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Rezensionen: Honoré de Balzac: Die menschliche Komödie |
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DAS BALZAC-PROJEKT________________________________________________________________
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Der 5. BandDie alte Jungfer(September 2009) Der Schauplatz, und das ist wichtig: Alencon, ein Ort, der hier für etwas Spezifisches steht - die tiefste Provinz. Und darum sind auch die Figuren, die Balzac hier auftreten lässt (oder, die Wahrheit zu sagen, vorführt), mehr als nur individuell einfach sie selbst. Sie sind, zugleich, wenn nicht zuerst, Vertreter von Provinzialität. Die Handlung, in die sie verwickelt sind, ist darum auch exemplarisch, Darstellung dessen, was durch Provinzialität noch einmal verschärfte und dadurch doch auch spezifische allgemein-menschliche Ausformungen der Dummheit anrichten können. Der Erzähler sagt, was er tut. Am Ende sagt er sogar noch, was er meint - wie nämlich die exemplarische Geschichte, die er erzählt hat, zu nehmen, zu deuten, auf Frankreich als Ganzes zu übertragen (und damit doch noch aus ihrer Spezifizität/Provinzialität zu retten ist; für die Leser). Das nämlich, was eine hier von ihrer Dummheit hat, hat ganz Frankreich davon - für das sie auf etwas merkwürdige Weise zu stehen kommt -, wenn es sich mit Revolutionen und den heimlich auch nach der Restauration auf deren Seiten stehenden Liberalen einlässt. Es bleibt dennoch und gerade in der so vorgegebenen Lesart ein Spannungsverhältnis zwischen dem Spezifischen und dem Exemplarischen; es bleibt, insgesamt, doch etwas in der Schwebe. Balzacs ganzer Hass, aus dem er keinen Hehl macht, gilt diesen Formen der Dummheit. Sie haben mit der Rückständigkeit, mit dem Backwater-Charakter von Alencon viel zu tun. Und doch spielen die großen politischen Verhältnisse, nach Art eines spät und verändert auch hier anbrandenden Impulses, immer hinein. Sie sind bekannt. Man hat eine Meinung, man verhält sich dazu. Und vielleicht steckt sogar auch eine These eben dazu mit drin, wie die große in die kleine Politik wirkt; vielleicht hebt sich genau dadurch vermittelt das Spannungsverhältnis als historische These (große Geschichte, in der Provinz als Farce wiederholt) doch auf. Klammer zu; weiter zur eigentlichen Erzählung. Was der Erzähler, mit einer Umständlichkeit, die auch der Direktheit eines Tuns eigen sein kann, tut: Er stellt seine Protagonisten vor, ihr Äußeres, ihr Inneres und die Häuser, in denen sie leben. Im Zentrum dieser Geschichte steckt, auch darin ist der kurze Roman sehr direkt, die Titelfigur: "Die alte Jungfer"ist zum Beginn der Erzählung gerade vierzig, heißt Mademoiselle Cormont und macht, zum eignen Bedauern, mit der der Titel seine Figur auszeichnet, alle Ehre. Für ihr Leben gern hätte sie Mann und Kind. Es gibt auch Bewerber, denn sie ist reich; einen von ihnen, den Steuereinnehmer und verkappten Liberalen du Bousquier hat sie freilich bereits abgewiesen. Einen jungen Mann, künstlerisch veranlagt, wie der Erzähler mehrfach versichert, todunglücklich in der Provinz, nimmt sie als Kandidaten - er ist aber auch aufs Äußerste verzagt - gar nicht erst zur Kenntnis. (Er stopft sich Steine in die Taschen und ertränkt sich im Flüsschen Brillante, das überall übrigens tatsächlich glänzt, nur in Alencon nicht, da ist es verschmutzt.) Als Dritter im Bunde der hoch angesehene Schmarotzer Chevalier de Valois, der, für die Verhältnisse der Provinz jedenfalls, beinahe etwas wie intellektuelles Niveau besitzt, aber nicht zuletzt deshalb am Ende den kürzeren zieht. Die