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Fortsetzung: Der mindfuck als postmodernes Spielfilm-Genre (II)

zu Teil 3

Von  Alexander Geimer

4 Irritation in der Rezeption und Aneignung des mindfuck THE OTHERS

Die Film-Nacherzählungen wurden im Rahmen des DFG-Projekts ‚Kommunikatbildungsprozesse und filmische Instruktionsmuster zur Todesthematik' erhoben und dienen der Rekonstruktion von subjektabhängigen Filmlesarten, was sowohl quantitativ im Rahmen des Projekts (vgl. Geimer / Lepa, in press, Ehrenspeck et al. 2005), als auch qualitativ im Rahmen der Dissertation des Verfassers dieses Aufsatzes geschieht. Die Vorgaben für das Nacherzählen waren lediglich, schriftlich festzuhalten, was in dem Film passiert ist. Man konnte schreiben, was man wollte, solange man festhielt, was in dem Film geschah und wie man das verstand. Auszüge aus Interpretationen geben vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen bedeutsamen Aufschluss über Rezeptionsstile und Aneignungspraktiken des Irritationspotenzials des mindfuck THE OTHERS.

In THE OTHERS wird das Leben einer Familie in einem alten englischen Landhaus gezeigt, welches von Spukgeschehnissen heimgesucht wird. Erst am Ende des Films stellt sich heraus, dass nicht die Familie ‚Geister' wahrnimmt, sondern die Familienmitglieder selbst solche sind - während die scheinbaren ‚Geister' eine normale Familie sind, die in das Haus eingezogen ist. Die Toten wissen nicht um ihren Zustand, haben gewissermaßen ihren Tod ‚verdrängt'.

Diese Form des mindfuck ist besonders bedeutsam vor dem Hintergrund der Religiosität der Mutter (Nicole Kidman), welche ihren Kindern streng autoritär ein christliches Weltbild vermittelt, das sich am Ende des Films als falsch herausstellt. Diesem scheiternden Wissen der bibelfesten Grace, welches im radikalen Perspektivwechsel der Geschichte (mindfuck4) deutlich wird, wird von den Zuschauern ganz unterschiedliche Bedeutung zugeschrieben. Mal bedeutet es eine Relativierung des Wahrheitsanspruchs von religiösen Schriften, mal eine Relativierung der menschlichen Rationalität generell. So meint Robert: "Nach meiner Meinung, will uns der Film sagen, dass nicht alles was in der Bibel oder in anderen heiligen Büchern drin steht wahr sein muss. Das man zwar ein Glauben haben sollte aber dadurch den Bezug zur Realität nicht verlieren sollte." Ganz anders sieht das wiederum Mariella, die die Bibel als Repräsentant für ‚Gedrucktes' und sogar ‚Rationalität' generell versteht: "Manchmal hilft einem die Bibel - oder in übertragendem Sinne: schlaue Bücher - nicht weiter. Es passieren unerklärliche Dinge, die nicht den Regeln der Rationalität folgen." Robin rückt im Fortgang seines Schreibens das Scheitern der Weltanschauung der Hauptfigur in beide Kontexte und interpretiert den Film sowohl als Religionskritik und als Erkenntniskritik:

"Man könnte diesen Film in die Richtung interpretieren, dass er sich über die Religion lustig macht. Denn die religiöse Mutter, die sich so an Gott klammert, muss dann doch feststellen, dass sie sich geirrt hat. Als ihre Tochter sie am Schluss fragt, ob es die Kinderhölle überhaupt gibt, sagt sie, dass sie das nicht weiß. Sie gibt zu, dass sie auch nicht mehr weiß als ihre Kinder, über Gott, das Leben und den Tod. Deshalb kann man auch etwas abgeschwächter argumentieren, dass dieser Film ausdrücken will, dass wir nichts wissen. Wir wissen nicht, wer wir sind, von wo wir kommen und wohin und ob wir noch gehen wenn wir tod sind."

Die Interpretationsweise des radikalen Umbruchs des Films, der mit der Aufhebung der Täuschung der Hauptfiguren über ihre Identität einhergeht, als Relativierung des menschlichen Wissens / Glaubens findet sich immer wieder unter den Deutungen der Jugendlichen - dabei wird auch die eigene Wahrnehmung der Wirklichkeit infrage gestellt. Beispielsweise schreibt Oliver mit Bezug auf das Scheitern des Weltbilds der Mutter: "Vielleicht ist unser Bild auch unsere individuelle Wirklichkeit. Dementsprechend ist diese Welt, das was wir sehen und daraus machen." Und Sybille ist der Ansicht: "Der Film weist eine interessante Sicht auf das was wir Realität nennen auf, denn er macht klar, wie subjektiv Realität sein kann." Auch Dario betont: "Der Film beweist eindrucksvoll wie sehr man als Mensch an seiner gewohnten Logik hängt." Die Selbstverständlichkeit ihrer Alltagswirklichkeit wird von den Jugendlichen also hinterfragt. Beispielweise findet Lena: "der Konflikt den Grace durchgemacht hat, nämlich ob sie an die Bibel - an ihre Grundsätze - oder an das glauben soll, was sie tatsächlich miterlebt, war spannend und lässt einen über einiges nachdenken." Auch Franziska schreibt: "Der Film bringt einen zum Nachdenken und das finde ich an Filmen sehr gut, sie erweitern den Horizont." Und Jan formuliert "Wirklich interessante Story die einen auf jeden Fall zum nachdenken anregt ob da nicht noch mehr ist als wir sehen können".

