Rezensionen: Honoré de Balzac: Die menschliche Komödie

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Das Balzac-Projekt

Der Versuch, den Mount Everest der Literatur des 19. Jahrhunderts zu bezwingen.

DAS BALZAC-PROJEKT

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Der 1. Band

(zum zweiten Band)

(zum dritten Band)

(zum fünften Band)

Das Haus zum ballspielenden Kater

(21.5.2001)

Die Novelle eröffnet mit einem langen Blick auf das Haus „Zum ballspielenden Kater". Verkauft wird hier Tuch, sehr erfolgreich im übrigen, vom zugleich strengen Familienvater Guillaume. Der Blick aber gilt weder dem Handel noch dem Kater-Gemälde an der Hauswand. Vielmehr wiederholt der Blick einen bereits statt gehabten und zu famoser Genre-Kunst gewordenen: wer da blickt, ist der Maler Theodore de Sommerville, und sein Blick fällt auf die jüngere Tochter des Hauses Augustine. Es geht um Liebe, und rasch, nach ein paar heimlich getauschten Briefbotschaften, auf beiden Seiten.

Es geht aber auch, der Erzählung, um Ökonomie. Der auf ausgeglichene Bilanzen, vielmehr: vernünftigen Profit gerichteten Ökonomie des ganzen Hauses, in dem mit Strenge, aber noch diesseits der Tyrannei, auch für Kinder und Gesinde gesorgt wird, steht eine doppelte Ökonomie der Verschwendung gegenüber. Die einer Liebe, die Leidenschaft, nicht bloßes Miteinanderauskommen des Ehestandes im Sinn hat, verstärkt noch durch den verschwenderischen Reichtum des Glückskinds des Schicksals Theodore de Sommerville. Der Maler gewinnt, und er hat dabei überraschend leichtes Spiel, Augustine, gegen alle Regeln des Guillaumeschen Haushalts, zur Frau.

Was folgt, sind zwei Jahre großer Leidenschaft zwischen Theodore und Augustine, ein Glück, das nur dieser Ökonomie der Verschwendung bekannt ist. Freilich ist es befristet. Es folgt der Ehealltag, die Schwangerschaft und es verschwindet: Theodore. In die Gesellschaft, in seinen Erfolg, in die Arme anderer, glamouröserer Frauen. Augustine will sich bilden, aber es fruchtet nichts, kann es nicht, ihr Geist, darauf insistiert Balzac, ist dem ihres Mannes nicht gewachsen. Das Prosaische ihres Wesens kann sich, im besten Falle, zu Verständnis aufschwingen, nicht zu eigenem Witz.

Einen verzweifelten Versuch der Rückgewinnung unternimmt Augustine, fleht die mit allen Wassern der Gesellschaft gewaschene Geliebte ihres Mannes, die Gräfin Cariogli an, ihr Theodore zurückzuerstatten. Stattdessen erhält sie: das Porträt, ihr Porträt, das am Anfang der Geschichte stand. Sie hängt es über das gemeinsame Bett, Theodore tobt, zerfetzt sein eigenes Meisterwerk, Augustine resigniert. Mehr gibt es dann nicht zu erzählen, einen Epilog auf dem Friedhof nur, nüchtern wird mitgeteilt, dass Augustine bald darauf gestorben ist.

Der Ball zu Sceaux

(23.5.2001)

Der Ball zu Sceaux ist eine Institution, ein wöchentlich stattfindender Ball in der Provinz. Die Landbevölkerung trifft hier zusammen, aber auch eine Menge Pariser, aber sozusagen inkognito und außerhalb der klaren sozialen Zusammenhänge der Stadt. Wer hier wer ist, steht nicht von vornerherein fest, Klassenschranken erweisen sich als mentale Vorbehalte, da die Zuordnung von nominellem Adel und Weltläufigkeit nicht mehr funktioniert.

