur Nicht-Figur, zur Defiguration, die die Wüste als der Rahmung hartnäckig sich entziehende Landschaft immer schon ist und für den Menschen bereithält, als Wankenden, Irrenden, im Kreis Laufenden, Ausgesetzten. Die Form, die ihren Rahmen verliert, die Figur, die im Weiß oder Gelb des Sandes als einem weißen Bild/Nicht-Bild verschwindet, auftaucht und verschwindet, fallen im Wüstenfilm existenziell in eins.

Das emblematische Bild des Wüstenfilms, etwa am Beginn von Raymond Depardons UN HOMME SANS L'OCCIDENT (Frankreich 2001), in einer langen statischen Einstellung auch von Bill Violas gänzlich anarrativer Video-Meditation CHOTT EL-DJERID (A PORTRAIT IN LIGHT AND HEAT) (USA 1979): Das helle Nichts, die Hitze, das Licht (dies eben der Untertitel von Violas Film) und aus weitester Ferne, vom Horizont her, nähert sich in großer Langsamkeit etwas, ein dunkler Fleck im Hellen, etwas, das Figur wird, deren Status (wirklich-scheinhaft, Mensch-Tier, gefährlich-gefährdet) lange, für die Länge der Annäherung unklar bleibt. Diese Grundbewegung im Wüstenfilm ist eine des zeitlichen und räumlichen Offenbleibens: Der Mensch, die Figur tritt ein in eine offene Kadrage, sie bezieht in aufreizender Langsamkeit Position, ohne gleich (oder überhaupt) Teil einer Narration zu werden. Noch der Bezug der Figur zum Raum bleibt offen, die Wüste de/figuriert den Zerfall jener Einheit, die die Landschaft ist: Der Mensch in der Natur, eine Aufhebung, die seinem Blick geschuldet ist. Jenem Blick, genauer gesagt, der von Bela Balazs wie Joachim Ritter angeführten Urszene von Petrarcas Aufstieg auf den Mont Ventoux, unter dem die Natur das Maß des Menschen gewinnt. Der Begriff für die Fügung der Natur unter den Blick ist der der Landschaft - und erst als Landschaft hat die Natur Schönheiten zu bieten, für den Menschen. Mit der Kantischen Idee vom Erhabenen der Natur wird dieses als natürliches konstruierte Verhältnis an eine Grenze geraten, die freilich noch in der Subreption der Maßstäbe erfahrbar bleibt, als Grenze des Menschenmaßes. In der Wüste gerät die Landschaftlichkeit der Natur an eine Grenze. Der Fels, den Gerry in GERRY erklimmt, bietet keinen Ausblick, er figuriert die Umgebung nicht zur Natur. Der Fels ist nichts als eine asignifikative Falle. Nicht nur vergeht viel Zeit, spürbar viel Filmzeit, bis sich Gerry dank Gerrys Hilfe mit einem unspektulären Sprung auf den Boden (der Wüste) wieder befreien kann. Beinahe könnte man auch sagen: Es vergeht nicht nur Zeit, es vergeht am Ende sogar der Begriff der Zeit an diesem Felsen und an der Irre, die die Wüste ist.

Szenen

Eine Szene aus Nicolas Roegs WALKABOUT (GB 1971): Die Kamera verharrt auf einer roten Ziegelmauer, fährt nach rechts, in den Blick kommt die Stadt, die Straße. Kurz darauf: dieselbe Mauer, dieselbe Fahrt, in den Blick kommt die Wüste. Die gleiche Kamerafahrt in der Verdopplung mit Variation eingesetzt als Kontrastmontage. Das Verhältnis von Zivilisation und Wüste als schroffe Entgegensetzung. In der Wüste ein VW Käfer, ein Vater, seine Kinder. Out of nowhere beginnt der Vater zu schießen, auf die Kinder, die fliehen. Er setzt das Auto in Brand, er liegt auf dem Boden, er stirbt. Später hängt er, übel zugerichtet in einem Baum. Die Kinder gehen in die Wüste, geraten in die Irre, in der oft rabiaten Montage aber bindet Roeg die Bilder der Wüste zurück an die Zivilisation.

