Craig Thompson: Blankets (2003)
Eine Kritik von Ekkehard Knörer
Der autobiografische Selbstverständigungscomic konstituiert, gerade
im amerikanischen Independent-Bereich, beinahe etwas wie ein eigenes Genre.
Erinnerungen an die Kleinstadt, aus der man kommt, an den von den
Mitschülern verspotteten Nerd, der man war, all das findet sich zuhauf.
Mal als große Kunst (Clowes' "Ghost
World"), mal als nicht so große (Brubakers
"A Complete Lowlife"). Im Grunde lässt
sich auch Craig Thompsons Comic-Roman "Blankets" hier als Beispiel nennen,
das freilich in mehr als einer Hinsicht aus dieser Reihe fällt.
Schon im Umfang, das kann man zu bemerken gar nicht umhin, sobald man den
Band in die Hand nimmt. Fast 600 Seiten und auf dem Titel die merkwürdige
Gattungs-Zuordnung "An illustrated novel". Das ist allerdings, mit Verlaub,
ein Unsinn, denn es suggeriert eine Hierarchie der Medien, der "Blankets"
nun gewiss nicht gehorcht: den Vorrang des Textes, des Literarischen vor
dem Grafischen, das in die dienende Funktion der Illustration träte.
In Wahrheit ist es natürlich genau umgekehrt - und wenn man schon Anleihen
bei der Literatur machen und auch die Bezeichnung "graphic novel" meiden
will, sollte man das Ganze vielleicht einfach Comic-Roman nennen.
Es ist allerdings zwar ein umfangreicher Comic, aber kein umfangreicher Roman.
Das Feld der Personen und der Geschichten bleibt sehr überschaubar und
im Medien-Vergleich wird einem schnell klar, wie viel mehr Platz der Comic
braucht als der Roman, um eine Geschichte zu entfalten. Natürlich deshalb,
weil er sie anders entfaltet. Das Bild illustriert nicht, sondern erzählt.
Es sind die Worte, die die Bilder illustrieren, sie ordnen, datieren und
im Dialog der Realzeit annähern, jener fiktiven Realzeit, versteht sich,
die ihren Ort nur im Narrativen hat.
Craig Thompsons große Kunst besteht aber gerade darin, dieser fiktiven
Realzeit entgegenzuarbeiten. Sein Comic-Roman ist ein Erinnerungsroman, das
Beschwören einer Vergangenheit, die in erinnerte Vergangenheit bereits
aufgehoben ist. Souverän bewegt sich der Ich-Erzähler vom ersten
Bild an durch einen Zeit-Raum, der in der Erinnerung Vergangenheit
beschwörend neu erschafft. Der neutrale erste Satz "When we were young,
my little brother Phil and I shared the same bed" wird im Verlauf der
Erzählung ebenso erweitert, aufgebrochen, weitererzählt wie das
erste Bild, das Phil und Craig, das als autobiografisch markierte Ich des
Erzählens, eben gemeinsam im Bett zeigt.
Das erste Kapitel, "The Cubby Hole", berichtet freilich von einer Verkehrung
dieser Situation: der jüngere Bruder wird vom Vater in eine Art begehbaren
Schrank gesperrt, der ältere Bruder trägt daran Schuld. Vertreibung
aus dem Bett, das das Paradies der Gemeinschaft mit dem Bruder ist, dem Bett,
das das Schiff auf rauher See sein wird, später, dem Bett, das der Ort
ist, an dem sich Craig und seine erste Liebe Raina aneinanderkuscheln, einander
festhalten in einer Welt, die ihnen fremd ist. Einer Welt, aus der man, ganz
buchstäblich, fallen kann.
Um die Gegenpole des Aus-der-Welt-Fallens und des Im-Miteinander-Aufgehoben-Seins
kreist mit aller - vor allem grafischen - Konsequenz Craig Thompsons Roman.
Die Welt, die er zeigt und darstellt, ist nie neutral. Sie verformt sich
in genauestem Mitvollzug der Wahrnehmung des Ichs, das hier spricht. Die
Tore zum Himmel, zur Hölle stehen offen und der Betrachter ist gezwungen,
in diese Teenager-Welt einzutreten. Das Manichäische verdankt sich dem
Aufwachsen Craigs in einem zutiefst christlichen Elternhaus in der tiefsten
amerikanischen Provinz - genau da, wo sie ans Phantasmagorische einer geradezu
mittelalterlichen Vorstellungswelt stößt. In dieser Welt bewegt
sich Craig, und die Comic-Bilder des Romans verorten ihn in aller grafischen
Deutlichkeit darin.
Fratzen und Monster bevölkern die Bildhintergründe, der
Religionslehrerin wachsen Flügel, ein kleiner Junge nackt über
den Wolken. Mühelos öffnet Thompson seinen erzählten Raum
derart ins Expressive. Es geht nicht um Experimente des Experiments wegen,
sondern um eine psychologische, wenn auch expressionistisch übersteigerte
Abbildgenauigkeit. Darin ist Thompson von einer atemberaubenden
Souveränität, schaltet und waltet mit der Seitenaufteilung, den
Figurenumrissen, den Größenverhältnissen, den Grenzen von
Panel und Bildzwischenraum, dem Übergang zwischen Figurativem und dem
Ornamentalen (das Ornamentale oft mit einem Zug ins Jugendstilhafte) - ganz,
wie es seinem Willen zur präzisen Beschwörung einer - untertrieben
gesagt - affektiv gefärbten Welt zupass kommt. Er ist ein Meister der
Form, aber kein Formalist (wie vielleicht Jason Lutes, wie gewiss Chris Ware).
Vom Schwarz-Weiß der Zeichnungen bis zur oft fast schroffen Schraffur
der Gegenstände bewegt sich Thompson entlang einer Skala der Stilisierung
und Reduktion, aus der heraus er die Welt seines Comic-Romans als eine der
Fülle des Empfindens erschafft.
Schlicht meisterhaft der Umgang mit seinem Leitmotiv der "Blankets". Die
Decke, unter der er sich mit seinem Bruder verkriecht, die oberflächlich
gefrorene Schneedecke, auf der er sich vorsichtig bewegt, der Quilt, den
Raina für ihn näht, all dass spielt Thompson an und durch,
unaufdringlich, legt es in sanften Überblendungen übereinander
und unterstellt es den Symbolpolen von Geborgenheit und Verlassensein. "Blankets"
ist der rare Fall eines zugleich kunstvoll komponierten und so zart wie wahr
empfundenen Erinnerungswerks, ein autobiografischer Roman, der in der Geschichte
des Mediums nicht seinesgleichen hat. Herzzerreißend, meisterhaft.
.
Comix Corner:
Craig Thompson: Blankets
(2003) |
Das Copyright des Textes liegt beim Autor. Nachdruck, auch auszugsweise,
nur mit seiner Zustimmung.
Für Kommentare etc.: Mail
|