Genau das wird Emilie de Fontaine zum Verhängnis. Balzac setzt ein mit einer Vorgeschichte, die das nachnapoleonische Werben des Vaters um die Gunst des Königs erzählt, das zuletzt erfolgreich ist. Dann schwenkt der Fokus sanft, aber entschieden auf die jüngste der Fontaine-Töchter, Emilie, die verheiratet werden soll, der zuliebe der Vater ein Gattenschaufestessen nach dem anderen veranstaltet. Die verwöhnte und hochmütige Emilie aber hat sich einen Idealmann zusammengeträumt, der nicht nur schön, sondern auch Pair von Frankreich sein soll. Von diesem Traum rückt sie nicht ab, bis es der Vater aufgibt.

Dann aber, fern von Paris, fern von dessen geklärten sozialen Verhältnissen, begegnet sie beim Aufenthalt auf dem Lande einem rätselhaften jungen Mann. Sie kann nicht anders, als sich zu verlieben, er erwidert die Gefühle, nur zur Aussprache kommt es lange nicht. Eine Frage treibt Emilie, versteht sich, die ganze Zeit um, und in einem meisterhaft bösartigen Dialog stellt sie sie endlich: „Sind Sie von Adel?". Das Objekt ihrer Liebes- und Aufstiegsbegierde, ein gewisser Longueville (aber, so erfährt sie, das alte Geschlecht der de Longuevilles ist im 18. Jahrhundert ausgestorben), schenkt ihr keinen reinen Wein ein und sie träumt weiter.

Bis sie in Paris einen Schneiderladen besucht - und hinter dem Tisch steht Longueville. Die Schmach ist groß, von nun an wird der Unwürdige ignoriert. Dieser Anblick Longuevilles als Bürgerlichem lässt sich nicht vergessen, so entsetzlich das Leid auch ist, auf beiden Seiten. Emilie heiratet, aus Trotz, einen siebzigjährigen Onkel - um dann die ironische Wendung der Geschichte hilflos mitzuerleben. Nicht nur erwirbt sich Maximilien Longueville - der noch in der Zurückweisung edel bleibt („Mademoiselle, niemand wird je heißer für ihr Glück beten als ich") - ein beträchtliches Vermögen, binnen kurzem erbt er auch den Pair-Titel.

Memoiren zweier Jungvermählter

(6.6.2001)

Die Memoiren zweier Jungvermählter sind ein faszinierender Zwitter: Briefroman einerseits und ein diskursiv orientierter Dialog andererseits. Das ganze hat von Beginn an eine - auch ausgesprochene - Tendenz zur Experimentalanordnung. Louise de Chaulieu und Renée de Maucombe haben sich im Kloster kennen- und schwesterlich lieben gelernt. Auch den Entschluss, das Kloster zu verlassen, fassen sie gemeinsam. Hinaus geht es in eine neue symblische Ordnung bisher unvertrauter Art. In gegenseitigen Briefen berichten sich die beiden nun von ihrer in entschiedene Alternativen aufgesplitterte „Doppelexistenz". Louise, im übrigen die Enkelin einer der berühmtesten Damen der Pariser Gesellschaft, die Tochter einer ebenfalls mit allen Wassern des sozialen Umgangs gewaschenen, in Schein-Ehe mit ihrem politisch erfolgreichen Mann lebende Dame, Louise also nähert sich, beobachtend erst, imitierend und in der Imitation bereits auf reflexive Distanz gehend, der semiotisch ausdifferenzierten Gesellschaft. Sie lernt sich selbst dabei ganz neu kennen: „Es hat mir unendliche Freude bereitet, meine Bekanntschaft zu machen". So vorbereitet macht sie bald Furore in den Kreisen, in die sie eingeführt wird. Ihre Distanz jedoch ist keineswegs Koketterie: unter all den jungen Männern, die Interesse an ihr bekunden, ist keiner, der ihr gefällt."Die Männer, meine Liebe", schreibt sie an Renée, "sind mir durchweg sehr häßlich vorgekommen."