Eine Szene aus Philippe Garrels LA CICATRICE INTÉRIEURE (F 1972): Eine Frau - die Velvet-Underground-Sängerin und Garrel-Muse Nico -, die auf dem Wüstenboden kauert, in ein sackartiges Gewand gekleidet, Philippe Garrel, der nach links läuft, die Kamera folgt ihm in einer langen Plansequenz, immer weiter, die Hintergründe verändern sich, flaches Land, der Horizont, Berge, näher, ferner. Die Kamera folgt, links herum, schreitet eine Linie ab mit der Figur in der Wüste, eine Linie, die sich zum Kreis schließt. Dann stößt Garrel, gemessenen Schritts immer weiter nach links gehend, wieder auf Nico, an derselben Stelle, in derselben Haltung. Auf der Tonspur läuft Nicos Song "Janitor of Lunacy", zu hören auch auf ihrer LP mit dem Der Kreis ist ein zentrales Motiv in "La cicatrice inérieure", später wird inmitten eines flammenden Kreises der "König" zu sehen sein, eine andere Figur des Films, auf dem Pferd sitzend, nackt, schweigend.

Eine Szene aus Gus van Sants GERRY (USA 2002): Die Kamera folgt den Gesichtern, die auf und ab schwappen wie plätschernde Wellen auf bewegter Meersoberfläche. Dann der Umschnitt, die Figuren in der Totalen, verloren in der Wüste. Die Kamera ist durchweg eine Steadycam, die den Darstellern im Gleichschritt durch die Wüste folgt wie sie ihnen in "Elephant" durch die Gänge der Highschool folgt. Dazwischen immer wieder das, was Noel Burch bei Ozu "Pillow Shots" genannt hat. Blicke auf die Natur: Hier die Wüste, die Wolken, im Zeitraffer, Bilder, die nicht als Bestandteil der Narration funktionieren, sondern als Gegenbilder, die eine rhythmische Funktion haben und in GERRY die Art, wie alle Diegese hier ins Leere geht, veranschaulichen.

Eine Szene aus Bruno Dumonts TWENTYNINE PALMS (F/USA 2003): Der Mann, die Frau verlassen das Auto, den roten Hummer, es bleibt am Straßenrand zurück. Er bedrängt sie, sie sagt: "Nicht hier". Sie gehen hinein in die kalifornische Wüste. Dann sind sie nackt, nähern sich einem zerklüfteten Hügel aus Fels. Aus mittlerer Entfernung beobachtet die Kamera sie beim Sex im Stehen. Sie brechen ab, klettern nackt in die Felsen, die Kamera betrachtet aus weiter Ferne, der Ton aber bleibt nah bei den Figuren, wie sie sich hinlegen, auf dem Rücken, nackt auf den nackten Stein, nebeneinander, gegeneinander, die Köpfe in entgegengesetzter Richtung. Sie greift mit ihrer linken Hand nach seinem Geschlecht, er lacht. Es folgt eine Einstellung, in der die Kamera die beiden von oben betrachtet, als wären sie Natur in der Natur, Unbelebtes in der Wüste, ein Muster nur auf dem Fels. Und es folgt eine Einstellung, die man wohl als subjektive begreifen muss, der Blick in den weiten, blauen Himmel, in dem wenig sich regt. Ein unbelebter Menschenblick aus der Wüste in den unbelebten Himmel.

