Das Berliner Kino Arsenal (Heimstätte auch des Internationalen
Forums der Berlinale) zeigte in einer umfassenden Retrospektive sämtliche
Langfilme des taiwanesischen Regisseurs Edward Yang. Yang ist einer der
Begründer der sogenannten taiwanesischen Nouvelle Vague, neben Hou
Hsiao-Hsien der bedeutendste Regisseur seines Landes. Im Westen ist er erst
mit seinem jüngsten Film, Yi Yi, zu größerer Bekanntheit
gelangt.
That Day On The Beach (Taiwan
1983)
Edward Yang nähert sich seiner Geschichte vom Rand: der
Gegenwart. Eine Begegnung zweier Frauen, die eine Wiederbegegnung ist, die
das Aufblättern der Erinnerung auslöst. Eine Geschichte wird
erzählt in Gestalt filmischer Erinnerung. Und selten ist Erinnern so
überzeugend Form geworden wie hier. Zwei Frauen, die eine als erfolgreiche
Pianistin meist im Ausland unterwegs. Beim Aufenthalt in Taipeh meldet sich
die Jugendfreundin Jian-Li bei ihr, im Nach und Nach der Bilder ergibt sich
eine Vorgeschichte, erst einmal für uns. Die Pianistin liebte Jian-Lis
Bruder, sein Vater aber hat ihn verheiratet, hat ihn als Nachfolger in seiner
Klinik eingeplant. Das führt zum Bruch zwischen den Frauen. Von da an
erzählt Jian-Li ihre Geschichte auch für die Pianistin, langsam
erst begreift man, dass das Narrativ in ihr das Zentrum findet, nicht in
der Beziehung der beiden Frauen, nicht in der Gegenwart, sondern im sanften
Gleiten durch die Vergangenheit.
Es wird die Geschichte einer Ehe, die nichts war als die Flucht
in eine Liebe vor der Zwangsverheiratung, in eine Liebe, der man sich auf
die Schnelle nicht sicher sein konnte. Der Ehemann De-wei hat beruflichen
Erfolg, ist kaum zuhause. Das ist alles sehr genau beobachtet, eingebettet
in den taiwanesischen Alltag: vom Supermarkt zur Firma, von der Haushaltshilfe
zu den Männerausflügen abends ins Restaurant. Die Perspektive bleibt
dabei strikt weiblich, von der Einsicht in die verzweifelte Lage als Ehefrau
bis zur Erinnerung an die sexuellen Eskapaden des Vaters. Das Porträt
De-Weis ist das eines entscheidungsunfähigen, sprachlosen Ehemanns,
sein bester Freund ist das mit kaum mehr Sympathie gezeichnete Gegenbild
eines Frauenhelden, der nichts als den eigenen Vorteil im Sinn hat.
Den Titel gibt ein traumatisches Ereignis: De-wei ist verschwunden,
am Strand, an dem Jian-Li und er einst schöne Tage verbrachten, hat
man einen Mann beobachtet, der erst lange Stunden einfach nur da saß
und dann weg war, ertrunken, mutmaßt man. Ein Fläschchen wird
angespült mit Medikamenten gegen Depression, Jian-Li ist hilflos. Hat
De-wei, der vermutlich in seiner Firma große Summen veruntreut hat,
seinen Selbstmord inszeniert? Ist er wirklich tot? Die Frage beantwortet
der Film nicht. Um das Beantworten von Fragen ist es ihm insgesamt nicht
zu tun. Es geht ihm, in narrativen Versatzstücken, die von Klischees
immer nur das entscheidende Stück entfernt sind, in Alltagsbeobachtungen,
die sich nicht zur stringenten, kompletten Erzählung fügen wollen,
um die Durchlässigkeit der Gegenwart, die Sprunghaftigkeit des Ineinanders
von Jetzt und Einst. Ohne den Betrachter je genau zu orientieren, blendet
Yang zurück, reichert das Geschehen an, das sind psychologische
Assoziationen ohne alle Penetranz, formal ohne allen Schematismus. Die
Rückblende kann sich verzweigen, springt von der einen Vergangenheit
zurück ins noch weiter Zurückliegende, kehrt wieder zurück,
ganz hürdenlos und ohne Erklärungszwang.
