Rezensionen: Honoré de Balzac: Die menschliche Komödie

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Das Balzac-Projekt

Der Versuch, den Mount Everest der Literatur des 19. Jahrhunderts zu bezwingen.

DAS BALZAC-PROJEKT

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Der 2. Band

(zum ersten Band)

(zum dritten Band)

(zum fünften Band)

Albert Savarus

(11.12.2001)

Nach zwei Dritteln seiner Novelle etwa schreibt Balzac einen Satz, der nichts Gutes ahnen lässt für den Ausgang der Geschichte: "Obwohl dergleichen Charaktere Ausnahmeerscheinungen sind, gibt es leider viel zu viele Rosalien, und diese Geschicthe enthält eine Lehre, die ihnen als Beispiel dienen soll." Die Heldin, Rosalie, an der das Exempel statuiert wird, begehrt, weil sie sich dazu entschlossen hat, den jüngst in Besancon aufgetauchten, dort aber sogleich in mysteriöse Zurückgezogenheit sich begebenden Anwalt Albert Savaron. Rosalie Watteville ist sehr jung, kommt aus sehr guter Familie und soll anderweitig verheiratet werden. Sie ist kein bisschen weniger entschieden als Modeste Mignon, bei der das nach einigen strengen Lektionen ja noch gut ausgeht, freilich nicht die Unschuld in Person.

Schon die Vorgeschichte Savarons schildert Balzac mit einem Erzähl-Trick nicht ohne Bösartigkeit: eingeschoben in den Fortgang der vom Erzähler wie stets mit klaren Meinungen kommentierten Handlung wird eine Novelle, von  Savaron selbst geschrieben, in der er verdeckt seine Bindung an eine italienische Gräfin erzählt, die - noch - mit einem sehr viel älteren Mann verheiratet, nach dessen Tod aber ihm, Albert, versprochen ist. Für diese Novelle sucht Balzac, offensichtlich lustvoll, die Stil-Mimikry und platziert durchaus denunziatorisch das eine oder andere trivialliterarische Sprach-Klischee ("Ein leichtes Erbeben durchrann das majestätische Antlitz und den schönen Körper: die Seele reagierte zuckend!"). Nach Lektüre dieser Bekenntnisschrift ist Rosalies Gefühl und damit auch ihr Ehrgeiz vollends entflammt, sie lässt nun durch willige Dienstboten die Korrespondenz von Savaron mit der Gräfin entwenden (wir bekommen sie natürlich auch zu lesen) und scheut kein Mittel der Intrige, um zu ihrem Willen zu gelangen.

Savaron, der von Rosalies Existenz, schon gar ihren untergründigen Machenschaften nichts ahnt, möchte als Abgeordneter zu Ruhm und Geld und Einfluss gelangen, all das seiner Gräfin wegen. Er schmiedet daher Bündnisse mit verschiedenen Gruppierungen Besancons und alles ginge womöglich gut aus, für ihn, intrigierte Rosalie nicht auch hier. Für die Zerstörung von Albert Savarons Existenz sorgt jedoch ihre in der Ferne gezündete Bombe. Sie hatte, seine Handschrift nachahmend, an die ferne Verlobte geschrieben, Albert habe sie, Rosalie, geheiratet. Die Gräfin ist empört, heiratet nun selbst, da, man erfährt das nur sehr vage und im nachhinein, ihr Mann gestorben ist. Albert flieht Hals über Kopf aus Besancon und Rosalie steht alleine da, zieht sich auf ihre in einem Subplot mittlerweile ererbten Güter zurück. Albert landet im Kloster, ein bittereres Schicksal hat sich Balzac für ihn, scheint's, nicht ausmalen können. Rosalie wird, alle düsteren Ahnungen bestätigen sich im letzten Absatz, in paralleler Entwicklung vernichtet. "Durch einen der grausigen Zufälle, auf die der alte Abbé de Grancey hingewiesen hatte, befand sie sich auf jenem Loire-Dampfboot, dessen Kesel explodierte. Mademoiselle de Watteville wurde grausig zugerichtet; sie verlor den rechten Arm und das linke Bein; ihr Gesicht trägt schauerliche Narben, die ihr alle Schönheit rauben; ihre Gesundheit ihr schrecklichen Störungen unterworfen". Wen Balzac straft, den straft er gründlich: "Kurzum: heute verläßt sie die Kartause von Les Rouxey nicht mehr".

Die Vendetta

(9.1.2002)

Ungeheure vor-bürgerliche Affekte lässt Balzac mitten ins bürgerliche Zeitalter hineinragen. Napoleon, der auftritt, wird sehr passend zur Schwellenfigur: der Korse, der die Gesetze der korsischen Blutrache überwunden hat, der der in eine mörderische Vendetta verwickelten korsischen Familie Piomba, als diese in Paris auftaucht, doch Hilfe gewährt. Von da springt der Roman fünfzehn Jahre, Napoleons Herrschaft ist gerade vorbei, korsische Vor-Geschichten jedoch sind längst noch nicht vergessen.