Bewegung

Die Topografie der Wüste schreibt keine Bewegung vor, Orientierung ist präsent nur im drohenden oder tatsächlichen Umschlag in ihren vollständigen Verlust. Das Auto als Bewegungsmittel hat sein Ort am Rand, an dem es verbleibt: Der Käfer, mit dem der Vater und die Kinder in WALKABOUT in der Wüste stranden, wird bald darauf in Flammen aufgehen. Dies ist der Ort, von dem die Bewegung der Kinder nach dem Tod des Vaters ihren Ausgang nehmen wird. Im Schlussbild von "Twentynine Palms" liegt David tot in der Wüste, daneben der ebenso leblose rote Hummer, das Transportmittel zuvor, das steckenblieb und weiterfuhr. "Woher? Woher?" fragt David einmal hysterisch, als Katja meint, sie sollten dahin zurückfahren, wo sie herkommen. Der Hummer ist die Zivilversion des Humvee, also des vom US-Militär in den jüngsten Wüsten-Kriegen genutzen Geländewagens. Als Originalton in der Autofahrt, mit der der Film beginnt, ist aus dem CD-Player japanisch-amerikanische Bluegrass-Musik zu hören, im Auto eine Lettin, die französisch spricht Auch GERRY beginnt mit einer minutenlangen Autofahrt, freilich ohne Originalton, ein Gleiten auf einer Straße durch und in die Wüste, unterlegt mit der aufreizend meditativen Musik von Arvo Pärt. Auf dem mythischen Gelände von Garrels CICATRICE INTÉRIEURE gibt es ein Pferd, aber kein Auto, ohne dass man dabei jedoch auch nur in die Nähe des Westerns geräte. Bei Depardon gewinnt das zunächst unbestimmbar Dunkle nach und nach die Gestalt dreier Männer und eines Kamels. Auf die Annäherung an die Kamera folgt der Zusammenbruch, der Menschen, des Tieres, in der Wüste.

Die Kadrage setzt im klassischen Kino die Figur und den Raum in ein Verhältnis, sie hebt die Figur auf im Bild des Raumes, dem sie sich so verbindet. Der Zusammenhang zwischen den Figuren untereinander und zwischen der Figur und ihrem Bewegungsraum und dem Raum der narrativen Bewegung (Plot) stellt sich so her, als ein kontinuierlicher und logischer, Bild für Bild, Schnitt für Schnitt. Im klassischen Kino, wie Bela Balazs es beschrieb, ist die Natur belebt als Stimmungsraum für den Menschen in ihr. Darin folgt das klasssische Kino noch immer dem Blick der Renaissance. Unter diesem Blick hat die Natur sich verwandelt:

Denn im Film, der kein geografisches Lehrmittel,sondern die Darstellung von Menschenschicksalen sein will, gibt es keine 'Natur' als neutrale Wirklichkeit. Sie ist immer Milieu und Hintergrund einer Szene, deren Stimmung sie tragen, unterstreichen und begleiten muss. (Balazs 99)

Und weiter:

Die Kunst des christlichen Mittelalters kannte die Seele der Natur und daher auch ihre Schönheit nicht. Die Natur blieb leblose Kulisse, Hintergrund und Ort des menschlichen Handelns. Erst die Menschen der Renaissance haben die Natur beseelt und machten aus der toten Gegend lebendige Landschaft. (Bekanntlich war Petrarca der erste, der auf die Idee verfiel, einen hohen Berg als 'Tourist' zu besteigen, ohne etwas anderes dort zu suchen als die Schönheit. (Balazs, 101)

Die Schönheit der Wüste im Wüstenfilm entzieht sich der von Balazs herausgearbeiteten Differenz. Die Wüste im Wüstenfilm ist weder "tote Gegend" noch "lebendige Landschaft", vielmehr tote Landschaft und lebendige Gegend, sie kreuzt den Gegensatz von Leben und Tod und setzt den Menschen in ihr so einem Raum aus - einer Räumlichkeit -, der er weder als Wesen der Natur noch als Wesen der Zivilisation gewachsen ist. Von hier aus scheint mir auch eine Definition des Wüstenfilms möglich, im Unterschied zum Film, in dem die Wüste nur als Motiv fungiert.