Verwicklungen, die das für die alte Junger - die bis zuletzt eine bleibt - tragische Ende herbeiführen, beschränkt Balzac aufs Minimum. Ein peinlicher Irrtum, sie kippt um, ihre Brüste fließen, in Gegenwart du Bousquiers aus ihrem Korsett wie die Loire über ihre Ufer. Zu Vertuschungszwecken wird verzweifelt die Hochzeit verkündet: Und natürlich ehelicht Mademoiselle justament den einzig impotenten unter ihren Bewerbern. (Eine kleine Nebengeschichte wird dazu noch mitgeführt: du Bousquier ist so eitel, dass er, seiner Impotenz zum Trotz, eine Grisette des Orts geschwängert zu haben glaubt; mit beträchtlichen Nebenwirkungen für seinen Ruf. Ist der allerdings erst einmal glücklich ruiniert, wird er, nach erfolgter Geldheirat, umso ungenierter zum Schwein.) Die Katastrophe, die Balzac herbeiführt, ist von besonderer Perfidie: für die alte Jungfer wird die Ehe mit einem Mann, den sie nicht die Bohne interessiert, zum Schrecken ohne Ende. Und ohne Höhepunkt. Sie wirft sich auf den Glauben, ohne rechte Überzeugung. Der Chevalier, der sein Lebensglück knapp verpasste, lässt die Zügel schleifen. So geht das aus. Der Erzähler erklärt noch, wie es zu nehmen ist - siehe oben - und dann lässt er Alencon in seiner Trostlosigkeit zurück. Das Antiquitätenkabinett(September 2009) Und kehrt gleich wieder. Nähert sich von der anderen Seite. In "Die alte Jungfer" wurden die d'Esgrignons, das alte Adelsgeschlecht des Orts, nur am Rande erwähnt: als der Salon, zu dem die bürgerlichen Bewohner vergeblich Zutritt begehren. Nun aber tritt der Salon auf als, der Titel sagt's, "Antiquitätenkabinett". Aus anderer Zeit ragt, blind für die Gegenwart, gegen sie im Salon durchaus wütend, in ihr draußen sich duckend, diese Versammlung von anachronistischen Figuren weit ins 18. Jahrhundert hinein. Von einem, den die Verblendung ins Unglück stürzt, erzählt Balzac. Victurnien, Sprössling des Esgrignon-Geschlechts, verwöhnt von seinem Vater, dem Marquis, der nach der Revolution Grund und Vermögen verloren hat und doch mit dem Kopf in der Vergangenheit steckt wie über Wolken. Dann ist da noch Armande, die Tante, schön, entsagend, Ersatz für die Mutter, die im KInbett starb. Die beiden, der einstige Diener und nunmehr Notar Chesnel noch dazu, erziehen Victurnien im falschen, weil anachronistischen Bewusstsein einer Größe, der es an Vermögen wie Einfluss längst fehlt. Ein Roman über die Restauration also - und darüber, wie wenig sie Wiederherstellung früherer Verhältnisse ist. Und bei aller Sympathie für die Monarchie, bei aller entschiedenen Abneigung gegen republikanische Gedanken, hat für Balzac etwas anderes die höchste Prioriät: das Gegenwärtigsein, die Bewegung auf der Höhe der Zeit, der er, Vorurteile hin, Abneigungen her, doch vor allem zum Bewusstsein ihrer selbst verhelfen will. So zeigt er zwar für manches Verständnis, mit den Illusionen, wie sie in rückständigen Verhältnissen herrschen, kennt er jedoch (erst einmal) keine Gnade. Und jagt Victurnien ins Unglück. Nach Paris. Wo er - entschieden - über seine Verhältnisse lebt. Zwar paukt ihn Chesnel ein ums andere Mal raus, um den Preis des eigenen Ruins, und erscheint dabei als von Balzac nur sehr halbherzig dafür verurteilter Inbegriff einer geradezu hündischen Liebe und Loyalität zum einstigen Herrn, der den Kopf über den Wolken behalten soll. Sonst, fürchten die, die ihn kennen, bricht ihm der Sohn, genauer gesagt, der Skandal, den er mit seiner Verschwendungssucht auslöst, das Herz. Es bleibt, und da kennt Balzac dann doch Gnade, ungebrochen. Die Gegenwart duldet beim alten Marquis Aufschub. Die Verhältnisse, über die