"Die Hand des kleinen Mädchens streicht zerstreut über
den weißen Pompon an seinem sibirischen Hasenfellmantel. Die Kapuze
ins Gesicht gezogen, mit einer sehr ernsten Mine für ihre viereinhalb
Jahre, sitzt sie, Decken aus Wolfspelz über den Beinen, allein, tief
in die Bank geschmiegt", beginnt der französische Romancier Jean-Jacques
Schuhl sein, mit dem Prix Goncourt ausgezeichnetes Buch. Aus diesem "kleinen
Mädchen", dessen Flucht aus Ostpreußen gegen Kriegsende in
Saarbrücken endete, sollte später die Frau eines der enfants terribles
der deutschen Filmszene werde. Aufgewachsen in begüterten
Verhältnissen, wird das musische Talent des Kindes, durch eine schwere
Hautkrankheit, auf eine harte Probe gestellt. Erst im Teenageralter, dass
sie in einem Internat im Schwarzwald verbringt, lässt die Erkrankung
nach. Sie will Sängerin oder Schauspielerin werden, geht nach München,
verbringt ihre Nachmittage im Englischen Garten, lernt ihre Rollen, übt
Lieder und stromert durch die Stadt. Und dann... "Wer war dieser Junge im
Lederblouson, der allein in einer Ecke stand, verschlossen, den Kopf zwischen
den Schultern, von hinten, vor der Wand, an der Bar des ärmlichen kleinen
Behelfstheaters, das oft auch als Kino diente?". Auf Seite 49 tritt Rainer
Werner Fassbinder in das Leben Ingrid Cavens, der Rest ist Legende. Oder
doch nicht?
Augenfällig ist, dass Jean-Jacques Schuhl, der heutige
Lebensgefährte, der in Frankreich gefeierten Chansonsängerin, die
Erzählform des Romans wählt, um dem Leser ihr Leben näher
zu bringen. Er hält sich sporadisch an den chronologischen Ablauf ihres
Werdegangs, lässt jedoch assoziativ politische und gesellschaftliche
Ereignisse der deutschen Nachkriegszeit einfließen. Die auf den ersten
Blick als lose Verbindungsstücke erscheinenden Geschehnisse, ergeben
bei genauerer Betrachtung ein psychologisches Mosaik deutscher Befindlichkeiten.
Die Geschehnisse während des Dritten Reiches werfen lange Schatten auf
die nachfolgende Generation und sind permanent gegenwärtig. Dagegen
hilft nur die Betäubung, der Exzess, die Sehnsucht, diese deutsche aller
Eigenschaften. Schuhl gelingen sehr starke Bilder, wie etwa die gemeinsame
Reise Ingrid Cavens mit Freundinnen in das Konzentrationslager Dachau, die
im psychischen Zusammenbruch der Frauen, mit anschließendem Trinkgelage,
endet. An seinem distanzierten Verhältnis zu dem "Wunderkind mit den
Buddha-Patschehänden", lässt der, in seinem Buch selbst als Charles
in Erscheinung tretende französische Romancier, keinen Zweifel. Genauso
ergeht es auch dem internationalen Jet-Set, angeführt von Andy Warhol,
dem "weißen Vampir", den Fassbinder verehrte. Auch der Welt der Haute
Couture tritt er eher ironisch entgegen. Er kleidet Fassbinders
Maßlosigkeit (und Cavens zuweilen blasiertes Wirken) in märchenhafte
Allegorien wie etwas der von Hänsel und Gretel. Zwischendurch scheint
das Leben der beiden Königskinder in normalen Bahnen verlaufen zu sein.
Sie besuchen schicke Clubs mit Salons und Pornovorführungen. Durch
"Christopher, einen Freund, einen netten Jungen", der, wenn er nicht in Tibet
weilt oder Drogen verkauft, einen Vertrieb für Pornofilme leitet, gelangt
die aparte Schauspielerin ins horizontale Gewerbe. Nicht als Darstellerin,
obwohl Fassbinder das ebenfalls gefallen hätte, wie Schuhl spitz bemerkt,
sondern als deutsche Synchronstimme (sic!). So erfahren wir, dass die deutschen
"Uuuuughs" und "Aaaahs" der Linda Lovelace von keiner geringeren als von
Ingrid Caven stammen. Der plötzliche Tod Fassbinders, von dem Ingrid
Caven bereits einige Zeit getrennt lebte, reißt die brüchige
Gefühlsdecke erneut auf. Nach einem großen Zeitsprung findet sich
der Leser in der Nähe des Place Pigalle in Paris wieder, wo es der deutschen
Schauspielerin gelungen ist, sich, von der deutschen Öffentlichkeit
unbemerkt, eine zweite Karriere als Chansonsängerin aufzubauen.
Nach dem Lesen des Romans hat man den Eindruck, dass Schuhl mehr eine
ironische Farce auf den Zirkus Fassbinder abliefern wollte, als das Leben
Ingrid Cavens episch zu verarbeiten. Mit diesem stilistisch durchweg brillianten
Buch ist ihm dies auch gelungen, über die "Romanheldin" erfahren wir
indes nur sehr wenig. Durch die leicht dechiffrierbaren Pseudonyme, mit denen
Schuhl vorgibt, ihre damaligen Weggefährten unkenntlich zu machen, entstehen
Momente, in denen er sie der Lächerlichkeit preis gibt. Fassbinders
Leib- und Magenproduzent Peter Berling etwa, dem er sehr viel zu verdanken
hat, wird als bukolischer Ritter Bergstrom dargestellt. Fassbinders letzter
Lebensgefährte Armin, verspottet er als "Lebensbornkind, dem
Versuchskaninchen der nationalsozialistischen Eugenik, der sich für
James Dean hielt", weitere Bespiele könnten folgen.
So ist dem Autor das Zusammenfließen von realer Welt, subjektivem
Empfinden "seiner" Hauptdarstellerin und fiktiver Filmwelt zu einer boshaften
Abrechnung geraten, die zwar ein leserischer Genuss, jedoch ein biographischer
Verdruss ist. Das hat Ingrid Caven sicherlich nicht verdient (auch Fassbinder
nicht) und so bleibt die Hoffnung, dass nach etlichen Bücher über
Fassbinder, endlich eine "seiner" Darstellerinnen vorgestellt wird.
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