Assimiliert, weltläufig ist Ginevra, die Tochter der Piombas, die bei einem der angesehensten Mal-Lehrer der Stadt ihre Stunden nimmt und sich als außerordentlich begabt erweist. Im Atelier trifft sie, am versteckten Ort, auf die Liebe; der Gegenstand ihrer Liebe ist ein politisch Verfemter (ein Anhänger Napoleons, was jetzt, 1815, gerade gar nicht opportun ist) der, wie sich zeigt, das denkbar verbotenste Objekt, der einzig Überlebende aus der von den Piombas hingemordeten Familie, Luigi Porta.

Die Piombas selbst sind - von den Portas - zur bürgerlichen Kernfamilie reduziert, in der erstaunliche Kräfte herrschen. Die Liebe zwischen Vater und Tochter, wie Balzac sie schildert, kennt kein Maß. Der Vater ist schon entsetzt darüber, dass sie überhaupt einen anderen als ihn lieben kann. Als Luigi kommt, um Ginevras Hand anzuhalten, erkennen sie, wer er ist: Ginevra, von ihrem Vater vor die Alternative gestellt, entscheidet sich gegen das korsische Gesetz, gegen den Vater, für die Liebe, für die zivilrechtliche Ehe, die nach der neuesten (durch Napoleon eingeführten) Sitte ohne Zustimmung des Vaters geschlossen werden kann.

Das Glück der beiden, die sich mit Kopisten-Jobs durchschlagen (sie kopiert Gemälde, er arbeitet als Kanzleischreiber), währt wenige Jahre, dann lässt das Schicksal, das deutlich Balzacs Handschrift trägt, sie nach und nach in bitterste Armut geraten. In ihren letzten Atemzügen versichert Ginevra Luigi, dass sie alles noch einmal so machen würde. Unterdessen ist der starrsinnige Vater endlich bereit, der Tochter zu verzeihen, auf seiner Schwelle erscheint Lugi, vom Tode Ginevras zu berichten, sinkt darauf auch tot darnieder. Zu spät, alles zu spät, die Gesetze von Romeo und Julia gelten auch in der Verschiebung, die Balzac vorgenommen hat.

Eine doppelte Familie

(1.7.2002)

Ein Theaterroman, auch wenn nie das Theater zur Bühne wird, sondern nur das Leben. Es geht um Blicke aufeinander: die schicksalhafte Begegnung zwischen Granville, dem aufs unglücklichste verheirateten Mann und Caroline Crochard, der bitterarmen Stickerin, ist eine Begegnung zunächst nur des Blicks und Anblicks, einander sind sie - zunächst - nur Figuren einer in sich abgekapselten Szene. Sie in der Erdgeschosswohnung, arbeitend, er auf der Straße, vorübergehend.

Überdeutlich ist Balzac selbst in seiner Theatermetaphorik, von drinnen nach draußen geht der erste Blick, Carolines Mutter lenkt, kuppelnd, die Aufmerksamkeit Carolines, die "den neuen Schauspieler" gewahrt, "dessen periodisches Auftreten fortan die Bühne beleben soll". Aber die Beziehung ist reziprok, die Wahrnehmung des Fremden ist ebenfalls die des Voyeurs, dem das Leben der anderen zum Schauspiel wird: "Die tägliche Szenerie bot solche Widerspiele von Dunkel und Licht, von Weiß und Rosa, die zudem zu dem Musselin passten, auf dem die niedliche Arbeiterin Blumengewinde stickte, und überdies zu den braunen und roten Farbtönen der Sessel, dass der Unbekannte sehr aufmerksam die Effekte dieses lebenden Bildes betrachtete."

Nach Monaten geraten die Bilder, zu denen man einander geronnen ist, in Bewegung, aus dem Kontakt der Seelen wird der des Gesprächs, der Körper. Granville aber bleibt vom Geheimnis umschattet, taucht immer nur auf, aus dem Dunkel eines anderen Lebens, stattet Caroline aus mit Geld und Haus und Kind und doch lässt er, lässt Balzac nur ahnen, nicht wissen, warum die Liebe zu Caroline sich nicht vollends erfüllen darf. Bis zum Moment einer grandiosen erzählerischen Ausholbewegung, die mehr als ein Jahrzehnt zurückspringt und in aller Ausführlichkeit nachliefert, was der Leser längst, von Balzac schamlos auf die Folter gespannt, zu erfahren wünscht.

Es ist, natürlich, eine traurige Geschichte, die eines nicht wieder gut zu machende Fehlers, einer Fehlheirat. Granville verliebt sich, unterstützt von diversen Karriere-, Geld- und Nützlichkeitserwägungen, in das Bild einer Frau, deren wahren Charakter er nicht zur Kenntnis nehmen will. Bald bleibt ihm nichts anderes übrig, unterm selben Dach lebt eine Fremde, bigott bis zum Äußersten, päpstlicher als der Papst, frigide und zu keinem Kompromiss bereit: ins Theater geht sie nicht. Balzac erzählt das mit entschiedenster Parteinahme, für den Ehebruch, gegen die Frömmelei, für die Leidenschaft der Liebe, gegen die christliche Passion.

