Die heißen Sommertage in Berlin löschte ein heftiges Gewitter
aus. Kühle zieht ein. Das Filmvolk packt die Koffer für München.
Schuhe geputzt. Kleidchen gebügelt. Teller gespült. Filmfest vom
28. Juni bis 5. Juli, dort, wo es auf der Wetterkarte im tiefsten Rot leuchtet.
Irgendwie fühlt man sich wie im Märchen von Schneewittchen
und die sieben Zwerge, reist man aus dem grauen Berlin ins weißblaue
München zum Filmfest. Leider gehört man der Zwergen-Fraktion an.
Würden nicht befreundete Cineastinnen (Danke, Linda! Danke, Maria Anna!)
auch in diesem Jahr noch druckfrisch Die Illustrierte, das für
die Festivalplanung notwendige Magazin, abgreifen, eintüten und gen
Hauptstadt senden, scrollte man dieser Tage verzweifelt auf den Filmfestseiten
im Internet durchs Programm. München hat nichts zu verschenken.
Alles Petitessen, fühlt man papierene Seiten zwischen Fingerspitzen,
schlägt Specials, Tributes und Sonderprogramme auf, sieht Fotos, erkennt
SchauspielerInnen, Szenen und Orte, liest kluge Texte, spürt aktuellen
Themen nach. Träume mit offenen Augen, dem Bedürfnis
nach pointierten Zeilen kommt das Festival entgegen. Diese Interpretation
von Kino, ein Zitat von der wunderbaren (aber leider mit keinem Film anwesenden)
französischen Regisseurin Agnés Varda, tanzt in luftigen Lettern
quer über das Filmplakat, direkt unter dem verschmusten Traumpaar Cary
Grant und Ingrid Bergman, in einer Szene aus dem Alfred-Hitchcock-Film
Berüchtigt, platziert. Den heterosexuellen Filmkuss zelebriert
München seit 1994. Von der altmodischen Sehnsucht nach dem Happy End
befreit das Programm.
Filme(n) nach Zahlen: 101 Premieren in den Reihen World Cinema
mit den Länderspecials Frankreich, Lateinamerika und fünf neuen
Filmen aus Bosnien, Kroatien, Mazedonien und Serbien, den kleinen Schätzen
in der trashig-innovativen Reihe American Independents, beim
Schwerpunkt Made in Germany, der deutsche Fernsehpremieren auf
Kinoformat bringt und deutsche Spielfilme präsentiert, die in der Glotze
manchmal besser aufgehoben wären.
Kino der großen Namen: Geraldine Chaplin reist an die Isar, um den
CineMerit Award entgegenzunehmen. Ein Werkschau mit vier Filmen der 1944
geborenen amerikanischen Schauspielerin zeigt unter anderem die aktuelle
spanische Produktion City of No Limits. Die Tributes bringen
einen Künstler des russischen Kinos nach München, Oleg Jankovskij
(u.a. Hauptdarsteller in Tarkovskijs Nostalghia), und ehren das
Multitalent Eckhart Schmidt (z.B. mit einem Spielfilm von 1982: Der
Fan mit Désirée Nosbusch).
Von Cannes direkt nach Bayern: At Five in the Afternoon von der
iranischen Filmemacherin Samira Makhamalbaf über eine junge Frau in
Afghanistan nach den Taliban und Distant vom türkischen
Regisseur Nuri Bilge Ceylan, beide von der Jury in Cannes ausgezeichnet.
Nach Neuseeland führt der Spielfilm Whale Rider. Eine von
der Filmstiftung Nordrhein-Westfalen mitfinanzierte poetische Erzählung
über ein Mädchen, das sich gegen die Traditionen in ihrem Dorf
durchsetzt. Der Publikumsliebling internationaler Festivals startet am 14.
August im Kino.
Zwei deutsche Produktionen haben ebenfalls den Kinostart in der Tasche. Der
Musikfilm Verschwende deine Jugend von Regisseur Benjamin Quabeck
(preisgekrönt vor zwei Jahren in München mit seinem Debüt
Nichts bereuen) und Liegen lernen von Hendrik Handloegten
(Paul is dead).
Vor zwei Jahren begeisterte der französische Film Die fabelhafte
Welt der Amelie mit der schneewittchengleichen Audrey Tautou das Publikum
in München. Dieses Jahr putzt die französische Schauspielerin als
türkisches Zimmermädchen in Stephan Frears Dirty Pretty
Things den Dreck weg. Auf der Zwergen-Seite spielt das Leben.
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