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Aus- und Vorbeiseinsgeschichte
 
Forced Entertainment: The World in Pictures (Volksbühne, 15.12.2006)

Von Ekkehard Knörer

 

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Anfang, Ende: Jerry. Jerry schweigt, es reden die anderen. Warm-up-Adressen an Jerry, der schweigt. Übertreib's nicht Jerry. Du hast viel Fernsehwerbung gemacht, Jerry, in letzter Zeit. Das ist keine Schande, aber das hier, auf der Bühne, das Stück, die Performance ("The World in Pictures"), das ist was anderes. Sei ganz natürlich, Jerry. Achte auf das, was du mit den Händen machst, Jerry. Einer nach dem anderen, in Straßenkleidung, sie geben sich das Mikro in der Hand, dann gehen sie von der Bühne. "Bloody Mess", das Vorgängerstück, endete mit den Scheinwerfern auf der Erzählerin, die Scheinwerfer gehen aus, die Erzählerin sagt zum Publikum "Noch sehen Sie mich, gleich sehen Sie mich nicht mehr". Dann geht der letzte Scheinwerfer aus und es ist dunkel. Hier gehen sie von der Bühne, bis Jerry allein ist. Jerry spricht.

Im "Making of"-Blog zu "The World in Pictures" spricht Tim Etchells, die Legende Tim Etchells, der Regisseur, das Mastermind oder was auch immer im Band-Kontext von "Forced Entertainment", von den Schwierigkeiten des Übergangs von einem Projekt zum anderen. Anschließen und hinter sich lassen. "We've talked often about this early period of the work as that in which we deconstruct the old show (the one we've made and are touring - the one from which we now have to find a way to move on). It's a process in which you have to figure out what that other 'old' show was/is - not as a live object, not connected to doing it - but what it is/was a structure, as a relationship to an audience, as an idea even - as something that in one sense is already 'done', a chapter in your past, a position you have previously occupied and may no longer occupy." Es gibt eine Familienähnlichkeit zwischen "Bloody Mess" und "The World in Pictures". Und es stellt sich die Frage, was passiert, wenn ein dekonstruktives Spektakel dekonstruiert wird. Was kommt dabei raus? Was kann das geben? Was kommt nach dem Nachspiel des Endspiels?

Alles geht von vorne los. Menschheitsgeschichte, von A bis Z, nicht weniger. Gleich. Nicht sofort. Erst nämlich Jerry. Er steht da, von allen verlassen, auf der nackten Bühne, im T-Shirt, er nimmt die Hände aus den Hosentaschen und erzählt. Falls das erzählen ist. Stellen Sie sich vor, Sie sind in einer Stadt, die Sie kennen, aber nicht sehr gut. In zwei, drei Stunden haben Sie einen Termin. Sie gehen ein wenig spazieren, zur Fußgängerzone mit den ganzen Chainstores erst, das langweilt Sie, dann nehmen Sie eine Seitenstraße. Ich folge Jerry, ich stelle mir das vor. Ich stelle mir Wien vor, eine Stadt, die ich kenne, aber nicht sehr gut. Im Geiste bin ich zur Mariahilferstraße in Wien gegangen und dann nach links weg; Jerry erzählt weiter, von Dingen, die, wie wir uns vorstellen sollen, am Rande der Straße liegen, eine Baustelle, eine Tiefgarage, dann eine Tür zu einem Treppenhaus, die offensteht. Wir gehen hinauf. Ich stelle mir vor, ich gehe hinauf, weil Jerry sagt, ich soll es mir vorstellen. Dann sind wir auf dem Dach, Jerry und ich. Man sieht die ganze Stadt, alle Wahrzeichen. Ich sehe den Stephansdom, ich sehe die Oper. Jetzt blicken wir nach unten. Unten auf der Straße sehen wir ein Auto und wir machen uns jetzt Gedanken, was mit unserem Körper geschähe, stürzten wir uns in die Tiefe. Der Gedanke macht uns Angst und was uns noch mehr Angst macht, was uns geradezu in Panik versetzt, ist das Wissen darum, dass wir genau das tun werden. Wir werden uns in die Tiefe stürzen. Stellen Sie sich das vor, sagt Jerry. Dann stürzen wir, dann stellen wir uns unseren Körper vor, wie er platzt. Wir denken an eine Melone, denn wir kennen Melonen, die fallen und platzen, wir kennen das aus dem Internet. Dann der Pauseknopf. Verharren wir so, sagt Jerry. Ich komme darauf zurück, sagt Jerry, später.

Erst einmal die Geschichte der Welt. Eine Erzählerin tritt auf, alles beginnt mit der nachgestellten Vulkanszene aus dem Film "Eine Million Jahr vor Christi Geburt". Mit Raquel Welch. Es treten in Fellschurzkostümen und Langhaarperücken die Steinzeitmenschen auf. Sie tanzen und springen wie Steinzeitmenschen; wie die tanzen und springen, das haben wir im Kino gesehen. Richard ist der primitive Lüstling unter den Steinzeitmenschen. Sex ist alles, woran er denkt. Schlechte Wortspiele und Sex, aber es läuft auf dasselbe raus: Homo erectus eben. Die Bühne wird jetzt gefüllt. Garderoben, ein Schrank, eine gelbe Metallleiteraussichtsturmkonstruktion, Wärmestrahler. Ein Fernseher, ein Laptop. Drei Steinzeitmenschen sitzen vor dem Laptop und holen sich einen runter. So beginnt die Geschichte der Menschheit. (So geht sie weiter. Das ist die, wenn man so will, einzige Pointe des Abends, geschichtsphilosophisch gesehen. Aber an der Überführung von Geschichtsphilosophie in enthemmten Kindergeburtstag arbeiten "Forced Entertainment" schon eine ganze Weile. Oder immer schon. Ein ehrenwertes Projekt. Immer neue Abbauprodukte, Nachspiele, Abgesänge, Slapstick und ausgefeilteste Primitivität.)