Die unglückliche Vorgeschichte und die glückliche Geschichte einer Liebe führt die Erzählung an dem Punkt wieder zusammen, als die über Jahre gelungene Trennung der Sphären kollabiert: Carolines Mutter, die die beiden zusammengekuppelt hat, bringt sie mit ihrer Geschwätzigkeit am Totenbett wieder auseinander: Granvilles Ehefrau wird ins Bild gesetzt, die Konstruktion der doppelten Familie bricht zusammen - genauso wie Balzacs Roman, an genau dieser Stelle. Überaus hastig skizziert er eine grimmig-bittere Coda, in einer "nächtlichen Szene", die an E.T.A. Hoffmann gemahnt (und vermutlich sogar direkt auf ihn anspielt), in der an alle Beteiligten das Unglück, erstaunlicherweise auch die Schuld mit vollen Händen verteilt wird: Granvilles Frau ist tot, er vereinsamt, Caroline liebt einen nichtswürdigen Mann und liegt im Sterben. Es bleibt kein Funken Mitleid, nicht für Granville, nicht für Caroline. Balzac legt Granville, bevor er seiner Geschichte noch eine überflüssige Moral hinterherschickt, diese wahrhaft schauderlichen Sätze in den Mund: "Was nun aber Caroline Crochard betrifft (...), so möge sie in den Schrecknissen des Hungers und des Durstes sterben und dabei die herzzerreißenden Schreie ihrer sterbenden Kinder hören und sich der Niedrigkeit dessen bewusst werden, den sie liebt: ich würde ihr keinen Deut geben, um ihr Leid zu lindern..."

Ehefrieden

(7.10.2002)

Eine Szene nur, mit kurzer historischer Hinführung. Das Jahr 1809, Napoleons Herrschaft auf dem Zenit, ein Ball. Versammelt sind Balzacs Vorurteile gegen die Frivolität der Zeit, aber genau davon zeigt er sich, natürlich, fasziniert. Es handelt sich, im Grunde, um eine Schlachtordnung, einen Kampf mit den Mitteln der Andeutung, um Koalitionsbildungen und eine hoch verfeinerte Semiotik, die der Auswahl der Tanzpartner und jeder kleinen Geste den Stand der Liebesdinge abzulesen versteht.

Die Ehe, so die Ausgangslage, verpflichtet im Salon, der die Gesellschaft ist, zu nichts. Affären gehören dazu, jeder weiß darüber Bescheid, so auch im Falle des Grafen von Soulanges, der allerdings soeben von seiner Geliebten, Madame de Vaudrement, abserviert wurde. Nun aber nimmt seine Frau den Kampf auf, den Einflüsterungen eines alten und durchtriebenen Schlachtrosses, der Madame de Lansac, folgend: sie sitzt, bestaunt und unbekannt, schön und abweisend, in einer Ecke auf einem Stuhl im Salon beim Ball: da gehört sie nicht hin. Der Graf von Soulanges weiß nicht, was tun, die Neugier der anderen ist unerhört.

Alles konzentriert sich auf ein Dingsymbol, das es zurückzugewinnen gilt, der Diamantring, den die Gräfin ihrem Mann, den der Madame de Vaudrement, den die dem um sie werbenden Martial de La Roche-Hugon weitergegeben hat. Die Gräfin erobert ihn zurück und mit ihm, ohne große Vorwürfe, ihren Ehemann. Das Salondrama mündet in die häusliche Szene einer Versöhnung, die Frau verzeiht dem Ehemann und hat ihn wieder.

Madame Firmiani

(5.1.2003)

Einen höchst seltsamen, aber sehr Balzac-typischen Gesellschaftstanz führt der Erzähler auf, bevor er beginnt, seine Geschichte zu erzählen, die dann vorüber ist, bevor sie eigentlilch angefangen hat. Vorgeführt wird zunächst nicht Madame Firmiani, um die es geht, vorgeführt werden die Vorurteile, die im Pariser Milieu über sie zirkulieren. Eine etwas umständliche, in ihrer Umständlichkeit jedoch raffinierte Einführung insistiert darauf, dass in diesem einen Fall eine Verrechnung der identifizierenden Lektüre aufs allgemeine Mitfühlen nicht möglich sei: es muss der Leser, um zu verstehen, Vergleichbares empfunden haben. "Der Leser muss die Wollust der Tränen erlebt und den stummen Schmerz einer Erinnerung gefühlt haben, der schwerelos vorüberzieht und einen geliebten Schatten mit sich trägt...".

Wie falsch man liegen kann, weil man immer schon alles kennt, wird dann reihum an Gerüchten, Bösartigkeiten und alle Gerechtigkeit des Urteils verstellenden falschen Überzeugungen dargestellt, die sich zur "Monographie des Parisers" runden. Der Positivist, der müßige Spaziergänger, der Individualist, der Kunstliebhaber und viele, viele mehr: Sie alle haben keine Ahnung von Madame Firmiani, weil sie viel zu vieles schon zu wissen glauben. Als Typen liegen sie falsch, weil Madame Firmiani kein Typ ist (so die notwendige These), in keine Schublade passt, auf keinen der Töpfe, die die Pariser Tröpfe kennen, als Deckel. Es läuft nicht auf die Behauptung eines allgemeinen Urteils-Relativismus hinaus, wie könnte es anders sein angesichts des Balzacschen Erzählers, der nach dem Spießrutenlauf durch Pariser Bürgertum und Adel zuletzt mit der Wahrheit und nichts als der Wahrheit hinausplatzt. "Eine solche Frau ist natürlich" resümiert er eine längliche Beschreibung Madame Firmianis dann doch - schreckliche Inkonsequenz - wieder als Typus und darauf heißt es, in Stein gemeißelt: "Jetzt" - aber eben erst jetzt, nach der Abarbeitung des Schutts falscher Beobachtungen - "kennt man also Madame Firmiani".

