Ob es allein der Exotismus ist, der unseren abendländischen
Blick von Zeit zu Zeit auf die Kulturen der riesigen Reiche in Asien oder
dem Vorderen Orient lenkt, ist fraglich. Vielleicht ist der indische Subkontinent
derjenige, der uns durch seine verschiedenen Religionen und Mythen, seine
Märchen und mystische Musik, am meisten fasziniert. Die "größte
Demokratie der Welt", wie es so oft heißt, vereinigt scheinbar unvereinbare
Gegensätze miteinander: sie beheimatet Millionen von Analphabeten,
unterhält einige der besten Universitäten, hält zuweilen am
traditionellen Kastenwesen fest und ihre Millionenstädte gleichen einem
Moloch. Doch etwas schlägt alle Bevölkerungsschichten
gleichermaßen in den Bann: die filmis der indischen Filmindustrie,
die für viele das einzige Kommunikationsmittel sind.
In den vergangenen Monaten sind einige CDs auf dem hiesigen Markt
erschienen, die diverse Filmsongs zu einem Potpurri vereinen, die uns westlichen
Hörern ansatzweise die lebendige indische Filmkultur nahe bringen. Auf
den ersten Blick erscheint diese, als Bollywood bezeichnete, gutfunktionierende
Industrie als homogen. Doch die regionalen Unterschiede sind enorm, angefangen
von den verschiedenen Sprachen und Dialekten, über die Religionen und
Mythen, die letztlich die Lebensart der Menschen beeinflussen. All dies wird
in den filmis sichtbar. Um der Vielfalt überhaupt eine Struktur zu geben,
unterteilen Kenner das indische Kino in drei geographische Zonen: das Zentrum
für die Filmindustrie der östlichen Gebiete Assam, Orissa und Bengalen,
hierher stammt der legendäre Filmregisseur Satyajit Ray, der für
das indische Kino als Ganzes steht, bildet Kalkutta; der Süden, in dem
überwiegend eine tamil sprechende Bevölkerung lebt, produziert
die fulminanten Musik- und Tanzfilme, deren Songs inzwischen weltweit
Begeisterung auslösen und in die Popkultur aufgenommen wurden, und findet
in der Millionenstadt Madras die entsprechende Infrastruktur; für den
westlichen Teil Indiens, mit seinen unzähligen Provinzen, Dialekten
und ethnischen Gruppen, wie Marathi, Gujarati, Punjabi, Dogri, Rajasthani,
um nur einige zu nennen, ist Bombay das filmwirtschaftliche Zentrum. In Anlehnung
an das amerikanische Pendant, dem die Filmindustrie Bombay in keiner Weise
nachsteht, gab man ihr den Namen Bollywood. Inzwischen ist diese Bezeichnung
zu einem Sammelbegriff für den indischen Film schlechthin geworden.
Einer der Helden des Bollywood-Kinos ist Kishore Kumar, dessen Stern,
auch 14 Jahre nach seinem Tod, hell am indischen Filmhimmel leuchtet. Der
am 4. August 1929 in Khandwa, im Staat Madhya Pradesh als Abhas Kumar Ganguly,
geborene Autodidakt, folgte als 19jähriger seinem älteren Bruder
Ashok Kumar nach Mumbai (Bombay), wo dieser bereits eine Karriere als
Schauspieler begonnen hatte. Im Bombay Talkies Studio bekam er seine erste
Anstellung als Chorsänger bei dem Filmregisseur Saraswati Devi. Kurz
danach entdeckte der Komponist Khemchand Prakash sein sängerisches Talent
und wies ihn in die Kunst des Playbacksingens ein. Sein erster Hit wurde
das melancholische Mare ki duayen kyou mangu aus dem Film Ziddi
(1948), das er für den Schauspieler Dev Anand sang. Wer es im indischen
Film zu etwas bringen wollte, musste jedoch nicht nur schauspielerisches
Talent besitzen, sondern auch einen Hang zu Gesang und Tanz. Im indischen
Film spielen Gesangsstücke eine sehr große Rolle. Seit den 50er
Jahre sind sie Teil der Popindustrie und repräsentieren mehr als "nur"
Film-Soundtracks. Auch heute gibt es Radiosender, die ihr Programm
ausschließlich diesen Film-Songs widmen. Während die Aufmerksamkeit
westlicher Zuschauer, auf den "Realismus" des Geschehens, durch das unvermittelte
"Einbrechen" von singenden Akteuren "gestört" wird, empfinden das indische
Publikum diesen "Einbruch" als Expansion der sprachlichen Möglichkeiten.
Das Singen versetzt die Protagonisten in die Lage ihren "wahren" Emotionen
mehr Aus-/Nachdruck zu verleihen und kann einen völlig neuen Kontext
herstellen.
Kishore, den Vornamen hat er selbst gewählt, machte aus dieser,
für Schauspieler schwierigen Methode, eine hohe Kunst. Durch seine
natürliche Art, seine Clownerien und Streiche, die er auch während
der Dreharbeiten nicht unterließ, verglich man ihm mit Bob Hope und
Danny Kaye. Sein außergewöhnliches Aussehen unterstrich zu alledem
sein komisches Talent. Obwohl er oftmals "nur" in Nebenrollen zu sehen war
und nie den Helden spielen durfte, gab sein Erscheinen dem Film erst "das
gewisse Etwas", so dass das Publikum ihn zu seinem Liebling erkor. Seinerseits
inspiriert wurde das Multitalent durch den Entertainer Topol, den er
während eines Besuches in London live auf der Bühne sehen konnte.