Ganz anders entwickelt sich das Schicksal Renées. Nicht, dass ihr der Mann, den sie in abgeschiedener Ländlichkeit - Gesellschaft und Landschaft stehen sich programmatisch gegenüber - kennenlernt, Louis de l'Estorade, schön oder anziehend scheint, geheiratet werden will er doch. Es geschieht und es folgen lange philosophische Erörterungen Renées über die Rolle der Frau in der Ehe. Ihre Macht, die die Ehefrau nur ausübt, indem sie sie verbirgt, liegt darin, dass sie als Mutter den Haushalt zusammenhält. Mutterschaft ist also das Prinzip, nach dem Renée strebt, während Louise es nur auf eines abgesehen hat: die Liebe. Was sie in dieser Hinsicht aber - und zwar im Verlaufe des Romans gleich doppelt - versucht, ist ein Ausbruch aus der konventionellen Semantik von Liebe und Ehe. Erst heiratet sie einen hässlichen, aber geistreichen Mann, der sie als Sklave bewundert und vergöttert - und an dieser Vergötterung sterben wird (man erfährt keine Details). Die Vertauschung der Rollen ist komplett, da der Baron de Macumer als Opfer einer durchaus kolportagehaft in den Roman hineingenommenen politischen Intrige zugleich verfemt und von glanzvoller Herkunft ist. Die Liebe (soll heißen: Lust und Leidenschaft), die Louise sich und ihm hinter dem Rücken der zur Befriedung und Kinderaufzucht gedachten Institution Ehe gönnt, kontert Renée, der Fortgang des Experiments ist als Verschärfung des Grundgegensatzes angelegt, indem sie ein Kind nach dem anderen mit ihrem alles andere als leidenschaftlich geliebten, mit ihrer Unterstützung in der Welt aber zunehmend erfolgreichen Mann in die Welt setzt. Das Großziehen der Kinder absorbiert sie so sehr wie Louise die Liebe, die Briefe werden spärlicher.

Die politische Dimension der narrativ wie diskursiv hin- und hergewendeten Familienpolitik ist diese, dargestellt wird sie von Louises Vater, Legitimist und bald Gesandter des Königs in Spanien: „Indem sie Ludwig XVI. den Kopf abhieb, hat die Revolution allen Familenvätern den Kopf abgeschlagen Heutzutage gibt es keine Familien mehr, es gibt nur noch Individuen. Indem die Franzosen eine Nation werden wollten, haben sie darauf verzichtet ein Reich zu sein. Indem sie proklamierten, daß die Rechtsgleichheit über der väterlichen Erbfolge stehe, haben sie den Familiengeist getötet und den Fiskus geschaffen!" Balzac spielt das, in einem Privaten, das sich so als sehr politisch erweist, durch. Kompromisslos lässt er seine beiden Briefschreiberinnen immer noch einen Schritt weiter gehen: Louise heiratet erneut, diesmal aber besteht die Liebe in beiderseitiger Vergötterung, unterlaufen wird sie nur durch die Abhängigkeit und Eifersucht, die Louise in den Wahnsinn zu treiben droht. Wohin sie sie treibt, ist ein gesellschaftsferner Ort, ein abgeschiedener locus amoenus auf dem Lande. Eine Parallele zu Renée, aber das Negativbild. Man widmet sich nicht der Familie und den Kindern, sondern nur der Lust, dem geistreichen Gespräch, der Liebe, der Natur, die als ständige Quelle der Erneuerung und der Projektion dieser Liebe fungiert. „In Paris würd eeine solche Liebe zwischen Ehegatten als eine Beldeidigung der Gesellschaft wirken; wir müssen uns ihr, wie Liebespaare, in der Waldestiefe hingeben". Zur Mutter aber wird Louise nicht. Den Todesstoß für dieses Idyll bedeutet dann aber - wie anders - der nicht wirklich tilgbare Kontakt zur Gesellschaft, die hier in Gestalt einer verwandtschaftlichen Verpflichtung Marie Gaston, Louises Mann, nach Paris ruft. Dieser ganz unschuldige Widerstand gegen den totalen Anspruch der auf leere und absolute Liebe zurückgezogenen Frau tötet Louise. Renée sitzt an ihrem Sterbebett, unproblematisch aber ist auch ihr Gegenentwurf nicht: als Mutter mit Haut und Haar entreißt sie der Gesellschaft die Sorge über die Kinder, behält sie bei sich zu Hause. Jedoch „die Gesellschaft ist eifersüchtig wie die Natur und läßt nie einen Verstoß gegen ihre Gesetze zu. (...) Daher sind in Familien, die ihre Kinder bei sich behalten, diese zu früh dem Feuer der Welt ausgesetzt, sie sehen deren Leidenschaften, sie gewahren deren Verstellungskünste." Eine wahrhaft paradoxe Situation: nur die Gesellschaft selbst kann einen die Welterkenntnis aufschiebenden Schutzraum zur Verfügung stellen, einen Brutkasten, der die Kinder der Familie entreißt, um sie dann zu wohl sozialisierten Gliedern der Gesellschaft zu machen. Renée, ganz die aus Schrecken über die Leere ihres sonstigen Daseins überprotektive Mutter, skizziert den Lebensweg ihrer Kinder, ihr erstes und ihr letztes Wort aber (es sind die letzten Worte des Romans) ist das einer verzweifelten Abhängigkeit: „Oh, ich will meine Kinder sehen! Meine Kinder! Bring mir meine Kinder her!"