Victurnien zwei Jahre lang in Paris lebt, tragen einen Namen: Diane, Herzogin von Maufrigneuse. Die Schulden häufen sich, sehenden Auge lassen ihn die Freunde ins Unglück laufen. Und du Croisier tut, von Alencon aus, mehr als das: Er stellt eine Falle, in die Victurnien läuft. Die Grube, die dann um ein Haar das Unglück der Esgrignos wird, gräbt er sich dann vollends selbst. Er fälscht, verzweifelt, einen Brief du Croisiers und erhält so ein letztes Mal von dessen Bankier in Paris Geld. Du Croisier übrigens ist du Bousquier aus "Die alte Jungfer" (einstiger Steuereintreiber, jetzt verkappter Liberaler und impotenter Ehemann der Titelheldin des ersten Romans). Der Erzähler verschleiert den richtigen Namen, auch Alencon nennt er als Schauplatz der Provinz-Teile des Romans ausdrücklich nicht. (Einmal entschlüpft er ihm später doch.) Diese Fiktionalisierungen bleiben Geste, jedoch herrscht hier insgesamt ein anderer als der weitgehend satirische Ton in der "alten Jungfer", deren Schicksal nicht wirklich tragödienfähig ist. Noch nicht mal dramaturgische Knoten werden da lustvoll geschürzt. Hier ist das anders. Die Handlung jagt recht dramatisch auf den Zusammenbruch Victurniens zu. Und als er erreicht ist, als das Fieber, das alle Beteiligten ergreift und in Alencon zur Entscheidungsschlacht zusammenführt (auch Diane eilt, als Mann verkleidet, aus Paris herbei) - da bremst der Erzähler erst einmal scharf. Gibt eine recht ausführliche institutionenkundliche Erläuterung der Instanzen-Verhältnisse. Erklärt, wer welchen Ehrgeiz hat und darum an welch Stelle zu packen ist. Der Ausgang bleibt so seitenlang in der Schwebe. Oft ist Erzählen bei Balzac ein Verfahren wie vor Gericht. Hier ganz buchstäblich. Nichts geschieht, es wird nur Boden bereitet. Dann geht es aus. Schnell, und für Victurnien insgesamt recht günstig. Das wird ganz rasch zuende erzählt. Dafür interessiert sich Balzc kaum mehr. Das Hin und Her ist sein Ding, die Kompliziertheiten sind es, in die Gesellschaftliches, Politisches, Instanzen, Institutionen, Vorgeschichten und menschlicher Ehrgeiz und menschliche Niedertracht hineinspielen. Das Gesamt, könnte man auch sagen, das die menschliche Komödie ausmacht. Die beiden Dichter(September 2009) "Verlorene Illusionen" ist eine Trilogie, die das Schicksal eines recht kleinen Nucleus' von Protagonisten verfolgt und dabei ein weites Panorama der französischen Gesellschaft der zwanziger Jahre entfaltet. Im ersten Roman, "Die beiden Dichter", wird allem Weiteren der Boden bereitet. Der Ort ist Angoulême, Stadt im Südwesten - und selbst noch einmal in eine Ober- und Unterstadt geteilt. Das ist auch symbolisch zu nehmen. In der Oberstadt lebt, deklassiert zwar nach der Revolution, der Adel und ringt verzweifelt um Distinktion. In der Unterstadt leben einfache Bürger, Handwerker wie David Sechard, der die Druckerei seines über die Maßen geizigen Vaters übernimmt. (Soll heißen: abkaufen muss.) Und auch Lucien Chardon, der Apothekerssohn, der Talent hat zum Dichter und bei seinem Freund David in der Druckerei einen Brotjob hat. Lucien, dessen Mutter eine du Rubempré war - und damit Mitglied eines angesehenen Adelsgeschlechts, ist ein Mann, der nach oben will. Ad astra, in die Oberstadt, eins nach dem anderen, in den Olymp. Und er hat Glück. In Angoulême lebt eine Frau von Geist: Madame de Bargeton. Und sie leidet - am Ungeist der Provinz. Den stellt Balzac noch einmal in Skizzen vor Augen, aber den Rest kann man sich nach den vorangegangenen Romanen mehr als nur ungefähr denken. Für Madame de Bargeton ist der junge Dichter Lucien ein Glücksfund. Sie präsentiert