Es herrscht mal wieder Gedränge auf dem schmalen Schlauch
von Flur im Lüner Kino Lichtburg. Auch beim 12. Kinofest in der Kleinstadt
nördlich von Dortmund ist Warten auf den Einlass ohne die stickige Enge
und schweißtreibende Wärme des Foyers kaum vorstellbar. Ab und
an drängen von hinten wichtige Menschen mit gelben, orangen oder
weißen Namensschildern nach vorne: "Tschuldigung, ich muss mal durch."
Til Schweiger braucht kein Namensschild. Seine jugendlichen, meist weiblichen
Fans erkennen ihn auch so. Nach ein paar Autogrammen am Eingang aber betritt
er den Flur und wird fast zum Besucher unter vielen. Berührungsängste
oder Ehrfurcht gibt es nicht in Lünen. Die Bussi-Gesellschaft ist
kurzfristig abgemeldet. Dieter Landuris fährt sich nervös durchs
Haar, als überlege er, sich ein Namensschild geben zu lassen: D. Landuris,
Schauspieler.
Der ehemalige Krimiheld ("Alles außer Mord") ist an diesem
Wochenende einer von vielen Darstellern, die eine gute Leistung an einen
schwachen Film verschenkt haben. In "Null Uhr 12", dem krampfigen
Regiedebüt eines anderen Krimihelden, Bernd Michael Lade aus dem "Tatort",
gibt Landuris einen Vertreter, dem der Alltag zur Hölle wird. Auch Meret
Becker spielt mit, Isabella Parkinson und Lade selbst. Aber was hilft das,
wenn das Drehbuch schön schematisch nach dem Baukastenprinzip gepuzzelt
wurde. Apropos puzzeln: Thomas Jahn, der filmende Taxifahrer, dessen Karriere
mit "Knockin' on heaven's door" begann und nach "Kai Rabe" mit Recht beendet
schien, hat offenbar zu viel Tarantino, Guy Ritchie und Lasse Spang Olsen
gesehen. Sein groteskes Gaunerstück "Auf Herz und Nieren", in Lünen
als Weltpremiere außerhalb des Wettbewerbs zu sehen, erwies sich als
ärgerlicher, sinnlos hipper Zusammenschnitt bekannter Versatzstücke.
Voller austauschbarer Charaktere, schlechter Witze und von entlarvender
Kaltherzigkeit. Applaus gab es trotzdem, in Lünen bleibt man
höflich.
Den Unterschied zwischen Höflichkeit und Begeisterung konnte
man kurz darauf ermessen. Die erste öffentliche Vorführung der
Politkomödie "Was tun, wenn's brennt" wurde von Szenenapplaus begleitet
und später minutenlang umjubelt. Gregor Schnitzlers Film erzählt
davon, wie Träume und Freundschaften ihr Haltbarkeitsdatum
überschreiten. Im unpolitischen Deutschland des Jahres 2000 werden sechs
ehemalige Freunde von ihrer politischen Vergangenheit in der Linkenszene
Berlins eingeholt. Eine 1988 von ihnen deponierte Bombe explodiert, die Polizei
stößt auf Beweismaterial, das die sechs entlarven kann. Also finden
sich ein Werbefuzzi, eine alleinerziehende Mutter, ein Anwalt, eine
Restaurantbesitzerin und zwei immer noch linke Bazillen nach Jahren wieder
zusammen, um in die Asservatenkammer der Polizei einzusteigen. Der Film verbindet
urkomische Momente mit einer erfrischend unpädagogischen Nachdenklichkeit:
Wo landen wir mit unseren Träumen, fragt Schnitzler. Wie wichtig sind
Freunde, wie wichtig die Karriere? Und wofür lohnt es sich zu kämpfen,
privat wie politisch? Wichtige Fragen verpackt in Bilder, die die Worte geschickt
untermauern, karikieren oder in Frage stellen. Kein Wunder, dass die Zuschauer
Schnitzlers meisterhaft inszeniertem Film den mit 15.000 Mark dotierten Filmpreis
der Stadt Lünen zuerkannten.