Die Börse

(16.6.2001)

In „Die Börse" geht es um Probleme psychologischer Lektüre-Schwierigkeiten zwischen Liebenden, die im Grunde soziale sind. Die emblematische Anordnung lässt bereits darauf schließen: im obersten Stockwerk eines Pariser Hauses lebt und arbeitet der viel gepriesene und auch ausgezeichnete Maler Hippolyte Schinner. Den Kontakt zu seinen Nachbarn in der Wohnung unter ihm stellt er über einen Fall her. Beim Malen nämlich stürzt er von einer Stehleiter, und zwar aus dem Grunde einer „Traumentrückung", wie sie den Künstler mitunter in der Dämmerung überfällt, einer Entrückung, die aber auch sein eigentlicher Ort, nämlich das „Reich der Phantasie" ist. Als er erwacht, aus diesem Traum, der sich durch den Sturz in eine prosaische Bewusstlosigkeit verwandelt, ist immer noch alles sehr durcheinander und er erblickt „einen jener Köpfe, die oftmals als nichts denn eine Laune des Pinsels gelten". Mademoiselle Leseigneur jedoch ist die reine Wirklichkeit und, gemeinsam mit ihrer Mutter, herbeigeeilt, vom Sturz-Lärm erschreckt. Die Liebe, die sich zwischen den beiden, Maler und sozial ziemlich depravierte Schönheit, entwickelt, ist ein Ding der Selbstverständlichkeit - aber, aus eben den erwähnten sozial-psychologischen Gründen, nicht gegen Irritationen gefeit. Womit, zum Beispiel, fragt sich Schinner, der bald jeden Abend bei den beiden Damen zu Gast ist, verdienen sie eigentlich ihren Lebensunterhalt? Etwa mit dem Kartenspiel, so der böse Verdacht, denn gespielt wird mit zwei eigentümlichen alten Herren (deren Beschreibung im übrigen schon die Lektüre der Erzählung wert ist), die gleichfalls sehr häufig zu Besuch sind. Die Saat dieses Zweifels geht auf, als eines Abends Schinner die Börse am Spieltisch abhanden kommt. Die Liebe ist nun, für diesen Moment, nicht mehr stark genug, eine Brücke über die gesellschaftliche Kluft zu schlagen, der Verdacht nagt an der Liebe und es vergeht eine Woche, in der alles auf Messers Schneide steht. Am Ende aber war alles ein Irrtum: die Börse war entwendet, um - in Erfüllung einer Ökonomie, die sich das großzügige Geschenk des Bessergestellten nicht erlauben will - eine listige Bezahlung für ein Bild des Malers in Gestalt von Perlenbestickung leisten zu können. Es kommt, nach dieser Prüfung, zur sofortigen Verlobung.