Die Geschichte, um die es, wie nebenher, geht, ist die eines Neffen, der das Geld, das er geerbt hat, an Madame Firmiani zu verschwenden scheint, und seines Onkels, der ob der umherfliegenden Gerüchte besorgt nach Paris aufbricht, sich die Frau, die am Elend seines Neffen Schuld tragen soll, näher zu betrachten. Er, der Onkel, kuriert uns, den Leser also, endgültig vom Verdacht, den wir den Behauptungen des Erzählers zum Trotz noch immer nicht ganz los waren: dass Madame Firmiani doch eine Intrigantin sein könnte, von höchster, weil aufrechteste Gesinnung mit großer Natürlichkeit vortäuschender Raffinesse. Und vielleicht liegt es an der Anlage der Erzählung, die den Leser vom Relativismus, den sie vorführt, auch durch Erzähler-Machtwort nicht kurieren kann bis ans Ende, das dann keine Fragen mehr offen lässt. Es braucht die zusätzliche Instanz des Onkels, der ist wie wir, nämlich ahnungslos erst einmal und von Zweifeln nicht frei, um uns zu überzeugen: Madame Firmiani ist fast zu gut, um wahr zu sein. Und diese kurze Erzählung, an deren Ende wir sie wirklich kennen, fast ein Märchen.

Eine Frauenstudie

(5.1.2003)

Was zusammentrifft, in Balzacs Frauenstudie, ist scheinbar Inkompatibles: die etwas biedere Verlässlichkeit der Marquise de Listomère, frei von aller ideologischen Verstocktheit, aber auch ohne alle Leichtigkeit, die sich selbst ein Abkommen vom Pfad der ehelichen Tugend verzeihen könnte. Geschildert wird sie nicht ohne Sympathie, denn hinter der korrekten Fassade lässt sich, wird festgestellt, "eine Seele ahnen". Unter diesen Umständen dann doch denkbarer Verführbarkeit kommt es zur beinahe schicksalhaften Begegnung mit dem Aristokraten Eugène de Rastignac, einem "der sehr gescheiten jungen Herrn, die alles versuchen und die die Menschen abzutasten scheinen, um herauszubekommen, was die Zukunft bringt". Er nämlich tastet auch die Marquise ab, mit einer kleinen Plauderei über die Oper "Wilhelm Tell" in einem Salon, bei der sich Eugène nichts weiter denkt. Am Morgen dann schreibt er zwei Briefe, einen an seine derzeitige Geliebte - und es passiert ihm ein Malheur, aus dem vielleicht (wer weiß) nur ein Unbewusstes spricht: er adressiert ihn an die Marquise de Listomère, die erst aus allen Wolken fällt, ihm dann die kalte Schulter zeigt und doch findet in ihrer Seele, die wir ahnen, ein Prozess statt, den der Erzähler (ein kurz auftretendes Ich in diesem Fall, ein Arzt namens Horace Bianchon) - sich auf Stendhal beziehend - "Kristallisation" nennt. Sie schwankt - und als Eugène auftaucht, das Missverständnis auszuräumen, ahnt er - sie errötet - noch viel mehr: "Nanu, auch diese Festung?" Sie aber erteilt ihm, auf dem Fuße wendend, eine Lektion. "Eine Adresse, die man auf einen Brief schreibt, ist doch wohl etwas anderes als der Klappzylinder eines Nachbarn, den man aus Gedankenlosigkeit statt des seinen nehmen kann, wenn man einen Ball verlässt." Darauf weiß der junge Mann keine Erwiderung, von der kleinen Nervenkrise, die die Begebenheit bei der Marquise zur Folge hat, erfährt dann, ganz im Vertrauen, nur mehr der Leser.

Die falsche Geliebte

(4.1.2004)

Balzac (oder sein Erzähler: aber das zu unterscheiden, ist an solchen Stellen eine eher müßige Sache) politisiert, gegen die neuesten Entwicklungen in Frankreich, über die Lage Polens, über Polen in Paris. Bevor er dann auf einen von ihnen kommt, Adam Mitgislas Laginski, und einen anderen, der lange im Hintergrund bleibt, beeilt er sich zu versichern, dass Politisieren nicht Sache des Romanciers ist: "Erstens wäre es etwas Törichtes, politische Erörterungen einer Erzählung einzugliedern, die erfreuen oder interessieren soll." Zweitens folgt dann, selbstverständlich, möchte man sagen, nichts anderes als: eine politische Erörterung. Und bevor Balzac auf seine beiden Polen kommt und die Mademoiselle de Rouvre, deren Verheiratung mit Adam der erste Satz der Erzählung galt, muss er noch einen Essay zu den heruntergekommenen, vom Neureichtum kündenden Bausitten in Paris einschieben. Paläste, die das nur dem Schein nach sind, machen sich auf engstem Raum breit. Innenarchitekten produzieren die Großzügigkeit der Zimmer und der Gartenanlagen als trompe-l'oeuil.