The Terrorizers (1986)
Edward Yang eröffnet seine Filme in medias res,
präsentiert eine Vielzahl von Figuren, Geschehnissen, die im nachhinein
erst einordenbar werden, die eine Geschichte und einen narrativen Zusammenhang
bekommen. Seine Filme, könnten man vielleicht sagen, bewegen sich, auf
dramaturgisch durchaus ungewohnten Wegen, von verwirrender Offenheit zur,
natürlich immer nur: partiellen, Schließung. Die Kontexte fransen
ineinander, was am Beginn disparat scheint, erhält im Nach und Nach
der szenischen Verknüpfung einen Zusammenhalt.
"The Terrorizers" funktioniert nicht grundsätzlich anders,
ist jedoch geradezu experimentell im Versuch, das Erzählprinzip im
Erzählen zu exponieren, und zwar dadurch, dass manche Verknüpfung
irritierend nur angedeutet wird, als bloße Möglichkeit im Raum
steht oder ganz ausbleibt. Eine erste Begegnung ist rein zufällig, ein
Fotograf macht Bilder von einer jungen Frau auf der Flucht, Shu-an. Die Bilder
werden ihm zur Obsession, zum Fetisch, er zieht in die Wohnung, die die Frau
so überstürzt verlassen hat. Erst sehr viel später wird es
zu einer zweiten Begegnung zwischen den beiden kommen.
Ein zweiter Schauplatz: Chou Yu-fen, verheiratet mit einem allem
Ästhetischen abgeneigten Laborassistenten, schreibt an einem Roman.
Sie kommt nur unter Qualen voran, ihr Leben und die Fiktion beginnen sich
ineinander zu schieben. Dann erhält sie einen Anruf, und zwar, reine
Erzählerwillkür, von Shu-an, die mitten im Gespräch abbricht.
Chou Yu-fen glaubt, es handle sich um die Geliebte ihres Mannes, jedenfalls:
so fügt sie es in ihrem Roman. Sehr viel näher werden diese Geschichten
nicht aneinandergerückt. Die Suggestion einer mysteriösen Bezogenheit
der Figuren aufeinander schwebt im Raum, verleiht dem ganzen Film eine subtile
Grundspannung, die Auflösung erfolgt aber anders als erwartet: In einem
Gewaltausbruch, der ins Reich des Möglichen verwiesen wird.
Den Fragmentcharakter der Geschichten stellt Yang in der Kadrierung
und im Schnitt nach: immer wieder sind nur Körperteile, Gegenstände
im Bild, werden in kurzen Serien hintereinandergeschaltet, diskontinuierte
Stücke, die sich nie vollständig zum Ganzen fügen. Der Fotograf
(das ganze ist, auch, eine Blow-Up-Reverenz) klebt eine Großaufnahme
Shu-ans als Starschnitt an die Wand: als aus Einzelbildern aufgebautes
Gesamtbild. Dieses komponierte Ganze aber bleibt Schein: Shu-an ist nicht
zu fassen, so wenig wie der Zusammenhang oder der Hintergrund der Geschichte,
in die, vom Rande, der Fotograf hineingerät.
Es wird in "The Terrorizers" wenig gesprochen, die Bilder sprechen,
fragmentarisch, scheinzusammenhängend, für sich. Eine, fast schon
epigonal an Antonioni erinnernde, Kühle durchzieht den Film, die Beziehungen
zum einen der Personen, die sich über den Weg laufen, die zusammenleben,
ohne sich nahezukommen, die miteinander schlafen, ohne dass viel daraus folgt.
