Das Kino-Auge rückt in die Subjekt-Position. Schon in der
Grammatik der Zwischentafeltexte, in denen es immer wieder heißt: Kino-Glaz
zeigt..., Kino-Glaz erklärt .... Das Auge ist - die Metapher aufs Organische
täuscht - keineswegs nur der dokumentarische Blick der Kamera, sondern
es ist die Montage, der Umgang mit verschiedenen Kasch-Formen und der Einsatz
besonderer Effekte zugleich. Das Auge nimmt auf, was vor der Kamera ist,
und es gestaltet es um, nach Belieben. Am auffälligsten hier: Das
Rückwärts-Laufen-Lassen des Films. Vom Hamburger folgt so das Kino-Auge
der Produktion zurück bis aufs Feld. Fraglos eines der Faszinosa der
neuen Technik, diese Möglichkeit zur Umkehrung des Ablaufs, von Meliès
bis zu den ungezählten Amateurfilmchen, die sich an diesem ersten aller
Spezialeffekte des Mediums, dem, um den Begriff aus der Musik zu leihen,
Krebs der Bilder ergötzten.
Vertov reizt gewiss der Anti-Naturalismus und darüber hinaus
der Verweis aufs Hergestellte des scheinbar unvordenklichen Endprodukts.
Im Hamburger steckt die Arbeit von Händen ebenso wie das Fleisch: dies
macht die Umkehr sichtbar. Aber natürlich hat das Kino-Auge auch seine
kindliche Freude an der Wiederbelebung des Toten: der Ochse erhält seine
Haut zurück und rappelt sich, ausgeweidet und mausetot, wie er soeben
noch war, zurück ins Leben. Die schiere Lust am Schauen verbindet sich
mit der faszinierten Einsicht in die Zerlegbarkeit der Ablaufslinearität
in den Bildern vom Turmspringen, die Riefenstahl zu antizipieren scheinen.
Nur dass Riefenstahl auf Naturalisierungen aus ist (die ihr ideologisch bis
heute Schönheit heißen); Vertov will das Gegenteil.
Erstaunlich auch, welche Rolle die Schrift spielt im vermeintlichen
Bildermedium. Das Kino-Auge zeigt eine deutliche Affinität zu den
Anschlägen, Plakaten, auch Zwischentafeln - das Streben der Kunstform
Stummfilm nach der reinen Bilderfolge ohne Text macht Vertov nicht mit. Er
betrachtet das Kino als eine Kunst des Heterogenen. So geht das, was man
sieht, in Affirmation des Sowjetischen nicht auf. Er zeigt die jungen Pioniere
in Reih und Glied, und verfällt den Reizen des Mediums in einer jedenfalls
nicht unmittelbar zu entschlüsselnden Überblendung mit dem gestauten
Wasser. Alle Didaxe wird von der Verfremdung eingeholt. Das Kino-Auge ist,
könnte man sagen, in zwei Richtungen offen: voller Neugier auf die
Wirklichkeit (es gibt nicht nur die jungen Pioniere, sondern auch das Elend
der Städte) und unbändig in seiner Lust an den Möglichkeiten
zur Desillusionierung. Das Kino-Auge zeigt eine belebte Verkehrsstraße
einmal von oben, aus "natürlicher" Perspektive. Die nächste Einstellung
wählt, wie es kommentierend heißt, einen anderen Winkel. Wohl
wahr: die Kamera ist um 45 Grad gedreht. Hier dokumentiert die Kamera nicht
mehr die Wirklichkeit, sondern sich selbst, ihr Wirken. Sie ist nicht - wie
in "Der Mann mit der Kamera" - im Bild zu sehen. Eingetragen aber wird sie
als sein blinder Fleck.
zur Jump Cut Startseite |