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Fassbinders gescheiterte Therapie. Zur Literaturverfilmung Berlin
Alexanderplatz' nach Döblins gleichnamigem Roman.
Von Sebastian Höger
Am 10. Juni 1982 beendete eine kombinierte Einnahme von Schlaftabletten und
Kokain eine der ungewöhnlichsten, umstrittensten und spannendsten Therapien
der Filmgeschicht: Rainer Werner Fassbinder wurde von seiner damaligen
Lebensgefährtin Juliane Lorenz (heute Leiterin der Rainer Werner Fassbinder
Foundation, kurz RWFF) bei Nacht in seiner Münchner Wohnung tot aufgefunden.
Tragischerweise vor laufendem Fernseher und eingeschaltetem Videorekorder,
vor Film- und Fernsehen, den Medien, durch die er sich Heilung erhoffte.
In 42 Filmen hatte Fassbinder nicht nur den bis heute einzigartig gebliebenen
ernsthaften Versuch einer Filmtherapie (das mediale Pendant zur Schreibtherapie)
unternommen, er hatte auch versucht Freud zu popularisieren und dem Fernsehen
neben Tagesschau, Sportschau und den anderen
"Nebensächlichkeiten"[1]
eine psychoanalytische Funktion zu geben.
Von der eigenen Therapie hatte Fassbinder klare Vorstellungen: Die Selbstanalyse
sollte die Psychoanalyse ersetzen, der Film den Analytiker. Das zu erzielende
Ergebnis formulierte er in einem Interview: "Wenn man sich seine Probleme
bewusst macht, anstatt sie zu verdrängen, werden sie gleichzeitig
analysierbar, und damit sind sie zu
überwinden."[2]
Nach 39 Filmen und der als psychoanalytisches Experiment gewagten Verfilmung
von Döblins Roman und Meisterwerk Berlin Alexanderplatz' war
Fassbinder 1980 mit der Diagnose immer noch nicht über eine Arbeitshypothese
hinaus: Geisteskrank, Art der psychischen Krankheit noch unbekannt.
Seine Mitarbeiter und Teile der Presse waren da schon weiter: Ausgeprägter
Narzißmus, mangelndes Selbstwertgefühl, Grandiosität bis
hin zu sadistischen Tendenzen verbunden mit einem Opferkomplex. Das
Fernsehpublikum gesellte sich nach der Erstausstrahlung von Fassbinders
Berlin Alexanderplatz' auch zum Kreis der Analytiker, hatten Fassbinder
doch die beiden Protagonisten Franz Biberkopf und Reinhold als
Projektionsflächen für seine Neurosen gedient. Den Grund für
deren und seine psychische Krankheit sah Fassbinder in Freuds Kern aller
Neurosen, dem Ödipuskomplex, weshalb im Epilog (der letzten Folge der
Serie) ein toter alter von einem Speer durchbohrter Mann vor einem sich liebenden
Paar liegt: Der Sohn hat den Vater getötet um mit der Mutter den Inzest
zu begehen. Mit dieser Anspielung musste sich Fassbinder begnügen, da
der WDR die geplante explizite Darstellung verhinderte. Jedoch nicht, weil
Fassbinder in Döblins Roman, diesem Epos der Moderne, im Widerspruch
zum Autor und dem Roman, den ersten Versuch gesehen hatte "Freudsche Erkenntnisse
in Kunst
umzusetzten"[3], sondern
auf Grund der Sendezeit: Die Verfilmung sollte als Montagabendserie im
Familienprogramm laufen.