Kein Wunder denn, dass sich in dieser Potemkinschen Nachahmung größerer Zeiten und besserer Sitten, dass sich in diesen verwinkelten Bauten, wie die Laginskis einen bewohnen, der eigentliche Held der Erzählung lange verstecken kann, vor dem Blick von Madame Laginski und dem des Lesers. Überhaupt ist der Gestus von "Die falsche Geliebte" einer des zweiten Blicks, der Erzähler verspricht, noch immer, bevor er richtig anfängt zu erzählen, "sublime Handlungen", wie man sie nicht mehr erwarten würde. Handlungen, die wie Perlen "in rauhen Muschelschalen" heranreifen, Edelmut, unter Schmerzen geboren in der Tiefe des Meeres, das die Gesellschaft ist. Und aus der Tiefe, aus den Gemächern, aus den Falten der Erzählung, aus dem Hintergrund tritt Tadeusz Paz, der Adam Laginski, seinem Freund, auf immer verbunden ist, weil dieser ihm das Leben gerettet hat, die Freiheit wenigstens, zweimal gleich, im Krieg. Viel ist die Rede von Paz, denn er hält den Haushalt als Finanzgenie im Hintergrund zusammen, aber gesehen hat ihn Madame zwei Jahre lang nicht. So ruft sie ihn: er ist, im Gegensatz zu ihrem Adam, ein stattlicher Mann. Er gefällt ihr und der Erzähler signalisiert uns, dass sie ihn und seine Schroffheit zu durchschauen beginnt.

Etwas bahnt sich an. Wir erfahren: Tadeusz Paz liebt Madame, immer schon, aus Freundschaft zu Adam verzichtet er und leidet. Dennoch: Madame insistiert und im entscheidenden Moment eines tête-à-tête, in dem die Wahrheit herausmüsste, erfindet Paz in panischer Flucht vor seinen Gefühlen ganz aus dem Stegreif eine Geliebte aus dem Zirkus, Malaga. Nichts verbindet ihn mit ihr, aber rasch zimmert er eine wüste Leidenschaft zurecht, selbst ein Potemkin nun, aus Edelmut. Seiner Malaga, die natürlich nicht weiß, wie ihr geschieht, kauft er ein großes Apartment, er hält sie aus und die Leute beginnen zu tuscheln, denn ganz offenkundig will er nichts von ihr. Er rettet sich also in eine rasende Falschheit, um die wahren Gefühle der Freundschaft zu opfern. Er vergeht unterm zunehmend verachtungsvollen Blick von Madame. Balzac lässt sich einen weiteren Sadismus einfallen (wenngleich der Masochismus auf Tadeusz' Seite ganz unter der Decke seines rigorosen Pflichtgefühls bleibt): Adam erkrankt auf den Tod und sein Freund, der darob kurz eine freudige Regung verspürt hat, sühnt für diese durch aufopfernde Pflege. Er bewirkt Adams Genesung. Und flieht. Schreibt einen Brief an Madame, die Wahrheit muss doch heraus. Er geht in den Krieg, in den Tod oder den Ruhm, so heißt es jedenfalls.

Es bleibt aber eine Schlusspointe, der es nicht an Konsequenz mangelt. Madame ist, drei Jahre später, auf dem besten Weg, untreu zu werden. Die Kutsche zum Verrat (Vehikel, das nur nebenbei, des Verrats einer Freundin) steht bereit. "In diesem kritischen Augenblick wurde sie von kräftigen Armen gepackt und trotz ihrer Schreie in ihren eigenen Wagen getragen, dessen Tür offenstand und von dem sie nicht wusste, dass er da sei." Das klingt, natürlich, nicht nach einer Kutsche, sondern nach dem Mann, der sie begehrte, ohne es zeigen zu dürfen, nach dem Mann, dem es an dem bisschen "Schaumschlägerei" fehlt, das erst die Frauen zu Liebenden macht, dem Mann, der sich erniedrigte, um erhöht zu werden. Und tatsächlich: Sie erkennt ihn. Nun erkennt sie ihn. Zu spät, er ist wieder davon. "Hat je eine Frau einen solchen Roman erlebt? Zu jeder Stunde hofft Clémentine, Paz wiederzusehen." Dann fällt der Vorhang.

Eine Evastochter

(4.8.2004)

Füreinander nicht bestimmt sind Raoul Nathan, der Schriftsteller, und Marie-Angélique de Vandenesse, die Ehefrau eines der besten Männer der Welt. Aufgewachsen, so viel Vorgeschichte muss sein, ist sie mit ihrer Schwester in strengster jansenistischer Weltvorenthaltenheit, unter der unheilvollen Fuchtel einer Mutter, die den Töchtern alles aus dem Weg räumt, was diese mit dem Leben bekannt machen könnte. Sie leiden, sehr, der Vater lebt von der Frau, die er verachtet, getrennt, bedauert die Töchter und rettet die Söhne. Die Töchter fliehen in die Ehe, die eine, Eugenie, hat das Pech, an ein fühlloses, reiches Scheusal zu geraten, den Bankier du Tillet - die andere eben an Félix de Vandenesse, einen erfahrenen, über der Erfahrung ein wenig resigniert, aber nicht zynisch gewordenen Mann, der es nun unternimmt, sie in allem zu unterweisen, was sie wissen, können und vermeiden muss, um in den besseren Kreisen überzeugend aufzutreten. Das gelingt, über Erwarten gut, Marie-Angélique wird zum viel umneideten Star der besseren Pariser Gesellschaft. Die Neiderinnen, das ist klar, sinnen auf Rache.