Spielarten

So ist der Western in seiner klassischen Ausprägung niemals ein Wüstenfilm, die Wüste ist hier nur der Raum ist, den es zu durchqueren, dem es seine Überwindung abzugewinnen gilt. Der Westernheld verwandelt tote/fremde Gegend in lebendige/eigene Landschaft und zivilisiert so den Raum, dem er sich im ikonischen Schlussbild, im Ritt in die Sonne, symbolisch einfügt, ja, den er zum symbolischen Bild gestaltet. Im Wüstenfilm zerfällt dieses Bild: in die Figur, die verschwindet; das Auto, das er zurückgelassen hat; die Sonne, die kalte, am Menschen und seinem Schicksal nicht interessierte Natur bleibt; den Sand, der sich leise bewegt, der sich zu abstrakten Mustern fügt; die Wüste, der der Mensch entkommt oder in der er verendet. Daher gibt es den Wüstenfilm als film noir, etwa über weite Strecken von Ida Lupinos THE HITCH-HIKER (USA ). Ein sadistischer Verbrecher zwingt zwei Männer unter vorgehaltener Waffe, ihm bei der Flucht nach Mexiko, in die Wüste, durch die Wüste behilflich zu seien. Der Film konzentriert sich ganz darauf, die menschlichen Verhältnisse als solche eines existenziellen Ausgeliefertseins an den sadistischen Anderen zu zeichnen. Die Wüste gibt den Spielraum der Unmöglichkeit des Entkommens. Und es gibt den Wüstenfilm als Ort der Liebestragödie, in Sunil Dutts grandiosem RESHMA AUR SHERA (Indien 1971), einer indischen Romeo und Julia-Variante. Der Versuch, den Bann des genealogischen Gesetzes des Vaters zu brechen, findet im Treibsand, der nicht zur neuen symbolischen Ordnung, immer nur zum grafischen Ornament strukturiert wird, keinen Halt. Die Wüste ist hier Zwischenort, der der Liebe Raum gibt, nachts, außerhalb der Topoi des Zivilisatorischen, der sich mit dem Feuer verbündet, in dem für den Moment die alte Ordnung vergeht. Die Institution des neuen Gesetzes, das aus dem Zirkel der Rache und damit der genealogischen Starre ausbrechen könnte, aber wird nicht gelingen. Die Rebellion und die Liebe ersticken im Sand, der zuletzt die Liebenden unter sich begräbt. Der Überlebende kann nicht zum Gründungsvater eines neuen Gesetzes werden, denn er ist stumm, ein Ausgestoßener von Anbeginn. Es endet, im Sand der Wüste, eher jede symbolische Ordnung überhaupt, als dass eine neue errichtet werden könnte.

Toter Raum

Für den Wüstenfilm gilt: Die Kadrage gibt den Figuren Halt nur noch zum Schein: daran sterben sie oder drohen doch zu sterben. Eine Ein-Stimmung, könnte man sagen, stellt sich ein, aber nicht in der von Balazs beschriebenen Art. Vielmehr ist die Wüste vor allem toter Raum, ein Raum, der die Kraft hat, den Menschen sich anzugleichen, was nichts anderes hieße als: ihn ums Leben zu bringen. Freilich hat das Sterben des Menschen ein anderes Pathos als die Schönheit der unbelebten Wüste. Schroff prallen Bilder des Ewigen auf Bilder nicht nur des Endlichen, sondern des sehr konkreten Endens, ja, Verendens. In der Wüste, die keine Zeit kennt, läuft sie dem verdurstenden Menschen davon. Es gibt kaum einen Wüstenfilm ohne die menschenleere Einstellung. Die im Zeitraffer jagenden Wolken in GERRY, die außerhalb der Dimensionen des Menschlichen gesetzte aufgehende Sonne in RESHMA AUR SHERA, das aufs schiere Flirren reduzierte Bild in CHOTT-EL-DJERID sagen vor allem das eine: Der Mensch verliert den Halt im Rahmen, den die Natur als Landschaft gibt. Dem entspricht in der Mehrzahl der Filme eine narrative Entleerung, eine Reduktion der Erzählung auf die Bewegung, das Stocken, den ins Stolpern geratenden Gang. Die Narration selbst frisst sich fest, kommt - exemplarisch in GERRY - mit den Figuren zum Erliegen.