Der Film will ratlos lassen, gesellschaftskritische Lektüren legen sich
nahe, drängen sich jedoch selten auf. Mitunter scheint das Geschehen
eher eine These illustrieren zu wollen, als diese zwingend aus sich heraus
zu entwickeln. Eine teils faszinierende, teils enervierende Kopfgeburt.
A Brighter Summer Day (Taiwan 1991)
A Brighter Summer Day ist Edward Yangs bisher einziger
historischer, sein formal geschlossenster, vielleicht sein komplexester,
zugleich aber auch sein unzugänglichster Film. Erzählt wird die
Geschichte einiger Jugendlicher in den 60er Jahren, im Zentrum steht Si'r,
dessen Vater vom chinesischen Festland nach Taipeh gekommen ist. Si'r ist
jedoch nur eine der Figuren im verwirrenden Netz von Jugendbanden,
Freundschaften, Konkurrenz um Frauen, Geldproblemen und Familienkonstellationen.
Das wird zu einem eng verknüpften Teppich auserzählt, im bewussten
dramaturgischen Understatement: vieles an Zusammenhängen muss man sich
nach und nach zusammenreimen. Das historische Setting ist mit Sinn für
Details, mit sicherem Gespür für die Darstellung des doppelten
Umbruchs gezeichnet. Westliche Einflüsse, hier vor allem: Elvis, aus
einem seiner Songs stammt auch der Titel, sind allgegenwärtig, gleichzeitig
bleibt der stete Bezug zum Festland präsent - und vor diesen
Hintergründen lässt sich Yang die untergründige Spannung in
mehrfach aufblitzenden Gewalttaten unter den Jugendlichen entladen.
Aufblitzen ist dabei buchstäblich zu verstehen: der Film
ist, nicht durchweg, aber auf die Grundatmosphäre bestimmende Weise,
in Dunkelheit getaucht. Die meisten Ereignisse spielen in der Nacht, eine
Taschenlampe, Kerzen sind wegen der ständigen Stromausfälle von
einiger Bedeutung. Bildkompositorisch verstärken sie die Kadrierungs-
und Inszenierungsstrategie Yangs, der hier stärker als in jedem anderen
seiner Filme "asiatisch" inszeniert (hier kommt das Klischee für einmal
ganz zu sich selbst): in langen Einstellungen, in denen die Figuren an den
Rand eher als ins Zentrum des Bildes gerückt werden, mitunter ganz aus
dem Bildausschnitt geraten, die Kamera bleibt dann, nie sehr lange, aber
doch auf schieren Raum gerichtet, in den Dialoge buchstäblich aus dem
(intradiegetischen) Off hineingesprochen werden. Die Kamera hält Abstand,
das ist das eine, geradezu obsessiv installiert Yang die Figuren, zum anderen,
in Rahmen unterschiedlicher Art. Das beginnt mit der ersten Einstellung,
die durch ein Loch in der Zwischendecke eines Filmstudios herabgefilmt ist
(irritierend ist zunächst nur die scharf in die Tiefe blickende Perspektive,
den Rahmen erschließt die Kamera dem Betrachter erst durch einen Schwenk
nach oben, auf die Hauptfiguren, die heimliche Beobachter, der Szene sind),
setzt sich aber mit in die Bildmitte gesetzen Türrahmen, Durchbrüchen,
Bögen etc. bis ans Ende fort. Die Statik dieses Raumentwurfs - der der
weitgehende Verzicht auf Kamerafahrten (mit einer erstaunlichen
Handkameraausnahme in einer Verhörszene) entspricht - verdichtet sich
zur erstickenden Klaustrophobie der geschilderten Zustände.
Die bewusste Strenge bringt, hier jedenfalls, ihre Probleme.