Anschließend ergriff er die Gelegenheit, sich ein Autogramm auf die
Kassetten seines Idols geben zu lassen.
Einer Legende nach soll Kishore bereits in jungen Jahren zu seinem
später so berühmten Timbre gekommen sein: der junge Kishore hörte
seinen Bruder Ashok in einem Film das Lied Koi humdum na raha singen
und verliebte sich in die Melodie. Er wollte dieses Lied unbedingt genauso
singen, reichte mit seiner Stimmlage jedoch nicht an den komplexen Rhythmus
heran und wurde darüber einige Wochen krank. Diese Zeit nutzte er, um
seine Stimme zu stärken und das halten von Melodien zu üben. 1961
konnte er in Jhumroo das gleiche Lied, das zuvor sein Bruder gesungen
hatte, endlich auch singen, schöner als je irgend jemand zuvor.
Ohne den Filmkomponisten Rahul Dev Burman wäre die Karriere Kishore
Kumars jedoch nicht denkbar gewesen. Der vielbeschäftigte Musiker erkannte
sein intuitives Gefühl für Rhythmik und Melodik und bescheinigte
ihm das absolutes Gehör. "He'd hear Pandit Phimsen Joshi sang and at
once catch the tune. Then he'd hum it a couple of times and by evening he'd
be doing a perfect replay. His ability to mimic combined with his voice quality
gave him tremendous speed and power". Sein Timbre wurde zu seinem Markenzeichen,
womit er nachrückende jüngere Schauspieler mühelos übertraf.
Da er es verstand seine Stimmlage zu modulieren, geriet seine Tätigkeit
als Synchron-Sänger für andere Stars wie Amitabh Bachchan, Amar
Akbar Anthony und Rajesh Khanna nicht in Gefahr. Um einen Eindruck davon
zu bekommen seinen Filme wie Meri neendon mein tum, Jeevan se
bhari und Badi sooni sooni hain genannt. Seine stimmliche
Vielseitigkeit bestätigte auch der Komponist Salil Chowdhury: "... While
recounting an incident related to the recording of Aake seedhi lagi for Half
Ticket, Lata Mangeshkar was unable to come for the recording. The
ever-resourceful Kishore suggested that he would do both the male and female
voice. I very nearly brushed it off as a prank, but he was serious". Damit
gelang ihm der erstaunliche Coup in zwei Oktaven gleichzeitig zu singen.
Im Duett mit den Schwestern Asha Bhosle und Lata Mangeshkar feierte er seine
größten Erfolge. Die Mischung aus westlicher Beat-Musik, gepaart
mit indischen Instrumenten wie der Tabla, der Sitar und diversen
Blasinstrumenten, machten Titel wie Dhak Dhak Dhak aus dem Film
Haathi mere saathi und Lekar Ham Diwana Dil aus Yaadon Ki
Baaraat zu indischen Megahits.
Enttäuscht über die zunehmende Kommerzialisierung und den
immensen Zeitdruck dem die Filmproduktionen unterlagen, zog sich Kishore
Kumar Anfang der 80er Jahre aus dem Filmgeschäft zurück. "It's
all become terribly boring. I've been singing for three and a half decades
now and I'm used to the style of great composers of the yesteryears like
S. D. Burman and Husnlal Bhagataram. Those days we were given a whole day
for rehearsals and another for the take. Unlike today when within two hours
flat you complete the entire recording".
Privat war dem Exzentriker, der Frauen und Luxus liebte, wenig Glück
beschieden. Er war viermal glücklos verheiratet und hatte zahlreiche
skandalöse Affären. Aus der Ehe mit Ruma Devi ging der Sohn Amit
hervor. Mit ihm drehte er 1964 das Drama Door Gagan ki Chhaon mein.
Die Geschichte handelt von dem Kriegshelden Shankar (gespielt von Kishore
Kumar), der bei seiner Rückkehr feststellen muss, dass seine Familie
in einem Feuer umgekommen ist und nun versucht, den einzig überlebenden
Sohn (gespielt von seinem Sohn Amit), der dabei einen Schock erlitt und taubstumm
wurde, zu heilen. Das brilliante Porträt, das er selbst schrieb, Regie
führte, produzierte und die Musik komponierte, wurde später von
Kritikern mit Anti-Vietnam-Filmen aus Hollywood verglichen und erhielt einige
nationale und internationale Auszeichnungen. Ermutigt durch den Erfolg, drehte
er noch drei weitere Filme Badhti ka naam Daadhi (1978), Zindagi
(1981) und Door wadiyon mein (1982), erfüllte jedoch mit
keinem der Filme die hohen Erwartungen.
Am 12. Oktober 1987 starb Kishore Kumar überraschend, der durch
seinen großartigen Humor und seine starke Persönlichkeit, den
Respekt und die Freundschaft vieler Kollegen und Weggefährten erfuhr.
Lata Mangeshkar fand zuletzt die richtigen Worte: "He was definitely a Sampoorna
Kalakar (the complete artist). He knew everything. I call him India's Danny
Kaye, Producer, Actor, Director, Singer
"
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