Neorealismus, allegorisch. Ein Roadmovie, Nachkriegsjapan. Bewegung
und Stillstand.
Shimizu ist berühmt für seine Kamerabewegungen. Hier aber
ist das nur die halbe Wahrheit, die andere Hälfte ist die Komposition
seiner statischen Bilder. Er staffelt den Raum, er räumt das Geschehen
in den Hintergrund. Im Vordergrund Hosen auf einer Leine. Im Vordergrund
Rohre. Kinder im Stillstand, Kinder in Bewegung. Am Ende die riesige Schar,
die die Neuankömmlinge in Empfang nimmt. Am Anfang die Bettelkinder,
die, eines nach dem anderen, sich dem Soldaten nähern. Die Bewegung
selbst, mit unbewegter Kamera, auf der Ladefläche eines fahrenden
Pickup-Truck. Die Kamera, die auf der Ladefläche steht, bewegt sich
mit der Fahrt, mit der Straße, wird so, in der unbewegten Bewegung,
eins mit den Kindern, dem Soldaten, der Fahrt. Ein Bewegungsbild.
Die narrative Konstruktion ist von großer Einfachheit. Eine
Kinderschar, die erst bettelnd einem einbeinigen Mann zuarbeitet, dann zu
dem aus dem Krieg zurückgekehrten, Arbeit suchenden Soldaten
überläuft. Der einbeinige Mann, eine Frau, auch sie allein, der
Soldat, die Kinder, unterwegs im kriegszerstörten Japan. Sie ziehen
über die Straßen, sie wissen nicht wohin. Ein Junge, Toshibo,
fährt mit der Frau davon, übers Meer, auf eine Insel, er hat sich
davongestohlen, sie werden nie da ankommen, wo sie hinwollen. Die anderen
Kinder sehen ihm nach, er liebt das Meer und wenn er es sieht, ruft er, immer
wieder, die Hände als Trichter vor den Mund gelegt: "Mutter". Seine
Mutter, erklärt einer, ist auf dem Meer umgekommen.
Die anderen Kinder ziehen weiter - und Toshibo wird zu ihnen
zurückkehren -, sie unterbrechen die Reise und auf diese Momente der
Unterbrechung lässt der Film sich ein wie auf die Reise. Er suspendiert
für diese Momente die Suche und noch ihre Ziellosigkeit. Er inszeniert
ein ganz und gar vorläufiges Angekommensein. Es werden Bäume
gefällt und die Kamera fällt mit den Bäumen. Nein, das stimmt
nicht ganz: Sie verwandelt sich, neugierig, zärtlich, der Bewegung der
fallenden Bäume an. Nicht Mimesis, sondern Lust an dieser Bewegung im
Wissen darum, dass die eigene Bewegung eine andere ist. Es geht nicht um
die Konstruktion eines Effekts im Schnitt (man denke an Riefenstahls
Turmspringer), sondern um eine, mit Barthes gesprochen, Lust am Text, der
das Bild ist. Das Bild mit erhabener Langsamkeit fallender, sich im Fallen
beinahe schüttelnder Bäume. Es wird dies gezeigt, als sollte es
niemals aufhören.
Es geht, auf der in aller Unaufdringlichkeit vorhandenen allegorischen
Ebene, um die Suche nach einem Vater, nach einer Mutter. Der böse Vater,
der einbeinige, der später als Zuhälter arbeiten wird, mit
künstlichem Bein, wird die Mutter, die wir auf die Insel fahren sahen,
die wir wieder auftauchen sahen, die wir wieder Abschied nahmen sahen in
einer atemberaubenden Szene, zur Prostituierten machen und der gute Vater,
der Soldat, der die Kinder in seine Obhut nimmt, wird sie befreien. Er wird
geschlagen werden und die Kamera zeigt es die Treppen hinab, das Geschehen
nur knapp unterm Vorsprung eines die Leinwand nach oben verdeckenden Dachs
noch sichtbar. Dann geraten beide, der gute und der böse Vater, aneinander,
außerhalb des Bildes. Die Kamera verharrt, das Dach verdeckt den Blick,
unten vor der Treppe die Kinder, die sehen, was wir nicht sehen, in einer
Gruppenbewegung nach vorne, dann wieder zurück. Dann, nach einer kurzen
Weile: Der Soldat kehrt zurück ins Bild, er hat gewonnen, er hat den
bösen Vater besiegt. Erst jetzt der Schnitt, wieder eines der gestaffelt
komponierten Bilder, der Zuhälter am Boden liegend, das künstliche
Bein im Bildmittelgrund, abgetrennt, er klopft sich die Kleider aus, sprachlos,
am Boden.