Modeste Mignon

(2.9.2001)

Der Roman beginnt mit einer Falle, in medias res, deren Objekt die Heldin der Geschichte ist: Modeste Mignon. Ihre blinde Mutter hat den Verdacht, dass Modeste einen Liebhaber hat. Und das darf nicht sein. Ein schwerer Schicksalsdoppelschlag der Vergangenheit steht dem Liebesglück im Wege. Der plötzliche Ruin des Vaters nämlich hat nicht nur diesen auf kaufmännische Abenteuerreise rund um die Weltmeere verschlagen, er hat auch Modestes Schwester Bettina-Caroline getötet, deren Verlobter, wie sich bei der schlagartigen Verarmung der Familie herausstellt, das Geld wollte und nicht die Frau, die er nun schnöde verlässt. Caroline stirbt an gebrochenem Herzen, am vergangenen Schein einer Liebe, deren Sein die Lust am Mammon war.

Modeste also darf ihr Heil nicht durch eine heimliche Liebe gefährden - und doch ist sie durch ihre Schwester bereits mit der Liebe zur Liebe infiziert. In die Falle jedoch tappt sie nicht, ja, sie streitet eisern ab, dass Grund für Verdacht besteht. Dass sie dabei ein wenig sophistisch vorgeht, das erfahren wir im Fortgang. Balzac präsentiert Modeste als Vorläuferin von Madame Bovary, die optimistische Variante jedoch, die früh genug zu träumen angefangen hat. Sie ist, ganz rettungslos, der Literatur verfallen, den deutschen, französischen, englischen Romanen, Balzac zählt, von Lord Byron bis zur Neuen Heloise alles auf, was Rang und Namen und schlechten Einfluss hat. Im Inneren ist Modeste entflammt fürs Geniale, die Werke, mehr noch aber, scheint es, ihre Autoren. Anmerken lässt sie sich jedoch, nach außen hin nichts, sie fasst nur einen kühnen Plan: sie wird sich einen Dichter gewinnen. Canalis in Paris ist das Objekt der Begierde, ein eitler Karrierist, wie Balzac sich beeilt mitzuteilen, aber er bekommt einen pseudonym unterzeichneten, um Liebe werbenden Brief.

Das Schicksal will, dass zwar Canalis keineswegs gerührt ist, sehr jedoch sein Sekretär Ernest de La Brière, der nun im Namen seines Herrn einen Briefwechsel anknüpft. Hinters Licht geführt wird Modeste so von den unterschobenen Äußerlichkeiten, die Worte und die Gefühle jedoch sind echter, als die eines Canalis je sein könnten. Der Briefwechsel ist lang und eindrucksvoll, es kommt, was kommen muss: die Begegnung im richtigen Leben. Dann aber komplizieren sich die Dinge unversehens: Modestes Vater kehrt mit viel Geld zurück aus Indien, macht Modeste mit einem Schlag zur viel begehrten Ehefrau. Das Interesse von Canalis ist geweckt und nicht nur seines: der Herzog von Herouville wirbt ebenfalls um Modestes Hand. Mit de La Brière sind's also drei - nur der scheint, als der Schwindel auffliegt, aus dem Rennen.