Döblin hingegen, der in der Weimarer Republik praktizierende Psychiater
und Kenner von Freud, hatte auf diesen und dessen Psychoanlayse verzichtet,
weil er glaubte, dass sie zwar bei Einzelfällen und in der Praxis hilfreich
war, aber zu einer Heilung - wie sie auch Fassbinder anstrebte - oder gar
zu einer Erlösung von Leiden nicht taugte. So wird Biberkopf in
Döblins Roman durch die realen, wenn auch metaphysischen Gestalten:
der Tod, die Hure Babylon und die Strumgewaltigen geheilt und erlöst,
während Biberkopfs Psychologen nichts anderes tun können, als
darüber zu diskutieren wie ihm theoretisch geholfen werden könnte
(wobei auch Freuds Name fällt). In Fassbinders Verfilmung stellen der
Tod und die Hure Babylon lediglich Traumgestalten dar und bringen Biberkopf
Freuds Todestrieb und Lebenstrieb zu Bewußtsein, dessen Entmischung
nach Freud für Biberkopfs Masochismus und Reinholds Sadismus verantwortlich
ist. Sie kommen durch Biberkopfs Leiden endlich zu einem
Mischungsverhältnis, das ihm zusammen mit dem überwundenen
Ödipuskomplex ein Leben in der Normalität ermöglicht.
Nach Freud wäre Biberkopf am Ende der Verfilmung therapiert, worin für
Fassbinder gerade das Problem besteht. Für ihn ist der Weg Biberkopfs
nun, nachdem er erwachsen geworden ist', vorgezeichnet, als Musterbeispiel
eines Spießbürgers muss er zum Nationalsozialist werden. Die Wendung
gegen Freud ist eine Wendung gegen den Therapeuten. Fassbinder, Patient und
Therapeut in einer Person, baut einen intellektuellen Widerstand' gegen
sich selbst auf: Der Neurotiker verteidigt seine Neurosen. In der psychischen
Krankheit sieht Fassbinder bei Biberkopf die Fähigkeit zum Widerstand
gegen den Nationalsozialismus und bei sich selbst die Fähigkeit zur
Kunst, seiner Art des Widerstands gegen die für ihn kaputte'
Gesellschaft der Nachkriegs- und der Wirtschaftswunderzeit.
Während also Döblins Roman mit der Heilung und Freuds Analyse mit
der Überwindung des Widerstandes des Neurotikers endet, verfestigt
Fassbinder durch die Literatuverfilmung Berlin Alexanderplatz' seine
eigene psychische Krankheit. Fassbinder selbst, der von Freuds treffenden
Diagnosen begeistert war, wäre dies auch über seine eigene: Die
an "narzißtischen Neurosen Erkrankten [...] lehnen den Arzt ab, nicht
in Feindseligkeit, sonden in Gleichgültigkeit." "Darum [...] kann sich
der Heilungsmechanismus, den wir bei den anderen durchsetzen, die Erneuerung
des pathogenen Konfliktes und die Überwindung des
Verdrängungswiderstandes bei ihnen nicht herstellen." "Sie haben
häufig bereits Herstellungsversuche auf eigene Faust unternommen" -
so wie Fassbinder mit seiner Verfilmung - "die zu pathologischen Ergebnissen
geführt haben; wir können nichts daran
ändern."[4]
Aber nicht nur sich selbst, auch die westdeutschen Familien wollte Fassbinder
mit seiner Literarturverfilmung, dieser Kurzzeittherapie' im Fernsehen,
einmal wöchentlich, 14 Sitzungen, zwischen einer und zwei Stunden,
erreichen: "Wenn eine Frau bemerkt, dass sie sich etwas von ihrem Mann gefallen
lässt, weil das irgendwie mit ihrer Kindheit zu tun hat, dann wird es
erst richtig spannend"
[5], so der selbsternannte
Familientherapeut. Um diese und ähnliche Wirkungen zu erreichen versucht
Fassbinder in der Verfilmung mit allen ästhetischen Mitteln auch in
das Unterbewusstsein seiner Patienten vorzudringen: Es drehen sich hypnotisch
Ventilatoren, es blinken Lichter, es ticken Uhren, es tropft, es pendelt
im Sekundentakt. Und sperrt Fassbinder seine Figuren gerade nicht in
Gefängnisse ein, indem er sie durch Gittergebilde wie Fensterkreuze
zeigt - im übrigen eine Projektion als ein Abwehrmechanismus Fassbinders,
der sich in seiner narzistischen Persönlichkeitsstruktur, wie in einem
Gefängnis eingeschlossen fühlt - wirft er seine und die Neurosen
von Biberkopf und Reinhold durch Spiegel in die heimischen Wohnzimmer hinein.