ihn der besseren Gesellschaft. Wo er sogleich Eifersucht erregt (bei Monsier du Chatelet, einem Mitbewerber um Madames Gunst). Und wo zwar der Aufstieg nicht ausbleibt, die Bewunderung aber schon. Erstens versteht man eh nichts von den Künsten. Zweitens ist er ein Emporkömmling. Und drittens wird sowieso keiner neidlos bewundert. So bleibt das Verhältnis zwischen Lucien und Madame Bargeton prekär. Die Türen stehen offen, auf dass nicht nur nichts Unziemliches sich zuträgt; schon der Verdacht darf nicht entstehen, Madame gewährte dem jungen Mann - sie selbst geht auf die vierzig - zu viel. (Offene Türen, die eigentlich eine Möglichkeit verschließen: Dergleichen Paradoxien bringt Balzac mit Vorliebe heraus.) So bleibt Lucien, im Aufstieg begriffen, zwischen Tür und Angel. Und verliert auch da, wo er zuvor hingehörte, den Boden unter den Füßen. Er liebt David und er liebt Eve, seine Schwester (die wiederum David liebt), aber dass sich hier Bande lösen, wird schnell klar. Nichts überstürzt sich in diesem ersten Roman, dennoch ist alles prozessual, in hier noch langsamer Bewegung. (Im zweiten Teil gerät alles ins Rasen.) Bewegungen der Annäherung, der Ablösung. Aus den sozialen Verhältnissen, aus denen einer kommt, befreit ihn sogar die Fantasie des Dichters nicht einfach so. Auch David hat Ambitionen. Er war für die Jahre seiner Ausbildung in Paris. Auch er sucht Erfolg: als Erfinder. Ein neues, billiges Papier möchte er schaffen, das die Arbeit in der kümmerlichen Druckerei überflüssig macht. Geschäftssinn hat er nicht. Zu den überzeugendsten materialkundlich-materialistischen Einlassungen Balzacs gehören die Passagen zum Druckhandwerk in diesem Roman. Bestens kennt er sich, als früherer Druckereibesitzer, hier aus. Aber auch in der Gesamtkomposition macht dies geradezu allegorischen Sinn: Der erste Roman gibt das Material, der zweite schildert dann die Welt der Literatur und des Journalismus als die Sozialform, die dieses Material mit allem versetzt, was Menschen an Fantasie, Geist, Leidenschaften haben. Im Guten wie im Bösen. Ein großer Mann aus der Provinz in Paris(September 2009) Mit einem Duell, einem Beinahe-Skandal, dem nur durch die Flucht nach vorn zu begegnen ist, endet "Die beiden Dichter". Flucht nach vorn heißt: in einer Kutsche nach Paris. Liebesglück versprechen sich Lucien und Madame de Bargeton von diesem Aufbruch, diesem Übergang in eine andere Sphäre, in eine andere Welt. Es beginnt aber der Neuanfang, der darum keiner ist, damit, dass ihnen Chatelet auf die Schliche kommt. Er hat so den Ruf von Madame in der Hand. Er treibt einen Keil zwischen die beiden und ehe er es sich versieht, ist Lucien, allen Ausgaben zum Trotz, nicht ein gemachter, sondern ein von Madame verachteter, von der Gesellschaft verspotteter Mann. "Ein großer Mann aus der Provinz in Paris" ist ein Roman in einem anderen Aggreggatzustand als die meisten anderen Werke der "Menschlichen Komödie". In atemberaubendem Tempo schlägt das Schicksal hier Haken. Die Geschichte, Luciens Geschichte, nimmt in kürzester Zeit Wendungen, hierhin und dahin. Das Quecksilbrige dieser Bewegungen ist offenkundig Mimesis an die Stadt, an Paris, wo vielleicht nicht einmal andere Gesetze gelten als in der Provinz: aber sie gelten in unendlich verschärfter Weise. Jede falsche Bewegung - und das heißt hier: jede minimale Entscheidung - kann ins Glück führen oder Unglück. Und nichts davon muss endgültig sein. In diesem Sinn ist das Leben in der Gesellschaft, in den Milieus, die Balzac hier - auch und gerade in der Überzeichnung - so virtuos und unendlich kenntnisreich schildert, vor