Eine feinanalytische Interpretation der Nacherzählungen nach der Dokumentarischen Methode der praxeologischen Wissenssoziologie (vgl. Bohnsack 2001) ist Gegenstand der Dissertation des Verfassers. Es kann jedoch bereits festgestellt werden, dass das Irritationspotenzial des mindfuck THE OTHERS kreativ genutzt werden kann. Dies weniger im Sinne einer Medienkompetenz des Wissens um die Inszeniertheit von medialen Strukturen (vgl. Eder, 2002: 40), als vielmehr im Sinne einer Alltagskompetenz, die erlaubt Gewissheiten des Common Sense infrage zu stellen und sich mit Formen der alltäglichen Produktion von ‚Selbstverständlichkeit' und ‚Gewissheit' auseinanderzusetzen. Indem diese unhinterfragten Wissensbestände das Fundament der alltäglichen Identitätskonstruktion darstellen, kann sich in der Aneignung des mindfuck ein Spielraum der Relativierung eingefahrener Mechanismen der Identitätskonstruktion eröffnen.

Welche individuellen Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit die ‚Film-Zuschauer-Interaktion' im speziellen Falle von THE OTHERS (und möglicherweise generell) eine solche Wirkung in der Aneignung des mindfuck entfaltet, ist eine der zentralen Fragen der weiteren Analysen. In der bisher geleisteten Interpretation5 wurde deutlich, dass es kaum eine Rolle spielt, ob man den Film besonders mag oder er einem eher nicht gefällt, oder etwa ob man unterschiedliche Lesarten der Geschichte feststellen kann oder eine solche Polysemie nicht herausarbeiten kann, sondern: welche Wissensbestände man zur Decodierung an den Film heranträgt. Je weniger allgemein, also je ‚persönlicher' diese Wissensbestände sind ("konjunktives Wissen" im Vokabular der Dokumentarischen Methode, vgl. Bohnsack 2001)6, desto fruchtbarer ist die Auseinandersetzung, also eher die Möglichkeit einer kreativen Aneignung der Dekonstruktion sozialer Deutungsmuster und kultureller Grundbilder, wie sie in THE OTHERS anhand des mindfuck in Bezug stattfindet, gegeben. Die Ergebnisse lassen bereits erstens im Bezugsrahmen der Filmwissenschaft auf die Existenz des Genres hinweisen, andererseits im Bezugsrahmen der Medienpädagogik auf eine näher zu untersuchende positive Irritationsqualität der entsprechenden Genrevertreter. Während bisher kognitive Irritation lediglich als "sozialethische Desorientierung" (FSF-Prüfordnung, 2003: 13) als Merkmal von Filmen verstanden wurde, das über Restriktionen hinsichtlich der Zugänglichkeit eines Films für Jugendliche nachdenken ließ, sollte man auch darüber nachdenken, ob gewisse Formen der Desorientierung nicht die psychosoziale Entwicklung fördern können und die entsprechenden Filme pädagogisch sinnvoll eingesetzt werden können.

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4 Die Annahme des mindfuck als Genre lässt sich einerseits durch die wiederholte Betonung eines besonderen ' Perspektivwechsels' bestätigen, wie andererseits durch den sehr häufigen Verweis der Jugendlichen auf SIXTH SENSE als ‚ähnlichen Film', so heißt es bspw.: "Ähnlich wie in dem Film "The Sixth Sense" wird in diesem Film das Reich der Toten mit dem der Lebenden verwoben, beide Ebenen laufen zunächst parallel, wodurch sie der Zuschauer erst nicht trennen kann" (Thomas). Oder kritischer: "Man könnte fast meinen, dass in Zeiten nach ‚The 6th Sense' jeder Regisseur möglichst mit einer tollen Schlussüberraschung auftrumpfen möchte" (Christoph). Daneben wird seltener, aber auch auf HIDE AND SEEK verwiesen.
5 Unter anderem in der Forschungswerkstatt von Herrn Prof. Bohnsack, dem an dieser Stelle für seine Ausführungen zu danken ist.
6 Vgl. auch zur Bedeutung von konjunktivem und kommunikativem Wissen für die Medienrezeption generell die Arbeit von Burkard Michel (2005): "Kommunikation vs. Konjunktion. Zwei Modi der Medienrezeption".

Literatur

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EDER, Jens: Die Dramaturgie des populären Films. Drehbuchpraxis und Filmtheorie, Hamburg: LIT Verlag 2000.

EDER, Jens: Die Postmoderne im Kino: Entwicklungen im Spielfilm der 90er Jahre In: Eder, Jens [Hg.]: Oberflächenrausch. Postmoderne und Postklassik im Kino der 90er Jahre, Münster 2002, S. 10-60.

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