Auch dieser Therapieversuch scheiterte. Die Familienväter brachen nicht
nur, um die eigene psychische Gesundheit und die der Familie zu beschützen
die Therapie frühzeitig, aber spätestens nach der vierten Sitzung
ab, sie verfolgten Fassbinder und verfassten Morddrohungen bis jener in seiner
Münchner Wohnung unter Polizeischutz gestellt werden musste. Was bei
Fassbinder zu einer dreiwöchigen Depression führte, würde
Freud als negative Übertragung' deuten: Die aggressive und
hasserfüllte Stimmung während der Erstausstrahlung der Serie,
würde er in Analogie zur psychoanalytischen Kur argumentieren, kann
nicht (allein) durch deren Inhalt entstanden sein. Die Patienten übertragen
feindselige Gefühle aus früheren Konflikten auf den Therapeuten,
die etwas über deren Krankheit verraten und es ermöglichen durch
Aufklärung des Patienten sie aufzulösen. Fassbinder dürfte,
wenn Freuds Schilderung zutrifft, die Auflösung des Konflikts nicht
gelungen sein. Er ließ die Zuschauer mit dieser neugeschaffenen Neurose,
welche die erstere ersetzte zurück, wie Freud sagen würde.
Dieser kleine' Ausschnitt aus Fassbinders goßer gescheiterter
Therapie wird jetzt durch die RWFF bis Ende 2006 restauriet und digitalisiert.
Der mehrteilige Fernseh- und wohl bald auch Kinofilm Berlin Alexanderplatz'
soll auf der Berlinalen 2007 wiederaufgeführt werden. Man möchte
an die großen Erfolge 1983 in den Kinos von New York anknüpfen
und nicht an die Erstausstrahlung drei Jahre zuvor in Deutschland. Die Erfolge
der Verfilmung in New York, der Hauptstadt der Neurosen, erklären sich
von selbst. Die Filmvorführungen glichen den Besuchen beim Psychiater,
die Zuschauer lagen auf Liegen vor den Kinoleinwänden. Dass Berlin sich
in dieser Hinsicht vor New York nicht verstecken braucht, wird sich auf der
Belinalen zeigen. Kurrieren lassen sich die Neurosen Berlins durch Fassbinders
Film jedoch ebensowenig wie seine eigenen. Die exemplarische Heilung von
Neurosen kann man aber innerhalb von 15 1/2 Stunden, so lange dauert Fassbinders
Verfilmung, die bald auch auf DVD erscheinen soll, gut zweimal in Döblins
unumstrittenem Meisterwerk der Moderne nachlesen.
Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf.
Dtv.
[1] Fassbinder über Fassbinder, S.
402.
[2] Fassbinder über Fassbinder, S.
392.
[3] Fassbinder: Die Städte des Menschen und seine Seele,
S. 88.
[4] Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Und Neue Folge, S. 430.
[5] Fassbinder über Fassbinder, S. 407.
Quellen:
Fassbinder über Fassbinder. Hg. v. Robert Fischer. Frankfurt am Main:
Verlag der Autoren 2004.
Fassbinder, Rainer Werner: Die Städte des Menschen und seine Seele.
Einige ungeordnete Gedanken zu Alfred Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz".
Hg. von Michael Töteberg. Frankfurt am Main: Fischer 1992. S. 81-90.
Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. 5.,
Auflage Frankfurt am Main: S.Fischer 1989 (= Studienausgabe Band I). |