Man bleibt, ob man will oder nicht, auf Abstand. Dieser Abstand ist kein
analytischer, die Kadrierung, die langen Einstellungen sind hier -
natürlich keineswegs beliebiger - Stil, aber nicht Notwendigkeit eines
bestimmten Blicks. Verweigerung einer Nähe, die in dieser komplexen
Gesamtanlage doch nur etwas stärkere Implikation des Betrachters wäre.
So fällt es schwer hineinzufinden ins Bild. Ich habe manch meisterlichen
Faltenwurf bewundert in diesem Film, getroffen, berührt, engagiert hat
er mich nicht.
A Confucian Confusion (Taiwan 1994)
"A Confuzian Confusion" ist Edward Yang im Satiremodus.
Vorgeführt werden Karikaturen, hinter denen immer wieder ernst gemeinte
und als solche wenig subtile Gesellschaftskritik mitgeführt zu werden
scheint. Versammelt und ineinander geflochten sind hier vor allem Paare:
die Geschäftsfrau Molly, die ein paar Rosinen zu viel im Kopf hat, um
erfolgreich zu sein. Was aber nichts macht, da ihr die Werbeagentur ohnehin
vom superreichen, wenngleich in geistiger Hinsicht ziemlich minderbemittelten
Ehemann in spe als Spielwiese zur Verfügung gestellt wurde. Dann der
einst erfolgreiche Schriftsteller, der zum Miesepeter geworden ist, Bücher
mit dem Titel "Confucian Confusion" schreibt und daher unverkäuflich
ist, auch seiner Ehefrau, die im Fernsehen eine stets fröhliche
Talkshowgastgeberin abgibt, nicht mehr vermittelbar. Nicht zu vergessen der
hysterischste von allen Charakteren, der erfolgreiche Theaterregisseur Birdy,
der während der Proben stets nur auf Inline-Skates unterwegs ist. Als
Gegenmodell werden Qiqi und Ming in Stellung gebracht, sie ist Mollys
Assistentin, er ein erfolgreicher Angestellter - und drängt seine Freundin,
den Job in der Agentur für einen besser bezahlten zu verlassen.
Die Konfusion, die der Titel verspricht, ist allgegenwärtig.
Kaum eine der Figuren ist glücklich mit der Lage der Dinge, kaum eine
weiß, wie sie sie verändern könnte. Freundschaft ist, da
persönliche Beziehungen stets mit beruflichem Erfolg verknüpft
sind, nicht möglich, Misstrauen wie Missgunst torpedieren jeden Versuch
wirklicher Annäherung. Yang macht kein Hehl daraus, dass er die von
ihm gnadenlos überzeichnete taiwanesische Gegenwartsgesellschaft wenig
erfreulich findet, spielt die massive Botschaft aber immer wieder über
komische, oft auch nur hysterische Bande und bremst sich so beim Predigen
aus. Der Höhepunkt, auch die Mise-en-abyme des ganzen Films ist ein
Auffahrunfall, bei dem eine Verfolgung mit dem Aufprall des
Fußgängers aufs Taxi endet: unvermittelt gehen die Klage über
den Niedergang der konfuzianischen Werte und das absurde Räsonnement
des Taxifahrers über die Absonderlichkeit des Zusammenstoßes
ineinander. Krass sind die beiden hauptsächlichen Wesenszüge des
Films: seine Komik wie seine Botschaft. Dass sie immer wieder unvermittelt
ineinanderkrachen, verleiht "A Confucian Confusion" seine Reize.
Mahjong (Taiwan 1996)
Mahjong ist, von der ersten Minute an, anzusehen, dass Edward
Yang Eleganz und Meisterschaft in der Kunst entwickelt hat, seine Figuren
und ihre Geschichten zusammenzuführen, ohne allen Rückgriff auf
etablierte Dramaturgien. Die Stücke, aus Dialogen, aus Szenen, sind
kantige Teile eines Puzzles, das erst nach und Sinn und Zusammenhang gewinnt.