Mit Gusto inszeniert Balzac nun diesen Dreikampf an Ort und Stelle des Mignonschen Hauses als Kalten Krieg um Sein und Schein. Die düpierte Modeste verachtet Brière, lässt sich vom geistvollen Canalis verführen, spielt den Herzog gegen die anderen aus. Gegen einander stehen Adel, Karriereaussichten, geistreiches Geplauder und das Nichts, das la Brière einer wie von einer kalten Dusche ernüchterten Modeste zu bieten hat: seine aufrichtigen Gefühle. Es ist ein bisschen wie bei der Shakespearschen Kästchenwahl, nur dass man Modestes nicht ganz sicher sein kann. Balzac selbst macht aus seinen Vorlieben keinen Hehl, schießt eine Spitze nach der anderen gegen Canalis, erspart aber auch seiner Modeste (und damit dem um sie bangenden Leser) nicht die eine oder andere Torheit. Das Hin und Her, das Spiel um Sympathien, das Gewoge versteckter Angriffe und unvermuteter Attacken geht über viele Seiten, und alles ist notwendig, die durch Lektüre  nur halbseitig gewitzte Modeste nun auch ans Leben zu gewöhnen. Sie erweist sich, zuletzt, dann doch als Naturbegabung und zieht, mit Hilfe freilich des ihr treu ergebenen Zwergs (und Gelegenheitsintriganten mit den allerbesten Absichten) Butscha, irgendwann die richtigen Schlüsse. Der Schauplatz des Showdowns ist dann, trefflicher Weise, eine Jagdgesellschaft: Modeste, deren idealistische Luftwurzeln doch noch ihre Verankerung im Sinn fürs rechte Maß von ideellen und materiellen Werten gefunden haben, erwählt den immer schon Richtigen, Canalis kommt gerade noch mit Amt, Würden und Liebhaberin davon und der Herzog wird finanziell generös unterstützt: ein Happy End von bei Balzac seltener Gründlichkeit, denn das Glück wird, so verspricht der Erzähler, von Dauer sein: "Kenner dürften dann feststellen, wie leicht und angenehm die Ehe mit einer gebildeten, geistvollen Frau zu ertragen ist."

Ein Lebensbeginn

(23.10.2001)

Sorgfältig bereitet Balzac die Szene seines Romans, der eine ausgeklügelte und an dem Beginn, von dem er vor allem erzählt, auch eine räumlich strikt umgrenzte Versuchsanordnung darstellt. Am Anfang gibt es seitenlange Informationen über das Transportsystem im allgemeinen, bald aber im besonderen Falle der Kutsche des ehrgeizigen Pierrotin, dem ein Weniges fehlt für die Anschaffung eines zweiten Fahrzeugs. Ins erste nun versammelt Balzac einen gewiss nicht repräsentativen, aber von sozialen Unterschieden geprägten Querschnitt durch die französische Gesellschaft. Zwei Maler, einen angehenden Notar, einen inkongnito reisenden Pair von Frankreich, einen Grundbesitzer. Alle haben mehr miteinander zu tun, als sie ahnen - sie wähnen sich jedoch in einem sozialen Freiraum, in dem (Balzac entwirft bei der Gelegenheit mit flinker Hand eine Nationalcharakteristik des Kutschfahrtverhaltens) sie ohne Folgen und Verpflichtungen das Blaue vom Himmel herunter lügen können.

Also geschieht es. Georges Marest erweist sich als talentiertester Hochstapler, erzählt von wilden Abenteuern rund um den Globus, von Harems und Schlachten, die er erobert und geschlagen haben will. Die Wirklichkeit sieht prosaischer aus, das Buch wird sie uns zeigen, aber nicht in der Kutsche. Den Fokus hat der Erzähler, der sich wie üblich mit Kommentaren, Anmerkungen, Erklärungen, genauesten Informationen über Einkommensverhältnisse, Zins, Zinseszins und Habgier, nicht zurückhält, gleich zu Beginn auf Oscar Husson gelegt, für den seine Mutter große Hoffnungen hat, zu denen er, wie wir erst erklärt bekommen und dann sehen, kaum berechtigt. In der Kutsche nun will Oscar dem Lügenbaron Marest nicht nachstehen und plaudert aus dem Nähkästchen seiner Mutter, die Näheres über Graf de Sérisy weiß. Oscar fingiert sich als dessen engsten Vertrauten, schildert dessen peinliche Hautprobleme, die Untreue seiner Gattin und manch anderes - ohne zu ahnen, was der Leser längst weiß: dass der Unbekannte an Bord kein anderer ist als der Graf selbst, unterwegs zu einer Strafexpedition gegen seinen Verwalter, der ihn hintergangen hat, der, zu allem Unglück, der einzige ist, der, aufgrund einer Geschichte um Oscars Mutter, die Balzac nur erwähnt, seine schützende Hand über Oscar halten könnte. Derart verwickelt sind die Verhältnisse, zu deren Auflockerung die beiden Maler mit ihren schrecklichen verballhornten Redewendungen nur bedingt beitragen, als man auf dem Gut des Grafen eintrifft. Oscar erlebt eine grauenhafte Demütigung, seine Mutter nimmt das stracks retournierte Häufchen Elend in Empfang.

