Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen. So
lautete der letzte Satz des erst verhöhnten, dann berühmten,
mittlerweile wieder berüchtigten Oberhausener Manifests, mit dem eine
junge Generation von damals noch weitgehend unbekannten deutschen Filmemachern
das heimische Kino revolutionieren wollte. Wie es der Zufall will, ist das
fast genau vierzig Jahre her. Die Generation des deutschen Autorenfilms,
die auf Oberhausen folgte, steht längst nicht mehr im besten Ruf,
übrig geblieben sind wenige der 26 Unterzeichner, Alexander Kluge vor
allem und Edgar Reitz, der eine probt seit geraumer Zeit die Revolution in
Permanenz im Fernsehen, der andere hat mit seiner doppelten Heimat
seine ganz eigene Nische gefunden, der Startschuss für eine dritte Serie
ist soeben gefallen.
Die Retrospektive der diesjährigen Berlinale widmet sich den
Umwälzungen der 60er Jahre, im Leben wie im Kino, in den verschiedensten
Facetten. Der Neue Deutsche Film ist eine davon, es laufen heute weitgehend
vergessene Werke von Herbert Vesely oder Hansjürgen Pohland, einige
Filme von Alexander Kluge und auch Edgar Reitz einstmals mit dem Silbernen
Löwen von Venedig in der Reihe Debütfilm ausgezeichneter Erstling
Mahlzeiten. Eine seltsame, eine seltsam fremde Welt ist es, mit
der einen der Film konfrontiert. Reitz Herkunft vom experimentalen
Kurzfilm, dessen Heimat das Festival von Oberhausen gerade gewesen ist, ist
von der ersten Minute an offenkundig. Verblüffend frisch und erkennbar
an Frankreich, Godard und Truffaut geschult, ist die Erzählsprache des
Films. Die Handkamera bewegt sich um die Figuren wie man es heute wieder
aus den Dogma-Filmen kennt, die Erzählung ist sprunghaft, es gibt
spielerische Elemente wie die Einblendung der Namen der Neugeborenen mitten
ins Illusionsbild.
Von heute nur noch schwer begreiflichem Ernst aber sind die Dialoge,
die sich um die großen Sinnfragen drehen, geradezu unentzifferbar ist
der Off-Kommentar, der einerseits für den erzählerischen Zusammenhalt
sorgt, andererseits aber so überzogen bedeutungsschwanger daherkommt,
dass man oft nicht weiß, ob das nun freiwillig komisch ist oder nicht.
(Gut ist es in einem solchen Fall, hinterher den Filmemacher selbst befragen
zu können, der auf die vorsichtige Publikumsnachfrage versichert, es
handle sich ganz entschieden um ein ironisches Sprechen.) Die Geschichte
des Films ist vergleichsweise simpel: Es begegnen sich auf dem Hamburger
Werftgelände die Fotografin Elisabeth, der Medizinstudent Paul, ein
paar Schnitte weiter sind sie verheiratet, das erste Kind ist unterwegs.
Erste Krisen bahnen sich an, in geradezu serieller Produktion kommt dennoch
ein Kind nach dem anderen zur Welt.
Paul gibt sein Studium auf, verschwindet auf der Suche nach sich selbst,
kehrt wieder zurück, Elisabeth ist wieder schwanger. Lange bevorzugt
der Film ihre Perspektive - wenngleich er die wundersame Leichtigkeit, mit
der sie neben ihren zuletzt fünf Kindern ein eher Bohemienne-haftes
Leben zu führen in der Lage ist, nicht weiter erklärt -, dann aber
lässt er sich recht ausführlich auf Pauls Scheitern als
Arzneimittelwerbevertreter ein. Immer wieder bewegt sich Mahlzeiten
weg von der reinen Erzählung, hin zum Diskursiven, Parabelhaften,
Über-Individuellen, verfremdet das Geschehen durch kontrapunktischen
Musikeinsatz, durch herbe Schnitte, durch von den Figuren abschweifende
Handkamera, durch den Off-Kommentar. Die stärkste Szene ist dann jedoch
eine des konzentrierten Draufhaltens: mit grotesker Entschlossenheit begeht
Paul Selbstmord, indem er, auf freiem Feld, die Abgase ins Innere seines
Käfers leitet.
Im Filmmuseum folgt kurz darauf ein Gespräch zwischen Edgar Reitz
und dem Filmkritiker-Veteran Peter W. Jansen. Man spricht über die
Aufbrüche der 60er Jahre. Reitz erzählt vom chinesischen Restaurant,
in dem die Gruppe der Aufrührer - unter Anleitung Alexander Kluges -
das Oberhausener Manifest entwarf. Er gibt einen Eindruck von der erstickenden
Situation, die die jungen Filmemacher im Deutschland der 50er und 60er Jahre
vorfanden. Bezeichnend die Anekdote, dass sein erster Kurzfilm auf weggeworfenem
Filmmaterial von Billy Wilders zeitgleich gedrehtem Eins, zwei, drei
entstand. Und plötzlich ist, obwohl Reitz genau das vermeiden wollte,
viel Nostalgie im Raum. Er erzählt vom Zerfall der Gruppe der
filmbesessenen, in dieser Besessenheit lange eng verbundenen Filmemacher,
der Anfang der siebziger Jahre mit den ersten größeren Erfolgen
einsetzt. Und er beklagt, dass unserer Kultur und den Filmemachern der Sinn
abhanden gekommen ist, dass die aktuellen Filme melancholische Bestandsaufnahmen
unglücklicher Zeitumstände sind. Er klagt über das Publikum,
das sich dem Schwierigen nicht stellen will, über die Institutionen,
die nicht genug für die allgemeine Filmbildung unternehmen.
Dann verlässt man das Filmmuseum, geht hinüber zum
Berlinale-Palast, vorbei an den Fenstern des Hyatt-Restaurants. An der Bar
sitzt, ins Gespräch vertieft, Alexander Kluge, das lebendigste der
Gespenster des Neuen Deutschen Films. |