Dirk Bogarde, Hauptdarsteller in drei Filmen Loseys zuvor, fragte
den Regisseur, welcher Art das jüngste Projekt, Accident, sein
solle. Loseys Antwort: "Diesmal mache ich den perfekten Film. Ich habe das
perfekte Drehbuch, die perfekte Besetzung, die perfekte Crew. Ich brauche
nicht mehr als die Sonne, solange wir drehen." Das Erstaunliche daran:
Accident ist dieser ganz und gar vollendete, makellose Film geworden,
den Losey sich vorgenommen hat. Kaum ein anderes Werk der Filmgeschichte
zeugt von einer derart entschiedenen, bis ins Kleinste gehenden Kontrolle
des Regisseurs über jedes Detail seines Films, einer Bewusstheit auf
den Millimeter der Einstellung, des Art Designs, der Kamerabewegung, des
Schnitts, der Schauspielerführung und des Musikeinsatzes. Die Kehrseite,
derentwegen der Film von Kritikern wie David Thomson verabscheut wird: nichts
scheint dem Zufall überlassen, es gibt keine Lücke, in die
Improvisation oder der Widerstand des Materials, ja, der Wirklichkeit
stoßen könnten. Das heißt keineswegs, dass sich Accident
zu einem geschlossenen, sterilen Sinn-Ganzen fügt, es heißt nur,
dass seine Rätselhaftigkeit, seine Sperrigkeit auf das Kunst-Wollen
und Kunst-Können seiner Macher zurückzuführen ist. Oder,
wenigstens: wo etwas am Film entgleitet, falls etwas entgleitet, ist dieses
Entgleiten nicht mehr sichtbar. Accident tritt auf mit dem
unerhörten Anspruch, ganz und gar, restlos, determiniert zu sein. Bazins
Alptraum: eine Zurichtung der gefilmten Wirklichkeit auf ein Binnenreich
der Zeichen, deren Referenzseite abgeschattet wird, die stattdessen, im
souveränen Zugriff auf ihre ambivalenten Bedeutungspotenziale, verwendet
werden nach Regeln - äußerst strengen Regeln -, die dieser Film
sich gibt, von seinem Anfang bis zu seinem Ende (das den Anfang spiegelt).
Lesbar in einem über den offensichtlichen Mimetismus hinausgehenden
Sinn sind diese Zeichen - so die Utopie dieses Films - nur nach der Seite
ihres Ortes im Spiel, nicht nach der Seite ihrer Abbildung von
Wirklichkeit.
Unter dem Credit-Vorspann eine statische Einstellung. Nacht, symmetrisch
ins Bild gerückt ein Landhaus. Leises Schreibmaschinengeklapper, die
Kamera verharrt und nichts geschieht bis der Name des Regisseurs durchgelaufen
ist. Dann ein langsamer Zoom auf das Haus, der plötzlich stoppt. Man
hört ein Kreischen von Bremsen, ein Jaulen blockierter Räder. Kurze
Pause - der Crash. Die Kamera ruht weiter, die Tür des Hauses öffnet
sich. Dann ein Schnitt, Dunkelheit, Licht einer Taschenlampe, Schnitt, der
havarierte Wagen. Aus diesem in sich und seinen Verhältnissen noch einmal
verschobenen Anfang entfaltet der Film rückwärts seine Geschichte.
Drei Männer, die um eine Frau kreisen, einer ist bei dem Unfall ums
Leben gekommen. Der Film arrangiert Gruppenbilder, in immer neuer Konstellation,
die Übergänge von einem Bild zum anderen aber funktionieren nicht
nach der Logik der Psychologie, so wenig wie die Übergänge von
Einstellung zu Einstellung der Logik der filmischen Standardgrammatik gehorchen.
Auf der Inhaltsebene produziert das Rätselhaftigkeit, auf der formalen
Manierismus. Ein Manierismus jedoch, der nichts mit visueller
Großmannssucht, nichts mit Verselbständigung der Mittel und nichts
mit Disziplinlosigkeit zu tun hat, sondern Mal für Mal Überraschungen
und Schönheit produziert und zwar nicht so weit entfernt von jenem Ideal,
das einst Dr. Johnson für die dichterische Herstellung kühner Bilder
und kühner Bildverknüpfungen forderte: das Ergebnis, so seine
Forderung, müsse "at once natural and new" erscheinen. Das lässt
sich behaupten für Loseys Auflösung eines Gesprächs der
Professoren in der Bibliothek. Er beginnt mit einem Master Shot eine Treppe
hinunter auf die kaum identifizierbaren, mehr oder weniger im Kreis sitzenden
Personen, es folgen reihum Großaufnahmen von Gesichtern, talking heads,
die Anzügliches aus der Zeitung vorlesen, Professoren, unter sich,
mit einer so ausgetüftelten wie lässigen Handbewegung eines
großen Regisseurs charakterisiert, ein für alle mal.
Die inszenatorischen Bravourstücke dieses Films sind sonder Zahl
- ein in Dialog wie Schnitt wie Schauspielerführung hinreißend
choreografiertes Picknick, ein Bootsausflug mit synkopierten Bildern
(überhaupt: die Synkope als Betonungsverschiebung wäre eine der
Metaphern, die Loseys Verfahren annäherungsweise beschreiben könnten),
eine nächtliche Begegnung auf der Treppe, ein im radikalen Achsensprung
geschnittener Dialog, ein Tennismatch. Ganz, und doch nicht ganz, aus dem
Rahmen fällt eine Begegnung des Helden mit einer lange nicht gesehenen
Geliebten: Ton und Bild sind asynchron, eine Radikalisierung des Verfahrens,
das hier überzeichnend ausgestellt wird und dennoch, gerade in der formalen
Loslösung vom Rest, den Bezug dazu wahrt. Keineswegs ist es hier wie
in den anderen szenischen Teil-Schließungen so, dass diese Stücke
in sich aufgingen oder gar nichts anderes wären als raffinierte
Bebilderungen der Dialoge. Das eine und das andere stehen vielmehr in komplexen
Kommentierungs- und Brechungsverhältnissen zueinander, es gibt keinen
Schlüssel, der einem den Weg zu eindeutigen Deutungen öffnen
würde. Eher geht es um das Ins-Spiel-Bringen der unterschiedlichsten
Aspekte, die den Grundkonflikt, der selbst geprägt bleibt von
Verdrängung, Verschiebung, Sublimation, Verschweigen des
Begehrens, aus allen topischen Entwicklungsmöglichkeiten reißen,
oder wenigstens einige Schritte wegführen von der Szene seines offenen
Ausbruchs: in solchen Momenten des Herausgelöstseins aus dem Ganzen
werden einzelne Beziehungen umgewendet, gegen das Licht gehalten, durchgespielt.
Und so virtuos das ist, so wenig verliert es sich selbstverliebt in sich
selbst; ein Film, der an allen Stellen glitzert und funkelt, ohne dass man
der Brillanz je müde würde: sie ist so neu und natürlich zugleich,
so ernst und verspielt, so formbewusst und dennoch von den Figuren fasziniert;
Accident ist ein Film wie kein anderer.
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