Dass sie erfolgreich sind, erfahren wir bereits zu Eingang des Romans, der mit dem chronologischen Ende seiner Geschichte beginnt. Die Schwestern sitzen zusammen, die eine klagt der anderen das Leid des Mannes, den sie liebt. Es ist nicht ihr Ehemann Félix, sondern Nathan, der Schriftsteller, der mit Vaudevillen-Komödien sein Geld verdient und mit den für Ruhm und Ehre geschriebenen großen Dramen regelmäßig auf die Nase fällt. Der Erzähler hasst ihn von ganzem Herzen. Er hält nicht damit hinterm Berg. Raoul Nathan ist verschlampt, aber kein Genie - trotz Talent -, ein Mann von bezwingender Hässlichkeit, ein Faszinosum, das mit Hochstapelei die Frauen charmiert. Er kleidet sich schlecht, er frisiert sich nie, er verachtet das Bürgerliche. Ein Künstler. "Sein Egoismus trottet in einer Rüstung aus bemalter Pappe einher und gelangt oft an das geheime Ziel, das er sich setzt." Er ist ehrgeizig und ohne Ausdauer. "Er 'macht in Leidenschaft', wie es im Literaturjargon heißt, weil, wenn es um Leidenschaft geht, alles wahr ist; während es doch dem Genie obliegt, in den Zufällen des Wahren nach dem zu suchen, was allen als wahrscheinlich erscheinen muß." Poetologisches Bekenntnis Balzacs. Nathan ist politisch unzuverlässig, künstlerisch mittelmäßig, kurz und gut: Marie-Angélique, die die Liebe als väterliche Empfindung des Grafen de Vandeness kennt, aber nicht als Leidenschaft, verfällt dem Schriftsteller. Er verfällt zurück, wie sollte er anders. Er kleidet sich besser, er wäscht sich die Haare, man macht sich geheime Zeichen. Große Lust, wunderbare Beobachtungsgabe steckt Balzac ins Porträt der Pariser Gesellschaft, das den Schauplatz und Hintergrund dieser öffentlich ausgetragenen heimlichen Annäherung abgibt.

Natürlich hat Nathan eine Mätresse, Florine, eine Schauspielerin, die medioker begabt ist, und ihm ein Stück ihres nicht unbeträchtlichen Ruhms verdankt. Sie ist schön, aber ihre Füße sind plump. Herrliche Bösartigkeit Balzacs, auf diesen Füßen reitet er herum wie auf den hochstaplerischen Anstalten Nathans. Wie es sein kann, dass eine unschuldige Frau hineingerät in eine solche Falle, aufgestellt von Neidern, dafür hat er dagegen viel Verständnis. Die ganze Verachtung gilt der Mutter und der Religion, die Seelen vergiften durch Zutun und Wegtun.

Der Knoten, der sich zu Beginn des Romans in der Aussprache der Schwestern geschürzt haben wird, verdankt sich Geldsorgen. Nathan hat politische Ambitionen, er gründet eine Zeitschrift, wird benutzt, ohne etwas zu ahnen, verschuldet sich und vertraut dem Mann, der ihn in den Abgrund stürzen will. Es ist, nebenbei gesagt, der Ehemann der Schwester, der Bankier, das Scheusal. Als die Not am größten ist, springt Marie-Angélique, die nie mit ihm geschlafen hat, zu Hilfe. Sie sucht die Schwester auf, die Rat weiß. Wechsel machen die Runde, das Schlimmste ist abgewendet, aber Félix bekommt Wind von der Sache. Er versteht, er verzeiht. "Ein jugendlicher Greis", ein väterlicher Liebhaber, der beste Mann der Welt. Er erzieht, er zeigt der Frau, die ihn beinahe gehörnt hätte, in was für ein Windei sie sich verguckt hat. Die Prophezeiungen Félix' bewahrheiten sich, der Schriftsteller dreht sich, des Geldes wegen, wie die Fahne im Wind. Marie-Angélique hat das Glück gehabt, das sie in aller Unschuld verdiente.