allem eines: reine, fließende, vorwärtstürzende, in jedem Moment von der Zukunft infizierte Geenwärtigkeit. Wiederum liegt in diesem Sachverhalt, der keineswegs reiner Schein ist, ein Paradox. Denn natürlich reicht in Form des schieren Kredits, den der Name gibt, auch die Vergangenheit in alles hinein: Als enorm erweisen sich die Barrieren für den Apothekerssohn Lucien Chardon. Die bessere Gesellschaft baut einen Schutzwall aus Vergangenheit um sich herum. Der lässt sich nicht einfach durchstoßen, man gelangt nur durch einen Assimilationsprozess durch diese Membran. Als überaus komplexes Milieu beschreibt Balzac das. Milieu ist ein soziologischer, aber auch ein biologischer und ein chemischer Begriff. Man wird Metaphern aus all diesen Bereichen benötigen, um die schnellen, aber um nichts weniger komplexen Prozesse zu beschreiben, in die Lucien hier gerät. Nun ist er der geradezu exemplarische Mann ohne Willen. Einer, der ehrgeizig ist, diese Eigenschaft aber nicht in Entschlossenheit, sondern nur in extreme Wendigkeit umzusetzen versteht. Er lernt schnell, er findet sich in neuen Milieus rasend schnell zurecht; daher sein großer Erfolg binnen kürzester Zeit. Weil er selbst aber so wendig ist, unterschätzt er doch immer wieder eines: die Beharrungskräfte der Milieus, die Arriviertheit derer, die vor ihm hinein gelangt sind; den Mangel an Biegbarkeit, den die Dinge, Institutionen und Menschen gegen äußeren Anschein besitzen. Für den "Kreis" der Künstler, Wissenschaftler, Politiker, an den Julien zunächst gerät - und in den er sich schnell findet - heißt das: Festigkeit, Ausdauer, Beharren auf eigenem Gesetz. Im Grund ist dieser "Kreis" eine Wilhelm-Meistersche Turmgesellschaft, beziehungsweise genau das, was unter den soziologischen Bedingungen der Moderne von einer so feudal-elitären Vorstellung bleibt: ein Kreis von kulturkonservativen, prinzipienfesten Außenseitern, die sich in Führungsvorstellungen hineinfantasieren. (Balzac sympathisiert an der Oberfläche mit ihnen. Andererseits reißt ihn das Mitreißende der vom "Kreis" abgelehnten Milieus doch immer wieder mit. Dies eben die Eigenbewegung dieses Romans, deren auch Balzac allen Willensbekundungen zum Trotz nicht Herr werden kann. Er fängt Feuer, wie Lucien. Er schreibt ein hinreißendes Theaterkritik-Feuilleton, für Lucien. Der Roman selbst ist viel Lucien-hafter als ihm recht sein kann. Und wenn er eines nachdrücklich vor Augen führt, dann das, dass man sich vom offiziellen Namen "Restauration" über den Zustand permanenter Revolution, den die Moderne hier erreicht, nicht täuschen lassen darf) All das, die Beweglichkeit der Milieus, das Fluide, die Wendigkeit, der rasche Wechsel, der Umsatz und Umlauf von Ideen, Meinungen, der rasende Umschlag von Zukunft in Vergangenheit - Paradoxie dieser Gegenwärtigkeit: für Gegenwart bleibt kaum Zeit -, all das kulminiert, natürlich, im Milieu, das Balzac ins Zentrum stellt: im Milieu des Journalismus. Er ist es, der alles in Umlauf bringt. Wahres, aber auch mit voller Absicht, als "Ente" auch Falsches. Die Tageszeitung findet, von Balzac mit Amoral identifiziert, hier ihr Gesetz: Morgen ist heute schon von gestern. Und eben das ist auch das Gesetz dieses sich überstürzenden Romans, der ein ganzes Leben in ein paar Monate packt. Rund ein Jahr wird Lucien in Paris gewesen sein, aber was sich hier als Gegenwart zusammendrängt, erleben andere, erlebt man in der Provinz, in Jahrzehnten nicht. (Was auch heißt: Paris ist selbst schon erzählförmig, kommt Balzac darin sehr entgegen. Die Provinz verweigert sich seinem Erzählen dagegen immer auch; verlangt ihm