Anders verhält es sich in Nicolas Roegs WALKABOUT, denn hier entsteht zwischen Mensch und Natur ein ausgesprochenes Spannungsverhältnis, das von Zwischenstufen des Sozialen in der Weite der Wüste moduliert wird. Durch abrupte Bewegungen der Verengung und der Weitung im den Figuren gegebenen Bildraum entzieht Nicolas Roeg seine Figuren in der Wüste der tödlichen Kadrage. Sein Prinzip heißt Montage und in seinen Parallelführungen markiert er Differenzen, ohne ihnen den festen Grund einer klaren Botschaft unter den Boden zu geben. Die australische Wüste des Engländers Roeg ist belebt wie im berühmten Disney-Film "Die Wüste lebt". Das drohende Verdursten, der Verlust der Orientierung werden kommentiert, vielleicht auch konterkariert durch Großaufnahmen der Tiere der Wüste. Noch in der Drohung fürs Leben, die die Schlange im Baum am Wasserloch bedeutet - von der fraglos mitschwingenden Paradies-Symbolik abgesehen -, steckt auch das Leben, das die australische Wüste selbst als Lebensraum zu bieten hat.

Auch die Zivilisation ist bei Roeg stets nur einen Montage-Schnitt entfernt: als Kontrastbild, wenn dem Erlegen des Tieres seine handwerkliche Schlachtung gegenübergestellt wird; als Einschluss, wenn ein Wissenschaftler-Team sich in der Wüste zu schaffen macht, lüsterne Männerblicke auf Frauenkörper inklusive. Und umgekehrt: In der Rückblende werden zuletzt, nach der Rückkehr in die Zivilisation, die Bilder aus der Wüste nostalgisch. Vor allem aber haben die Geschwister nach dem Verlust des Vaters einen Führer, den Walkabout des Titels, einen jungen Aborigine in seinem rite de passage, selbst an einer Schwelle seines Lebens der Wüste ausgesetzt, um als Erwachsener aus ihr in die Gemeinschaft zurückzukehren. Der Aborigine zeigt sich vom Moment seines Auftretens an der Wüste mühelos gewachsen, nicht aber dem unerwartet ihm begegnenden Sozialen. Die Begegnung bleibt wortlos und im Scheitern der sozialen Beziehung zu der jungen Frau aus der Stadt scheitert auch die Aufhebung des von der Montage so ausdrücklich aufgerufenen Widerspruchs von Zivilisation und Wüste. Man könnte auch sagen: Der Schnitt selbst, der diesen Widerspruch von der Seite der Differenz her formuliert, befindet sich immer schon auf der Seite der Zivilisation, die sich die Wüste als Ort der paradiesischen Aufhebung aller Differenzen nur postparadiesisch herbeiträumen kann. Auch daher rührt die Tödlichkeit der Wüste: Ins Paradies gibt es keinen Hintereingang der filmischen Reflexivität. Die Wüste ist das Paradies als Ödnis, die totale Verkehrung, auf Schritt und Tritt wird der Mensch ausgestoßen, wieder und wieder.

