Salsa, Samba, Buena Vista Social Club: das filmische Latin-Fever
hat hierzulande in den vergangenen Jahren zahlreiche "Opfer" gefordert und
es breitet sich unaufhaltsam weiter aus. Die Inkubationszeit war jedoch von
langer Dauer, denn den Auftakt dazu lieferte in Europa Marcel Camus' 1959
entstandener Orfeu Negro, der den griechischen Mythos von Orpheus und Euridice
auf das brasilianische Alltagsleben projizierte. Der unvergessliche Soundtrack
von Luis Bonfa und Antonio Carlos Jobim zählt heute zu den Klassikern
der Bossa Nova und ist sicherlich noch vielen Cineasten im Ohr. Wer erinnert
sich nicht an das kubanische Kleinod Erdbeer und Schokolade (1993) von Tomas
Gutierrez Alea oder Central do Brasil (1998) von Walter Salles, der auf
internationalen Filmfestivals mit Preisen überhäuft wurde und die
Zuschauerherzen im Flug eroberte. Wir europäischen Zuschauer bekommen
jedoch nur einen verschwindend geringen Teil der lateinamerikanischen
Kinoproduktionen zu sehen. Und diese Filme repräsentierten wiederum
nur einen Teil des gesamten lateinamerikanischen Films. Was steckt also hinter
diesen faszinierenden, vibrierenden Filmen aus der südlichen
Hemisphäre des Globus?
Die Journalistin und Filmemacherin Bettina Bremme hat es sich zur
Aufgabe gemacht, das lateinamerikanische Kino für uns
Daheimgebliebene" zu erkunden. Ihre Reise beginnt mit den rebellischen
Anfängen des Cinema Novo in Brasilien und dem Nuevo Cine Latinoamericano,
dem Pendant für die spanischsprachige Cinematografie Iberoamerikas.
Zu Beginn der 60iger Jahre fallen die meisten Länder Südamerikas
unter die Herrschaft von Militärs, die das kulturelle Leben der Menschen
rigoros beschneiden. Als geographisch größtes Land des Kontinents,
entwickelt sich in Brasilien eine Form der musischen Protestbewegung, die
ihre Anfänge in der Musikszene, mit Sängern wie Joao Gilberto,
Caetano Veloso und Maria Methania, nimmt. Die Leichtigkeit des Bossa Nova,
mit seinen lyrischen Texten vom einfachen Leben der Menschen, der sowohl
in Bars und Kneipen als auch auf öffentlichen Plätzen gespielt
wird, verweigert sich jeder Vereinnahmung durch die Politik der Machthaber
und wirkt dadurch erst recht subversiv. Die jungen brasilianischen Filmemacher,
allen voran Glauber Roche, teilen die Begeisterung der Musiker und gehen
ihrerseits mit der Kamera raus auf die Straße". Andere Länder
Lateinamerikas wie Argentinien, Chile und Kuba folgen ihrem Beispiel. Fortan
sind es nicht mehr die Reichen und Schönen, die die Leinwände der
Kinos in Besitz nehmen, sondern die Menschen von Nebenan in den großen
Städten oder die Bauern und Viehhirten. Regisseure wie der wunderbare
Fernando Birri, Patricio Guzmann und Fernando E. Solanas werfen einen
sozialkritischen Blick auf die elende Wirklichkeit ihrer Landsleute und erhalten
internationale Anerkennung.