"Was tun, wenn's brennt" landete damit knapp vor dem anderen
überragenden Film des Festivals: Benjamin Quabecks "Nichts bereuen".
Auch bei ihm geht es um Träume und Freundschaften, allerdings in
früherem Stadium. Daniel (Daniel Brühl), der Held des Films, ist
19, hat sein Abi, aber noch nie mit einer Frau geschlafen. Seit vier Jahren,
das sind 1480 Tage, liebt er Luca (Jessica Schwarz), die so nett ist wie
sonst nur dicke Mädchen. Im Laufe des Films lernt Daniel eine Menge
Dinge über Liebe, Sex und Altenpflege. Es hat wohl seit Jahren keinen
deutschen Film gegeben, der so wahrhaftig und fühlbar in die seltsame
Zeit des Erwachsenwerdens eingetaucht ist - wenn die Träume verschwommen,
aber riesengroß sind und die Liebe wunderschön, traurig und
rätselhaft.
So bewegend und echt war kein anderer Film in Lünen. Erstaunlich
viele erstickten unter dem eigenen Kunstanspruch, bevor sie überhaupt
lebendig werden konnten. "Die Reise nach Kafiristan" von Fosco und Donatelli
Dubini war das beste Beispiel: Die Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach
(Jeanette Hain) und die Ethnologin Ella Maillart (Nina Petri) reisen im Jahre
1939 nach Afghanistan und lernen sich unterwegs lieben - leider in leblosen,
allzu literarischen Dialogen und einer spannungslosen Erzählstruktur.
Besser, aber ähnlich beladen mit dem eigenen Anspruch: der
Eröffnungsfilm "Annas Sommer" von Jeanine Meerapfel, der immerhin
schöne Bilder und gute Momente bot; die Low-Budget-Satire "Planet der
Kannibalen" von Hans-Christoph Blumenberg, die trotz witziger Einfälle
keinen wirklichen Spannungsbogen fand; und schließlich Michael Gutmanns
Film "Herz über Kopf", die Liebesgeschichte zwischen einem rebellischen
Schulschwänzer (Tom Schilling) und einem polnischen Au-pair-Mädchen
(Alicja Bachleda-Curus), die ihre guten Darsteller leider zu oft zwischen
Sozialkitsch und abgedroschenen Klischees einsperrt.
So blieb das Programm trotz zweier großartiger Filme insgesamt
etwas hinter dem Vorjahr zurück, doch - und auch das ist eine Besonderheit
des Lüner Festivals - dem Gesamteindruck schadet das kaum. Man muss
einfach erlebt haben, wie auf buchstäblich engstem Raum eine entspannte,
freundliche, kommunikative Atmosphäre entsteht. Aufgekratzt, aber stets
mit voller Übersicht, wuseln die Direktorinnen Elfriede Schmitt und
Ute Teigler von Saal zu Saal, präsentieren die Filme und ihre Macher,
nehmen sich Zeit für Gespräche, wecken den Eindruck, nicht
geschäftsmäßig, sondern hochengagiert, beinahe leidenschaftlich
bei der Sache zu sein. Im Foyer steht lächelnd Kinobesitzer Gerd Politt
und genießt sichtlich seine Rolle als großzügiger Gastgeber.
Die Eröffnung donnerstags findet im benachbarten, ebenfalls viel zu
kleinen Gemeindesaal statt, samstags geht es ins Stadtbad zur Poolparty mit
gemeinsamem Staffelschwimmen. So wird die Gefahr von Provinzialität
in puren Charme verwandelt. Der bleibt bestimmt auch nächstes Jahr erhalten,
obwohl der schmale Flur der Lichtburg dann gegen das Foyer des neu gebauten
Großkinos eingetauscht wird.
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