Dies die erste Lektion, die Balzac seinem freilich nicht zum Helden geborenen, zu stupender Dummheit allemal fähigen Parzival erteilen lässt. Die zweite folgt. Ein letzter Gönner wird aufgetrieben, verschafft Oscar eine Stelle als vierter Schreiber bei einem Anwalt in Paris. Er kommt dort unter eine strenge Knute, bewährt sich jedoch im Rahmen des Möglichen. Balzac beschleunigt langsam das Tempo, gewährt kurze Einblicke in den Arbeitsalltag, die Kollegen, bewegt seine Erzählung aber ohne die in der Kutschen-Szene noch genüsslich gewählten Umwege auf das Desaster, das zur zweiten Lektion wird, zu. Es ist nicht mehr als ein feucht-fröhlicher Abend, an dem Oscar noch die Torheit besitzt, 500 Francs seines Arbeitgebers zu verspielen. Damit ist auch diese Zukunft mit einem Mal vernichtet. Balzac steigert das Tempo noch einmal enorm, das weitere Schicksal seines Helden berichtet er, als interessierte es ihn nicht mehr, summarisch. Dieser muss zum Militär, zeichnet sich aus, verliert einen Arm, wird, durch Zufälle, an denen der Erzähler sichtlich Freude hat, zum Protegé des Grafen Sérisy, der ihn einst zum Teufel gewünscht hatte. Oscar macht also seinen Weg, aber es ist, als habe die Erzählung mit der Hoffnung der Mutter auf eine glänzende Zukunft ihres Sohnes die Lust am Ausmalen der Details verloren. Oscar Husson ist, ganz ostentativ, ein uninteressanter Held. Einzig an seiner Tölpelhaftigkeit hat dieser Erzähler Anhalt für eine Geschichte gefunden. Es ist der Lebensbeginn, auf den er sich konzentriert, das, was aus dem verkorksten Anfang folgt, verblasst dagegen. Postuliert wird ein Reifeprozess, der die Hauptperson vollends zum Langweiler macht.

Eine ironische Pointe jedoch hat der Roman noch in petto. Die Kutschfahrer vom Beginn nämlich werden, für eine Bilanz, ein Resümee, das das, was aus dem geschilderten Lebensbeginn geworden ist, beinahe zynisch gegeneinander stellt, noch einmal, viele Jahre später, nun in der neuen Pierrotinschen Kutsche versammelt. Die gescheiterte Existenz ist Georges Marest, der Hochstapler von einst, der Einkommen, Stellung und gutes Aussehen verloren hat. Gut gegangen ist's für Pierrotin, den Kutsch-Unternehmer, dessen Firma prosperiert (die Eisenbahn droht seit Erzählbeginn am Horizont, aber noch hat sie seine Strecke nicht ersetzt), gut gegangen ist's auch für den Maler, der zu Ruhm und Ehre gelangt ist. Gleichfalls Glück gehabt hat der Betrüger von damals, Moreau, der durch Finanzspekulation zum Millionär geworden ist. Und Oscar? Es ist mehr aus ihm geworden, als man hoffen durfte, zum Schluss wirft ihm Balzac noch die Tochter Pierrotins an den Hals, womit fürs Auskommen gesorgt ist. Sein Glück, im bescheidenen Rahmen, ist gemacht. Jedoch sind noch die letzten Worte des Erzählers über seinen Helden scharfsichtig und, bei genauer Betrachtung, ohne jede Sympathie. Es spricht aus ihnen die Verachtung für ein ganzes Zeitalter: "Oscar ist ein freundlicher Durchschnittsmensch, ohne Ansprüche und bescheiden, und hält, wie seine Regierung, stets die goldene Mitte. Er erregt weder Neid noch Verachtung. Er ist, kurz gesagt, der moderne Bürger."

(zum zweiten Band)