Vor diesem Hintergrund widmet sich die Autorin dem komplexen Thema
der divergenten Identitäten innerhalb der Kulturen; den noch deutlich
vorhandenen Spuren kolonialer Herrschaft und nicht zuletzt der
allgegenwärtigen Präsenz der indianischen Kultur. Dies gelingt
ihr äußerst übersichtlich, da sie die Länder separiert
voneinander behandelt, so dass sich für den Leser
Vergleichsmöglichkeiten ergeben, anhand derer er die Entwicklungen
nachvollziehen kann. So entsteht ein heterogenes Bild des lateinamerikanischen
Kinos, das zeigt, wie kontrovers die Diskussion um die nationale (und eigene)
Identität oftmals geführt wird (oder auch nicht). Dies wird besonders
in den nachfolgenden Kapiteln Zwischen Amnesie und hartnäckiger
Erinnerung: Gescheiterte Utopien, Exil und Militärdiktaturen und Das
Politische findet sich im Privaten besonders deutlich. Die Erfahrung des
Exils teilen sehr viele Filmemacher. Da ihre Muttersprache Spanisch oder
Portugiesisch jedoch eine Weltsprache ist, gelingt ihnen die Eingliederung
in das Exilland verhältnismäßig schnell. Dies kann jedoch
nicht über Dinge wie den Verlust der Heimat, der Freunde und Familie,
den gescheiterten Utopien, Hoffnungen und den Verrat durch Kollegen und Nachbarn
hinweghelfen. Dementsprechend sind diese Aspekte zentrale Bezugspunkte in
vielen Filmen lateinamerikanischer Regisseure. Zum Teil erwacht ihr Engagement
für Menschenrechte und Demokratie im Exil konsequenter und rigoroser.
Selbstverständlich finden sich auch im latein- und
südamerikanischen Kino männliche und weibliche Stereotypen wieder.
In der Tat dauert es einige Zeit, bis der ewige maskuline Macho und das feminine
Opferlamm etwas ins Abseits der Leinwand rücken. Im Laufe der 70iger
Jahre, als sich die Ideen der Frauenbewegung auch in Lateinamerika durchsetzen,
zeichnet sich ein differenzierteres Bild der Geschlechterverhältnisse
ab. Dies gelang besonders durch das Engagement von Frauen, die hinter der
Kamera arbeiten, wie den Regisseurinnen Marta Rodriguez und Maria Luisa Bemberg.
In den 80er und 90er Jahren erfolgt der Abgesang auf gesellschaftliche Utopien,
wie Bettina Bremme zeigt, als die Macht des Medienmarktes auch in Lateinamerika
deutlich zu spüren ist und alte, überwunden geglaubte
Gesellschaftsbilder, in Film und Fernsehen wiederkehren lässt.
In der zweiten Hälfte des voluminösen Buches wendet sich
Bettina Bremme dem kubanischen Kino, mit seinem Spagat zwischen Havanna
und Miami" und Brasiliens Film zwischen wildem Kapitalismus und neuem
Humanismus" zu. Sehr zum Vergnügen des Lesers (und zum Vorteil des Buches)
wirkt dieses Buch nicht akademisch oder erkennbar als Doktorarbeit",
sondern überträgt die Lust der Autorin an ihrem Thema auf den Leser.
Sie befindet sich fernab von jeder oberflächlichen tropicalismo-Stimmung,
die so manchen Kenner", nicht zuletzt durch den Erfolg von Buena Vista
Social Club, gelockt haben möge. All jenen Kennern" sei das vorletzte
Kapitel Der fremde Blick auf Lateinamerika wärmstens ans Herz gelegt,
indem sie den Gringos, Tupamaro-Guerillia-Groupies und
Wo-liegt-eigentlich-Bolivien?-Experten den Spiegel vor Augen hält.
Dem engagierten Schmetterlings-Verlag, der mit seinen Publikationen
ein Forum für Lateinamerika bietet, haben die Filminteressierten und
Cineasten dieses überformatige, sehr informative Werk zu verdanken.
Als einziger Nachtrag bliebe noch anzumerken, dass im Anhang leider keine
Kurzbio- und Filmographie der genannten Regisseure aufgeführt ist, das
diesen Band gänzlich zum Nachschlagewerk gemacht hätte. Ein geringes
Manko jedoch.
So bleibt uns bleichgesichtigen Weíßnasen nur das Staunen,
angesichts einer quirligen, maroden, vitalen, impulsiven, authentischen,
am wirtschaftlichen Existenzminimum wuselnden Filmlandschaft, deren Filme
wir hoffentlich in größerer Stückzahl auf unseren
Leinwänden zu sehen bekommen (auch wenn es wahrscheinlich nur ein Traum
bleibt).
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