Im Anfang war der Zettelkasten. Oder, das Notizbuch, egal, am
Ende steht Amélie. Hunderte von Einfällen, Klein- und
Kleinstbeobachtungen, versponnenen Geschichten, wie macht man daraus einen
Film? Slacker, Richard Linklaters revolutionärer Independent-Film
von 1991, war die handgemachte Variante, Autorenfilm, wacklige Kamera,
diskontinuierliches Skript, Amateurschauspieler, als zugrunde liegende
Gerade-Noch-Struktur der Reigen, das wirkte improvisiert, obwohl es Wort
für Wort geschrieben war. Jean-Pierre Jeunet verfährt gerade
entgegengesetzt, gibt seinem Ideenwust ein Zentrum, das, gewagte und gelungene
Konzentration, ein Gesicht ist, Kulleraugen in Großaufnahme: Amélie.
Das Verfahren ist künstlich, nicht künstlicher jedoch als
das von Slacker, nur dass Jeunet alles tut, die Künstlichkeit
auszustellen. Slacker war "Authentizität", Amélie
ist eine riesige Zitate-Verrührmaschine, die keine Sekunde ins Stottern
kommt, Geschichten über Geschichten erzählt, eine Schachtel Pralinen
nach der anderen öffnet (Forrest Gump? Forrest Gump!), die
Künstlichkeit effektverliebt - aber nie effekthascherisch - ausstellt
und auf eine Weise umnutzt, die alle Feinde des richtigen Lebens im falschen
laut und vernehmlich von Ideologie zetern lässt (man lese nur in den
Cahiers du Cinéma nach).
Die Künstlichkeit nämlich, die Amélie ausmacht,
will nicht auf Ent- oder Verfremdung hinaus, sucht sich aller Realität
ganz satt ein Zentrum, beziehungsweise findet es da, wo es narrativ und formal
ohnehin schon sitzt: in Amélie. Diese Figur, zunächst, sehr abstrakt,
sehr strukturell gedacht, nichts weiter als bloße Allegorie, wenn nicht
gar Prosopopoiie, einer Figur, also Verkörperung oder Stimme
(hier als Gesicht) etwas ganz und gar Unbelebten, nichts als das künstliche
Herz, der Versammlungspunkt des Ideenhaufens, diese Figur wird Mensch, ja
mehr als Mensch: mythische Gestalt des Kinos, zu gut, und zwar viel zu gut,
um wahr zu sein.
Liegt darin eine Inauthentizität? Natürlich. Maschinen
(Textmaschinen, Bildmaschinen, digitale Maschinen), die Menschen produzieren,
Maschinen der Verlebendigung des Buchstabens, pauschal gesprochen, sind der
Kern aller Ideologie des Ästhetischen. Fragt sich nur, wie
Authentisch-Ästhetisches aussehen sollte. Das Sich-Einlassen auf die
bloße sinnlich-materiale Oberfläche à la Straub-Huillet?
Ständiges Aufbrechen, Überfordern, Kreisen, Offenlassen à
la Godard? Oder der offensive Dilettantismus von Slacker? Das sind,
selbstverständlich, legitime Alternativen, nur steckt in ihrer Bevorzugung,
tief und tief ideologisch, gerne die selbstgerechte Behauptung der Moderne,
das und nur das sei die Wahrheit über die Kunst, das Leben und den ganzen
Rest. Das Kino, für das Amélie steht, behauptet das nicht.
Es genügt sich im Effekt, dem eigenen und dem, den es hervorbringt.
Es nutzt alle technischen und narrativen Mittel, wo es sie braucht, bringt
sie aber nicht zum Verschwinden, sondern spielt damit und nutzt sie zur
Wiederverzauberung: Ideologie wäre zu behaupten, das sei mehr als ein
Spiel, mehr als ein Märchen. Auf diese Behauptung verzichtet
Amélie mit herrlicher Lust am Inauthentischen. Die fabelhafte
Welt der Amélie ist ein wunderbarer Film.
Zur Druck-Version |