Gewaltstreiche, Überzeichnungen, Machinationen ab.) Mindestens drei Ökonomien fallen so - beinahe jedenfalls - bis zur Ununterscheidbarkeit zusamen: die Ökonomie des Ideenumlaufs (Ökonomie des Journalismus), die Ökonomie des Geldumlaufs (Ökonomie des Gewinns, Verlusts, Bankrotts, des Kredits, der Hoffnung) und die Ökonomie des Erzählens (die sozusagen die Identität der beiden Ökonomien nicht nur feststellt, sondern in eigener und als zeitgenössische Roman-Form nachvollzieht). Weil all das in "Ein großer Mann aus der Provinz in Paris" so vollendet zur Deckung kommt, weil die Balzac eigene Form des Erzählens sich hinter seinem Rücken mit der erklärtermaßen abgelehnten Gegenwart, ja Gegenwärtigkeit der von ihm bezeugten rasenden Moderne verbündet, ist dieser Roman nicht weniger als der Inbegriff dessen, was Balzacs Kunst überhaupt möglich ist. Die Leiden des Erfinders(September 2009) Im ersten Teil: Die Druckerpresse in Angouleme. Im zweiten Teil: Die Pariser Presse. Im dritten Teil: Das neue, billige Papier, das David Séchard zur exemplarischen Obsession eines Erfinders wird. Aber auch: Eine Anekdote, spät und aus heiterem Himmel von einem Mann, der manisch Papier verspeist - und Papiere. Geldwertes. Dokumente. So kommt "Verlorene Illusionen" als Trilogie des Papiers autophagisch zu sich: das Drucken, das Gedruckte, das Schreiben, das Lesen und das Verspeisen des auf Papier Geschriebenen und Gedruckten. Und so schließt sich auch der Kreis, an dem vielleicht einzig verwunderlich ist, dass Lucien am Ende eine Kutsche - aus heiterem Himmel, eigentlich sucht er gerade den Freitod - über den Weg fährt und ihn zurück in die Hauptstadt (und in Richtung "Glanz und Elend der Kurtisanen" entführt). Erst einmal aber flieht Lucien, schmählich. Im Triumph dagegen kehren Louise, nunmehr verheiratete du Chatelet und ihr Angetrauter, nunmehr Präfekt der Provinz, in eben diese zurück. Während Lucien und der Fortgang seiner Geschichte in Latenz bleiben - nicht, dass einer wie er jemals auf Dauer Ruhe gäbe - wird vom Niedergang des David Séchard erzählt. Selbst verschuldet ist der freilich einzig in dem Maß, indem David die Niedertracht, mit der ihm von Seiten des Kapitals, nämlich der Großdruckerei Cointet, nachgestellt wird. Kleines Panorama des Ehrgeizes, der Menschen zu Hyänen macht: Cérizet, der Angestellte, der als Verräter zum großen Geld überläuft. Und der Anwalt, der zwischen den Seiten laviert, seinen eigenen Vorteil immer im Blick. Gegen das Intrigieren, das Balzac in genauester Kenntnis der Finanz- und Bankpraktiken auf Francs und Sous präsentiert, stellt er das idealische Ehepaar David und Eve. Letzterer Schönheit wird mehr als einmal (zu oft) erwähnt. Des ersteren sturköpfiges Erfindertum wird durchaus als nobles Streben hingestellt. (Der Vater bleibt, als das Gegenteil verkörpernde Hintergrundfolie, als geradezu Molièrescher Typus des Geizhalses, präsent.) Und doch wird man auch und gerade hier, im Ausgang der Trilogie, den Eindruck nicht los, dass Lucien mit den Füßen scharrt in seiner Latenz. Kaum ruft ihn der Erzähler zurück auf die Bühne, veranstaltet er - wenngleich keineswegs Herr seiner Lage - wieder den üblichen Wirbel. Treibt Schwager und Schwester, nicht einmal ganz durch eigene Schuld, in Unglück bzw. Schuldgefängnis. Der Entschluss zum Freitod wird, versteht sich, nicht umgesetzt. Vielmehr steigt Lucien in die nächtbeste Kutsche. In der sitzt ein wahrer, als Abbé verkleideter Mephistopheles. Und während David und Eve zuletzt in ein keiner weiteren Erzählung würdiges Glück sich begeben, verspricht das Leben Luciens im Fortgang spannendstes Unheil. |