 

Die Botschaft

(11.8.2004)

Die Kutsche von Paris nach Moulins ist voll, wir schreiben das Jahr 1819, im Freien kommen zu sitzen der Ich-Erzähler, der namenlos bleibt, und ein junger Herr, auch er bleibt namenlos. Beide sind sie unterwegs zu ihren Geliebten zwischen dreißig und vierzig (es kreuzen sich die letzte Liebe der gealterten Frau, die erste Liebe des Jünglings), sie schwärmen, sie erzählen einander. Dann stürzt die Kutsche um, der Beifahrer wird zerquetscht, kann dem Ich-Erzähler noch einen Schlüssel überreichen, mit der Bitte, die Botschaft von seinem Tode an die Geliebte zu überbringen. Diese Überbringung dann der Kern der kurzen Novelle. Mit Takt wird erst der Graf in Kenntnis gesetzt, dann separat die Gräfin Juliette, die Geliebte. Eine Nacht wüster, tränenreicher Verzweiflung verbringt sie mit dem Ich-Erzähler, der mit dem Abstand von vielen Jahren berichtet. Der kurze Text fällt ein wenig aus der "menschlichen Komödie", des in die Handlung integrierten Ich-Erzählers wegen, der deswegen auch sehr konsequenten Namenlosigkeit. Es heißt im Abschnitt "Biographische Notizen über die Romangestalten" denn auch: "Die Gestalten dieser Novelle treten in der "Menschlichen Komödie" nicht wieder auf."

 

Die Grenadière

(16.8.2004)

Die Grenadière ist ein Anwesen in von Gott gesegneter Landschaft, eine Touraine in der Touraine, wie Balzac schreibt und wird zum Ort eines Lebensendes und eines Lebensbeginns. Eine Frau, noch nicht alt, aber früh gealtert und zusehends alternd, ja sterbend, zieht hier ein, Lady Brandon, mit zwei Söhnen, dreizehn und acht Jahre alt. Die Vorgeschichte bleibt im Halbdunkel, einen letzten Brief an den Mann, der nicht der Vater der Kinder ist, wird es geben. Den älteren Sohn will die Mutter auf das Leben ohne sie vorbereiten, das Einvernehmen zwischen ihr und den Söhnen ist vollkommen. Der Sohn soll lernen, er lernt. Die Mutter kann bald das Haus nicht mehr verlassen, dann ist sie ans Bett gefesselt. Ihre Krankheit bleibt namenlos, der Sohn will Kadett werden. Eine Todesszene, eine Grabinschrift "Hier ruht eine Unglückliche". Eine Skizze - an einem Tag entstanden, heißt es im Kommentar -, in den Metaphern dem Trivialen nah, im Ton beinahe erbaulich. Die Zukunft bleibt, hier, unerzählt.

Die Verlassene

(24.8.2004)

Düsteres Porträt der französischen Provinz, die man gleich summarisch behandeln kann, in Typen. Die Typen, einmal vorgestellt, finden sich als Szenerie in der Nieder-Normandie. Dorthin wird ein junger Mann - dreiundzwanzig Jahre alt - geschickt, der Baron Gaston de Nueil, der Gesundung wegen. Und während er in der Lethargie versinkt im "Gelände, für das [er] nicht geschaffen ist", erfährt er vom Fremdkörper im moralisch homogenen Raum, der ausgestoßenen, unzugänglichen Madame de Beauséant. Sie hat geliebt, erfahren wir, aber nicht ihren Ehemann. Vom Geliebten wurde sie verlassen, der eine andere heiratet. Jetzt lebt sie hier, nicht geschieden, zur Einsamkeit entschlossen, draußen, unsichtbar, die vollkommene Projektionsfläche für den Baron. Der projiziert und erschleicht sich Zugang zur Frau, die er liebt, bevor er sie das erste Mal sieht. Sie gewährt ihm Zugang, aber nur das eine Mal. Er droht, sein Leben aufs Spiel zu setzen, wenn sie ihn liebt; sie rät ihm, nicht töricht zu sein und flieht vor ihm nach Genf. Er folgt ihr. Er sucht sie auf. Sie ergibt sich der Liebe, die nun, aus der Projektion glänzend erwachsen, ins Unendliche strebt. Sie haben neun glückliche Jahre, aus der Welt, aus der Gesellschaft verstoßen, er aus eigenem Entschluss zur Liebe. Dann aber erbt er und soll heiraten. Die Mutter, die die wilde Ehe mit Madame de Beauséant kaum erträgt, will ihn, um des eigenen Namens willen, der Gesellschaft zurückgewinnen. Er überlegt, Madame de Beauséant ahnt, er schreibt einen Brief, dessen Unentschlossenheit alles sagt. Sie verzichtet, er heiratet und erträgt es nicht. Er will zurückkehren, Madame de Beauséant weist ihn ab. "Monsieur de Nueil ging in ein kleines, an den Salon stoßendes Zimmer, wo er bei der Heimkehr sein Jagdgewehr hatte stehen lassen, und erschoß sich." Dem aufmerksamen Leser, mahnt der Erzähler, ist das "vollauf begreiflich". Die Gesellschaft ist Trug, die Liebe Wahrheit.

Honorine

(1.9.2004)

Vom Allgemeinen ins Konkrete. Allgemein: Balzac über Franzosen im Ausland, das Französische, das das Pariserische ist, und die wenigen Oasen, in die es exportiert wird: "Besseres als England läßt sich überall finden, während es außerordentlich schwierig ist, fern von Frankreich Frankreichs Zauber wiederzufinden." Konkret: Das Jahr 1836, eine traute Runde von Auslandsfranzosen in Genua, beim Generalkonsul ("das lebende Porträt Lord Byrons"), dabei auch Madame de Touches aka Camille Maupin und dem wirklichen Leben abgewonnen, in dem sie Balzacs gute Freundin George Sand ist. Man diskutiert, auch übers Thema Ehebruch in der Literatur. Der Konsul schickt - unter raunenden Andeutungen des Erzählers - seine Frau raus und erzählt die Geschichte eines anderen, die dann auch seine wird.