Grenze

Wenn die Wüste zur Erfahrung werden kann, dann - angesichts ihrer Grenzenlosigkeit scheint das zunächst paradox - zu einer Erfahrung der Grenze. Das Unermessliche wird zur Grenzerfahrung, aber nicht im subreptiven Schauer des Erhabenen, sondern als sinnloser Zerfall. Die Erfahrung der Grenze ist tendenziell Aufhebung der Erfahrung. Ein Fall aus der Ordnung von Zeit und Raum, die doch das, was Erfahrung heißt, erst möglich machen. Die Selbstverständlichkeit des Aufenthalts im Raum verliert sich, wie sich die Orientierung über die Richtung verliert, aber auch über die Bewegungsarten. Die Gerade, das demonstriert die beschriebene Kamerafahrt in LA CICATRICE INTÉRIEURE eindrucksvoll, droht in den Kreis überzugehen, unvermerkt. Die Kamera wie die Narration scheinen von der Orientierungslosigkeit infiziert. Die Einstellung im Wüstenfilm ist immer schon eine Reaktion auf diese Unsicherheit der Orientierung. Den schlechten Wüstenfilm erkennt man, ließe sich im Umkehrschluss sagen, daran, dass er keine Einstellung zur Wüste findet, die sich von der Einstellung zur Landschaft unterschiede, dass er die Wüste filmt, als wäre sie Landschaft, dass er den Menschen in den Raum in den Raum kadriert, als könne er ihm angehören, dass er das Verhältnis von Wüste und Mensch filmt, als könne es sich um einen noch nicht zerfallenen Stimmungsraum handeln.

So scheitert Lavinia Curriers PASSION OF THE DESERT (F 1995) - nach einer Erzählung von Balzac - gleich an der doppelten Erfahrung einer Grenze: Ein napoleonischer Offizier verliert nach einem Scharmützel in der Sahara die Orientierung und wird von einer Leopardin gerettet. Zwischen ihr und dem Soldaten entspinnt sich eine Liebesgeschichte, die, als ein männlicher Leopard auftaucht, in einem Eifersuchtsdrama kulminiert. Currier aber filmt den Menschen, der sich ins Tier verwandelt, den Menschen, der durch die Wüste irrt und einen Maler, der im Wahnsinn beginnt, seine Farben zu trinken, als wären sie am sicheren Ort. Sie filmt die Wüste ebenso wie die Grenze zwischen Mensch und Tier und ihre Überschreitung, als handelte es sich um einen Raum und eine Bewegung, denen reguläre Einstellungen, die gemäßigte Decoupage, das Erzählkino, das Abfolgen und Kausalitäten herstellt, gewachsen sein könnte.

Man darf sich diesen Film nicht ansehen und Fragen stellen, man muss ihn sich genau in der Art ansehen, in der man einen Gang durch die Wüste genießen mag. Der Film besteht aus Spuren ... und Wegmarken.

So Philippe Garrel über LA CICATRICE INTÉRIEURE, einen Film, in dem sich manifeste Spuren einer nicht auflösbaren Symbolik finden. Diese Spuren verweisen nicht auf den Weg, dem zu folgen wäre, sie sind Spuren im Sand, Spuren im Sinne einer immer aufschiebenden différance, nie aufhebbar in den Sinn einer konsistenten Symbolsprache - oder überhaupt irgendeiner Sprache. Wenn die Narbe die sichtbare Spur einer vergangenen Verletzung bezeichnet, also den Eintrag eines Ereignisses und der Zeit in die Oberfläche der Haut, dann ist die "innere Narbe" die Aufhebung des Begriffs der "Narbe": die unsichtbare Sichtbarkeit der Spur. Das Entscheidende ist dabei, der Metapher zu widerstehen, die es erlaubte, die unsichtbare Narbe als Verwundung der Psyche kommensurabel zu machen. Das wäre nicht weniger ein Klischee als die Wüste als Metapher. Die Wüste als Grenze der Erfahrung widersteht der Sinnergreifung durch die Metapher. Das Sehen, Verstehen, Erleben des Betrachters ist zurückgeworfen auf jene Grenze und Aufhebung des Sehens, Verstehens, Erlebens, die Antonin Artaud als Theater der Grausamkeit bezeichnet hat. Bei Garrel hat das statt im Zueinander von Ton und Bild, Sprache, Laut, Berührung, Starre und Bewegung: Das schreiende Wehklagen von Nico, die Auflösung der Ereignisse zur Musik, das Helle, das Dunkle.