In "Mahjong" erzählt er von der jungen Französin Marthe, die, halb
naiv und halb nicht unterzukriegen, auf der Suche nach dem Mann, den sie
liebt, nach Taipeh kommt, von diesem Mann, der zwischen Arroganz und Verzweiflung
schwebt, von einem Unternehmer, der verschwunden ist, von dessen Sohn und
einer Bande junger Männer, die zu jeder Prostitution bereit sind. Neu
zu dieser Clique gestoßen ist Lu, der Beschützerinstinkte für
Marthe entwickelt, und einzig diese beiden zeichnet Yang als im Grunde nicht
korrumpierbar, schickt sie durch wilde Abenteuer, etwa eine Entführung,
die auf einer Verwechslung beruht und gönnt ihnen ein Happy End.
Die Mehrzahl der Figuren jedoch steht für den katastrophalen
Zustand nicht nur der Zahlungsmoral im durch und durch kapitalistischen
Gegenwartstaiwan: kaum etwas geschieht aus anderen als den eigennützigsten
Interessen, zwischenmenschliche Beziehungen gehorchen dem kategorischen Imperativ
der Profitmaximierung. Es ist nicht so, dass man diese gesellschaftskritische
Botschaft übersehen oder überhören könnte, ein ums andere
Mal schlägt Yang sie dem Betrachter mit beträchtlicher
Überdeutlichkeit um die Ohren. Interessant ist, dass er das in einer
für ihn ungewohnten Tonlage tut, nämlich der der schwarzen
Komödie, die den Ernst, der gemeint ist, einerseits mit groteskem Witz
mildert, andererseits jedoch durch ungebremste Vulgarität der Figuren
mit voller Absicht ins Unappetitliche steuert. Was jedoch fehlt, und das
ist beim sonst so subtilen Yang über die Maßen erstaunlich, sind
die Zwischentöne. "Mahjong" ist eine satirische Kriminal-Soap, der
Direktheit der Kritik entspricht ein Mangel an Zurückhaltung auch auf
der formalen Ebene: der Film ist, vergleichsweise, flott geschnitten, statt
Rückzug der Kamera in die statische Halbdistanz gibt es Großaufnahmen
und konventionelle Szenenauflösungen. Yang betreibt mit "Mahjong" immer
wieder die Mimikry ans beschriebene Übel (eine Spur davon gibt es auch
in "Yi Yi", wo man kurze Szenen aus einer Fernsehserie ähnlicher Machart
zu sehen bekommt), der Film ist, bei aller dramaturgischen Meisterschaft,
oft die ungeschlachte Reaktion auf heillose Verhältnisse. Yang scheint
dem vor allem durch ausgestellte Künstlichkeit entgegen wirken zu wollen,
durch das Theatralische, das vielen Szenen eignet, mit theaterhaften Auf-
und Abtritten, mit der Konzentration auf Zweier- und Dreierkonstellationen.
Typisch für den Regisseur sind dagegen die Gegenmomente
der wahren Empfindung, die sich ausschließlich um Liebe und Tod drehen,
hier leider auch etwas schematisch und plakativ. Zweimal dringt der Tod
schockartig durch die Oberfläche, durch die Taubheit auch, die der Film
beschreibt wie erzeugt. Das sind Augenblicke die verstören, die
Liebesgeschichte dagegen scheint eher ein Verrat der dadurch zu halbherzigen
Satire ans Sentiment.
Yi Yi (Taiwan 2000)
Man möchte, wenn man diesen Film gesehen hat, nur
erzählen. Davon, wie Yang-Yang am Ende seiner toten Großmutter
erklärt, warum er sich geweigert hat, mit ihr zu sprechen, als sie im
Koma lag. Davon, wie NJ und Herr Ota sich über die Musik so nahe kommen,
wie sich Männer, in Filmen wie im Leben, selten nahe kommen. Wie Ting-Tings
Naivität sich als Entschlossenheit erweist, als eigene Form von Klugheit,
als oft genug vergeblicher, aber gerechtfertigter Versuch, den Menschen
abzutrotzen, was sie nicht zu geben bereit sind. Von Ah-Dis maßloser
Tölpelhaftigkeit, die ihn selbst, auch wenn er es nicht reflektieren
kann, so sehr quält, dass er beinahe zur tragischen Figur wird. Vom
rätselhaften, aber gerade in dieser Rätselhaftigkeit plausiblen
Verhalten Chun-Yuns, die mal intrigant und trickreich, dann grenzenlos treu
und solidarisch erscheint.