Es ist die Geschichte eines hochrangigen Politikers, der unter dem Pseudonym Graf Octave auftritt. Dessen Sekretär wird Maurice, der nachmalige Generalkonsul, nachdem er keusch und unschuldig das Collège verlassen hat. Sein Onkel, der Beichtvater der großen Welt, verschafft ihm Octave als Gönner. Maurice lernt die Welt kennen, hat wüste Phantasien und beginnt, "vor [sich] selbst Angst zu bekommen". Ein Rätsel aber bleibt ihm der Graf: melancholisch, schlaflos, vorzeitig gealtert, Träger eines mit Schweigen gehüteten Geheimnisses. Er verschwindet abends auf Stunden, er kümmert sich wohl um die dienstlichen, nicht um seine privaten Geschäftsangelegenheiten. Blumen, die das Leitmotiv des kleinen Romans sind, umgeben den Grafen, schon verwelkt, und ihre "fast verwesten Düfte" versetzen ihn in "seltsame Rauschzustände".

Ein Freund des Grafen, Seiten später, verplappert sich: Octave hat seine Frau verloren. Sie ist mit einem anderen davon, der verlässt sie, sie kehrt nicht zurück. Sie gilt vor der Welt für tot, sie ist es nicht. Die Vorgeschichte: Sie war jung, der Graf väterlich. Aber: Er liebt sie, noch immer, mehr denn je, als Verlorene wird sie zur Verkörperung der Sehnsucht: "aber dann erhob sich vor mir wie eine weiße Statue die Erinnerung an Honorine". Die Natur, die Gesellschaft, die Religion im Widerstreit: Der Graf spricht die Frau frei, verurteilt sich - und doch will sie nicht zurück. Sie richtet sich ein, verborgen, wie sie denkt, unter falschem Namen und produziert künstliche Blumen. Die kauft ihr, den Lebensunterhalt zu sichern, der Graf ab - was sie nicht weiß. Er umhegt sie, sie ahnt es nicht. Die künstlichen Blumen als Dingsymbol dieses Glücks im Falschen. Der Graf leidet und Balzac findet die Worte dafür: "Kurzum, mein Leben ist ein beständiger Paroxysmus von Entsetzen, Freuden und Verzweiflungen."

Als geistesgestörter Nachbar eingeschleust und Liebhaber blauer Blumen wird Maurice. Er soll Honorine dem Grafen zurückgewinnen. Eine hoffnungslose Aufgabe, aber sie scheint zu gelingen. Sie kann Octave nicht lieben, sie legt es dar in einem langen Brief: Jedes Runzeln der Stirn wäre ihr ein Vorwurf. Die eindeutige Liebe, die er verspricht, sei ein Ding der Unmöglichkeit: "Vielleicht halte ich gar einen Liebesbeweis für einen Beweis der Verachtung?". Die Untreue ist nicht aus der Welt zu schaffen. Maurice, der dabei ist, sich unsterblich zu verlieben ("Raffael", "Tizian", "Der Mund war nichts als Wollust", "eine Blume für den Tastsinn, eine Blume für den Blick, eine Blume für den Geruchssinn, eine himmlische Blume für die Seele"), bringt Botschaften, übergibt Briefe, auch den des Grafen. Er wird Honorine, verspricht er ihr, lieben wie eine Mutter, wie ein Bruder, wie ein Vater, nicht wie ein Ehemann. Er verspricht eine "Liebe ohne Begehren". Sie kehrt zu ihm zurück. Er begehrt sie mit wilder Leidenschaft. Sie gibt nach, wird Mutter eines Sohnes und spielt dem Grafen eine Liebe vor, die sie nicht hat und zieht Maurice mit einem letzten Brief ins Vertrauen: "Ich habe meine Rolle als Frau gut gespielt; ich habe meinen Mann getäuscht, ich habe Freuden genossen, die ebenso echt waren wie die Tränen, die die Schauspielerinnen auf der Bühne genießen." So echt, so falsch, es geht über ihre Kraft: Honorine stirbt.

Coda, wieder auf der Terasse in Genua. Und sie hätte Sie geliebt, sagt Camille Maupin zum Konsul. Der hat den Grafen, erfahren wir, vor kurzem zum Schiff gebracht, ein Abschied auf immer. Auch er wird sterben. Es ist die Schuld, sagt Camille Maupin, der Männer, die die Frau überfordern mit dem Ideal, das sie in ihr sehen. Und schärfer noch: "Dies alles ist lebensfremd", Honorine hätte ihren Platz nur im Kloster finden dürfen. Coda zur Coda: Andeutung einer weiteren Geschichte, die sich gerade in Paris ereignet hat, eine Frau sucht, nach dem Tod des Geliebten, das Leben nicht mehr: "'Es gibt also auch in diesem Jahrhundert noch große Seelen!', sagte Camille Maupin; sie stützte sich auf die Kaimauer und verharrte eine Weile in Nachdenken." Das ist das Schlussbild.

Béatrix

folgt