In GERRY wird die Sprache von der auflösenden Kraft der Wüste infiziert - oder verhält es sich umgekehrt: Die Auflösung der Sprache bringt die Wüste hervor als Ort einer sinnlosen Bewegung?. Schon der Titel des Films adressiert eigentümlich ins Leere. Er benennt die beiden Protagonisten, Gerry und Gerry, die schon im identischen Namen wie nicht recht differenzierbar erscheinen (es wird fraglich werden, ob sie überhaupt zwei Personen sind oder nur eine). Und er benennt das Eindringen des sinnlosen Namens/Wortes "Gerry" in die Sprache von von Gerry und Gerry, als Verb, das sich in der Verwendung der Bedeutung entzieht und in der sinnlosen Wiederholung (Gerrysierung) entleert und die Sprache vom Mittel der Kommunikation und der Vermittlung von Erfahrungen in eine leere Sprache verkehrt, die so wenig Orientierung ermöglicht wie der Raum, der die Wüste ist, wie der Raum, durch den die Steadycam Gerry und Gerry begleitet. Die Sprache und die Bewegung geraten in ein Kreisen, in dem sich der Kontakt verliert zu allen Gegenständen dieser Welt. Das Ziel der Wüstenwanderung ist von Anfang an nur das "thing" und dieses "thing" referiert nicht. Die Irre des referenzlosen Wortes korrespondiert - aber seltsam verdreht, nicht einfach, nicht unmittelbar - der Irre des eingeschlagenen Wegs.

In TWENTYNINE PALMS tragen die Figuren nur Vornamen, es sind die Vornamen der Darsteller: Katja, David. Der Rand der Wüste, an dem sie sich bewegen, wird zum Austragungsort von Ausbrüchen. Aggressive Wortwechsel, Sex, eine Vergewaltigung, ein Mord. David, der am Ende, in Totalen kadriert, keiner menschengemäßen Einstellung mehr würdig, tot in der Wüste liegt, als wäre er Teil von ihr. Der Raum dieses Films - der topografische, der emotionale, der narrative Raum - ist nicht homogen, auch nicht durch Lektüre homogenisierbar. Die ihre Gestalt wechselnde Wüste - Sandwege, Sträucher, Felsen -, an deren zivilisatorischen Rändern und Inseln Katja und David ihre Kämpfe ausfechten, ist die stumpfe, alle Erklärung und Reaktion verweigernde Ödnis. In der Reihe der von Bruno Dumont bisher, also in LA VIE DE JESUS (F ...) und HUMANITE (F ...), entworfenen postmetaphysischen Theologumena ist sie, nach den pathetische Titeln und den im dörflichen Frankreich verankerten Geschichten der ersten beiden Filme, nur noch die Materialisierung eines endgültigen Zerfalls. Die Wüste von TWENTYNINE PALMS wird zur Chiffre, deren letzte Kraft darin liegt, jede Bewegung, jeden Ausbruch von Sex und Gewalt unlesbar zu machen. Zeit, Raum, der Mensch im Rahmen des filmischen Bildes geraten hier in ein Endstadium, in dem in aller Radikalität noch die Differenz von Metapher und schierer Materialität sich auflöst. Mit der letzten Totalen, die zum Klang kaum verständlicher Funksprüche einen Polizisten zeigt, der sich, in die Wüste hinein, von der Leiche Davids entfernt, gelangt der Wüstenfilm, der immer vom Enden erzählt, an seine letzte Grenze. Jeder mögliche Rahmen, der den Menschen in der Natur verortet, löst sich auf. Die Wüste tilgt die Lesbarkeit der Einstellung.

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