Der Laptop wird an den Fernseher angeschlossen. Man sieht Bilder, Fotos. Ein enervierendes Quak- oder Quäkgeräusch, sobald das nächste Bild kommt. Jerry im Steinzeitkostüm steht am Laptop und klickt immer weiter, Bild für Bild. Die meiste Zeit bleiben die Bilder unkommentiert, nur später dann - war es im Mittelalter? - werden die Bilder mit der Anfangsszene kurgeschlossen, dem Gang aufs Dach, dem Fall, dem Sturz, als die Bilder eines Lebens, die an mir, an uns, an Jerry vorüberziehen. Was mögen sie zu bedeuten haben? Fremdbilder, Schnappschüsse, beziehungslos, alles und nichts, ein Haus, ein Zange, "I don't know". The world in pictures.

Die Griechen, die Römer, Toga, das ganze Zeug. Philosophie, Platon undsoweiter. Irgendwann später - war es im Mittelalter? - ist Richard nackt, geht zur Erzählerin, patscht sich auf den Schenkel, sagt "China", wie: verdammt, wir haben China vergessen. Macht aber nichts. Dafür die Wikinger, mit Helmen mit Hörnern. "Horny", sagt Richard. Man paddelt übern Ozean, das Mittelalter, in dem alles ganz dunkel wird - "Dark Ages" - liegt hinter uns. Wir haben China vergessen, aber jetzt kommt Descartes, jetzt kommt Leibniz, jetzt kommt die Aufklärung. Caveman am Schrank, erstaunt über den Türmechanismus. Wir staunen über die Welt, wir bewegen die Schranktür, wir blicken auf die Wand im Schrank, als läge dahinter der Ausgang aus unserer selbst verschuldeten Unmündigkeit. Aber weiter. Kindergeburtstag, Musik. Dann der große Frieden am Ende des 19. Jahrhunderts. Alles schläft ein, beruhigt sich, man sinkt zurück ins Kissen der weltgeschichtlichen Pause. Glücklich die Menschen der viktorianischen Zeit, sagt die Erzählerin, von den Gräueln des 20. Jahrhunderts ahnen sie nichts. Den Kriegen, der Gewalt, der Vernichtung im 20. Jahrhundert versuchen die Performer erst gar nicht per Reenactment beizukommen. Sie liegen und lümmeln herum im Schatten der Geschichte. Erst in den siebziger Jahren erwachen sie wieder, und tanzen zu Musik von T-Rex, 20th Century Boy. Weiter geht's, Thatcher und so, mit großen Schritten in Richtung Gegenwart.

Dann wieder Jerry. Jetzt der Zukunftsausblick. Erinnern Sie sich: Was haben Sie eine Stunde vor Beginn der Vorstellung getan. Erinnern Sie sich an die Menschen, denen Sie auf dem Weg hierher begegnet sind. Ich erinnere mich. Ich war eine Stunde vor Beginn der Vorstellung noch bei der Perlentaucher-Weihnachtsfeier. Dann sind wir, etwas eilig, die Torstraße rübergelaufen zur Volksbühne, die gar nicht so gut gefüllt ist an diesem Abend. Ich erinnere mich an die Einlasserin, die uns in letzter Sekunde noch durch die Tür schlüpfen ließ auf den Platz in der dritten Reihe, ganz vorne. Neben mir eine Frau, die nach einer halben Stunde ihre Sachen packte und sagte "ich muss gehen" und dann ging sie. Daran erinnere ich mich. In einer Woche, sagt Jerry jetzt, werden sie manches vergessen haben von diesem Abend. Und in einem Jahr werden Sie sich kaum an etwas erinnern. Und in fünf Jahren ist der eine oder andere von uns möglicherweise tot. Und in fünfzig Jahren sind die meisten von uns tot. Und in hundert Jahren, nehme ich an, sind wir alle tot. Und in zweihundert Jahren sind alle tot, die sich noch an uns erinnern können. Und in tausend Jahren wird es vielleicht keine Spur, keine Aufzeichnung mehr geben von uns. Und in zehntausend Jahren existiert diese Stadt nicht mehr, ist vielleicht Wüste. Die anderen Performer finden, dass Jerry jetzt ein bisschen die Stimmung verdorben hat. Das "Grande Finale" wird angekündigt, er soll sich währenddessen was ausdenken, um die Stimmung zu heben.

Das "Grande Finale" ist eine Aufräumaktion. Die Bühne wird wieder geleert, der Dreck wird beseitigt. Großer Kehraus. Strukturumkehr: Bei "Bloody Mess" blieb das Gerümpel da, der ganze Saustall wurde nicht ausgemistet. Jetzt wird sauber gemacht, aber ist's ein großer Unterschied? Wer weiß. Jerry ist nicht viel eingefallen. Vielleicht sollten wir die Zeit, die wir haben, genießen, sagt Jerry.

Von uns, die wir stürzen, vom Dach des Hauses auf das Auto, war jetzt gar nicht mehr die Rede. Ich stelle mir einen Aufprall vor und einen Körper, der platzt wie eine Melone. "Mock epic", sagen "Forced Entertainment". Weltgeschichtsschreibung. Von der Welt in Bildern zur Aus- und Vorbeiseinsgeschichte. Hey, ganz schön depressives Gutelaunetheater, das.

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