Diese und noch viele weitere Geschichten erzählt Edward
Yang in Yi-Yi, jede einzelne von ihnen ist lebensklüger als - das ist
das Beispiel, das nahe liegt - Paul Thomas Andersons ganzer Film Magnolia.
Nahtlos fügt Yang einen Strang nicht an, sondern in den anderen, lässt
die eine Geschichte die andere kommentieren, spiegeln, wiederholen, variieren,
ohne dass man jemals den Eindruck bekommt, es gehe hier um Illustration von
Thesen, um Beispielhaftigkeit, um Lehren, die zu ziehen wären. Irgendwann
erklärt Fatty, der sie später schmählich betrügen wird,
Ting-Ting, was das Großartige am Kino ist (er hat das von seinem
Großvater): dass das Leben dadurch dreimal so lang wird, weil man dreimal
so viel sieht wie die Leute, die nicht ins Kino gehen. Man darf annehmen,
dass Edward Yang dieser Ansicht zustimmt. Jedenfalls ist Yi-Yi nicht weniger
als die triumphale Erfüllung der Hoffnung, dass man alle Naivitäten
realistischen Erzählens meiden und dennoch - eigentlich: nur so - mitten
ins Leben hineingreifen kann. Natürlich ist das eine Frage der Technik.
Der Erzähltechnik, genauer gesagt, und dabei insbesondere
der Fähigkeit, Balancen zu halten, Motivationen anzudeuten, aber nicht
zu erklären, eines Augenmerks fürs scheinbar Nebensächliche,
fürs Widersprüchliche auch, fürs Nicht-Aufgehende. Yi-Yi
übt, das ist vielleicht das Schönste an dem Film, die Tugend der
Zurückhaltung: in aller Regel filmt er seine Figuren aus gehöriger
Distanz. In Momenten großer Bewegtheit entfernt sich sich die Kamera,
statt sich brutal anzunähern (die einzige wirkliche Großaufnahme
eines Gesichts gibt es gegen Ende - und da ist es der vom Bildschirm abgefilmte
Blick einer Fernsehkamera. Darin liegt, in nuce, das ästhetische Programm
des Films). Immer wieder legt Yang Fensterscheiben zwischen die Figuren und
den Blick des Betrachters, Fensterscheiben, in denen sich Lichter spiegeln,
die Lichter von Taipeh, der Großstadt, in die seine Personen oftmals
eingetragen werden wie in ein Landschaftsbild, in dem sie nicht wichtig sind.
Sie rücken dann wieder ins Zentrum - und sie sind gerade dann im Zentrum,
wenn die Kamera das Gegenteil zu behaupten scheint. In einer recht langen
statischen Einstellung sieht man Ting-Ting nur von ferne auf einer
Polizeistation, durch eine Tür links hinten im Bild. Im Vordergrund
sieht man die Tische des Büros, rechts im Bild ein Polizist an seinem
Schreibtisch, der gar nicht wahrnimmt, was sich in seinem Rücken abspielt.
Realismus ist auch eine Frage der Bildkomposition, gerade dann, wenn sie
sich gegen das sperrt, was einem von Hollywood-Konventionen als natürlicher
Blick eingetrichtert wird. Ein Film wie Yi-Yi kann einem wieder die Augen
dafür öffnen, welch eine große Kunst es sein kann, Geschichten
zu erzählen. Vielleicht, in den Händen eines Meisters, die
größte überhaupt.
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