Inszenierung einer Wiederbegegnung, eines Abschieds. Aus dem Nichts,
unvermutet, im verwüsteten Hiroshima, tauchen sie wieder auf, die Frau
und der Junge Toshibo. Sie will nach Tokio, sie will nicht mit dem Soldaten
und den Kindern weiterziehen, Toshibo soll Abschied nehmen. Die Kamera ist
an einer Treppe postiert, Blick nach unten auf Toshibo, den der Soldat
zurückführen will zu den anderen, Blick nach oben erst ins Nichts,
in den Himmel, trümmergesäumt. Dann taucht sie auf in diesem Blick,
der in einem Scharnier liegt, weder der seine noch der ihre ganz ist, beider
Blick aber doch, ein Nicht-Abschied-Nehmen-Können, er eilt zurück
nach oben, sie zieht sich zurück. Sie wird hinter den Trümmern
verschwunden sein, erst wenn der Junge wieder weg ist, taucht sie auf, das
zeigt die Kamera noch. Diese Trennung, in aller Einfachheit über die
Bande der Kamera gespielt, dauert einige Minuten. Bewegung im Stillstand.
Eine Großaufnahme des Gesichts der Frau. Sie sind selten, die
Großaufnahmen, aber stets gerade richtig.
Toshibos Tod. Eine vielleicht zehnminütige Sequenz, für
die das Kino erfunden wurde, nicht weniger. Eine Aushandlung zu Beginn zwischen
Toshibo, der krank ist und einem anderen Jungen, der die warme Ziegenmilch
trinken müsste, die für den Kranken bestimmt ist. Trag mich nach
oben, auf die Spitze des Berges, ich möchte das Meer sehen, sagt Toshibo,
und du kannst meine Milch trinken. Das ist der Deal. Der andere Junge packt
sich Toshibo auf den Rücken und trägt ihn nach oben. Die Kamera
stets in Bewegung, in gegen die Bewegung des Jungen verschobener Bewegung,
folgt, mal von der Seite, mal von oben, mal aus der Halbdistanz, mal in
Großaufnahmen, den Jungen. In Blicken aus größerer Ferne
kommt die wellige Berglandschaft in den Blick, dann wieder nur der Junge
und sein Kampf gegen den Abhang, den er hinaufwill, weiter und immer weiter.
Er rutscht zurück, Toshibo als Last auf dem Rücken, und macht doch
weiter. In der Dauer liegt eine Gnadenlosigkeit, denn die Anstrengung ist,
oder wird, ungeheuer. Zugleich aber betont die Dauer dieser Bewegung die
Entschlossenheit des Jungen, der Toshibo trägt und die über den
geschlossenen Handel bald hinausgeht. Er wird nicht aufgeben. Auch seine
Geschichte, es ist die einer Wandlung, wird erzählt. Als er dann auf
dem Gipfel angekommen ist, das Meer ist in der Ferne zu sehen in strahlender
Schönheit, wird es vergeblich gewesen sein: Toshibo ist tot. Er hat
das Meer nicht mehr gesehen. Und doch nicht vergeblich, denn darunter liegt
die Geschichte einer Erlösung, genau in dem Überschuss, den die
Dauer zeigt, die Anstrengung, die Entschlossenheit, einer Erlösung aus
den Banden des Kleinlichen.
Einer Erlösung, die in einem optimistischen Bild enden wird.
Die verlorenen Kinder werden vom guten Vater zurückgeführt zur
großen Gruppe der Kinder, sie werden aufgenommen, in der Gruppe
verschmelzen. Sie sind zuhause, angekommen in der nach aller Zerstörung
zu Hoffnung Anlass gebenden Zukunft Japans. Ein allegorisches Ende. Das Wunder:
Es ist nichts falsch daran.
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