Der Segen der Preise
Tag für Tag ergießt sich der Segen der Preise über einen
der vorgestellten Filme. Geraldine Chaplin bekam den ihren (CineMerit Award)
gleich zu Beginn überreicht. Der VFF TV Movie Award für den besten
deutschen Fernsehfilm ging an den Produzenten von Das Duo: Der
Liebhaber. Wer will das wissen außer den Beteiligten? Das
Füllhorn arbeitet weiter.
Als akkreditierte Journalistin entnimmt man die Preisangaben den
Pressemitteilungen. Die Festivalleitung formuliert bezüglich der Einladung
zu den Feierlichkeiten höflich: Preisverleihungen (...) sind begehrte
Festival-Events. Gern würden wir Sie alle dabei haben. Aus
Kapazitätsgründen ist das leider nicht möglich. Wenn
diese ganzen Empfänge gar nicht stattfänden, die Preise gar nicht
vergeben würden, alles inszeniert wäre?
Das Gen für den deutschen Film
Dass sich das authentisches Erleben nicht beim Sektempfang mit Schnittchen
einstellt, zeigen die Pressevorführungen. Das Gen für die euphorische
Aufnahme eines deutschen Films muss in meinem Fall nicht vererbt worden sein.
Liegen lernen von Regisseur Hendrik Handloegten langweilte mich
und begeisterte (fast) alle im überfüllten Kinosaal. Helmut liebt
Britta, engagierte Schülersprecherin in einer Kleinstadt im Ruhrgebiet.
Die Eroberung des Schwarms erfolgt über die Mitarbeit in einer politischen
Arbeitsgruppe. Helmut heuchelt Interesse für den Regenwald und
Nato-Doppelbeschluss. Beim Kleben des Flugblatts funkt es. Doch Britta geht
für ein Jahr in die USA. Der Kontakt bricht ab. Jahre später trauert
der inzwischen 32-Jährige immer noch seiner ersten Liebe nach.
Bindungsunfähig sozusagen. Die neue Freundin wird schwanger. Eine
Entscheidung steht an. Da taucht Britta wieder im fernen Berlin auf. Der
Mythos der ersten Liebe muss erst entzaubert werden, bis Helmut weiß,
wo sein Platz ist. Ist das latent frauenfeindlich?
Ein ähnlich folkloristisches Umfeld für einen kleinen unsicheren
Mann bilden die 80er Jahre in Verschwende deine Jugend von Benjamin
Quabeck. Harry, Azubi in der Sparkasse, ist im wahren Leben Musikmanager
der unbekannten Münchner Band Apollo Schwabing. Mit einem
Auftritt als Vorgruppe von DAF will er den Durchbruch schaffen. Allein DAF
weiß nichts von dem Konzert. Man muss sich nur den Gesichtausdruck
der Hauptdarsteller Robert Stadlober und Tom Schilling auf dem Filmplakat
anschauen, um zu wissen, worum es in diesem Film geht. Ganz zu schweigen
von den missionarisch geöffneten Armen der Bassistin Jessica Schwarz.
Gruselig. Retro ist in. Aber auch verdammt harmlos, wenn es als Zeitkolorit
farblose Geschichten dekoriert.
Die alten Italiener in München
Kurzfristig wurde eine italienische Reihe mit vier Filmen ins Programm genommen.
I Maestri italiani heißt sie wenig einfallsreich, da sie
vier Altmeister des italienischen Kinos versammelt. Alt bezieht sich in diesem
Fall sowohl auf das einige Zeit zurückliegende Geburtsjahr der Filmemacher
als auch auf ihr Renomee in Europa: Pupi Avati, Ettore Scola, Michele Placido
und Roberto Faenza. Auf letzteren trifft die Charakterisierung mit
Einschränkung zu, aber im Zusammenhang mit Italien, Filmen und Männern
klingt es immer gut, von Maestri zu sprechen. Um einen Querschnitt der aktuellen
italienischen Filmproduktion handelt es sich nicht, ansonsten müsste
man annehmen, dass Italien vergreise, sich historischen Themen widme und
keine Regisseurinnen besäße.
Pupi Avati, ein Freund Berlusconis und seit Januar neuer Präsident der
Holding Cinecittá in Rom, präsentierte nicht ohne Humor seinen
neuen Film Il cuore altrove über einen verklemmten
35-jährigen Lateinlehrer in Bologna, der sich hoffnungslos in eine blinde
Schönheit verliebt. Wunderschön gefilmt, toll ausgestattet, emphatisch
gespielt, besonders von dem Spielfilmdebütanten Neri Marcorè.
Die Aussage von Avati, er würde seine Erfahrungen mit Frauen in diesem
Film verarbeiten, vergisst man am besten sofort. Insbesondere die Theorie,
die er vor dem Publikum verbreitete, dass die kleinen, hässlichen Jungen
ohne Geld immer nur die kleinen, hässlichen Mädchen abkriegen.
Triumph schwang in seiner Stimme, als er ungefragt mitteilte, dass er
später eine der schönsten Frauen von Bologna geheiratet habe. Warum
unattraktive Männer immer annehmen, dass ihnen die aparten Frauen zustehen?
Vielleicht spielt das Gen für Selbstbewusstsein eine Rolle, das in der
männlichen Linie vererbt wird.
Auf Un viaggio chiamato amore von Michele Placido kann man getrost
verzichten. Der Film über die leidenschaftliche Affäre einer der
Ikonen der italienischen Frauenbewegung, der Poetin und Literatin Sibilla
Aleramo, schildert ihre zweijährigen Bindung zum exzentrischen und
offensichtlich geisteskranken Dichter Dino Campana (Stefano Accorsi). Das,
was man nie über die Aleramo wissen wollte, erfährt man hier.
Ähnlich wahnsinnig - auf der körperlichen Ebenen - geht es in Roberto
Faenzas Soul Keeper zu. Er erzählt die spannende und zudem
wahre Lebensgeschichte einer Patientin von C.G. Jung, die sich in ihren
behandelnden Therapeuten verliebt und über Jahre eine Affäre mit
dem verheirateten Mann hat. Später studiert sie selbst Psychologie und
arbeitet in Moskau als Psychoanalytikerin mit Kindern. Sabina Spielrein wurde
1942 im Alter von 57 Jahren mit anderen Juden in der Moskauer Synagoge von
den Nationalsozialisten erschossen. Auf dem Filmplakat wird die politische
Geschichte auf die amouröse Eskapade reduziert: Es zeigt zwei ineinander
verschlungene nackte Leiber auf dem Teppich.
In eine ähnliche Epoche führt Ettore Scolas Concorrenza
sleale über die Auswirkung der Rassengesetze im faschistischen
Italien auf zwei Familien, eine jüdische, eine römisch-katholische,
in einer Straße. Handwerklich gut gemacht, mit einem erstklassigen
Ensemble und den üblichen herzerwärmenden Generationenkonflikten
im Makrokosmos der Politik, die man seit La Famiglia kennt und
schätzt. Aber nicht unbedingt etwas Neues. Der Eindruck bleibt, dass
das italienische Kino auf der sicheren Seite rudert, wenn es auf bewährte
Erzähltraditionen zurückgreift. Meisterwerke mit restaurativer
Tendenz - spiegelt diese Selektion italienischer Filme die gegenwärtige
nationale (Kultur-)politik?
Die Frogs sind zurück
In der guten alten Zeit ließen sich Raumschiffe mit Bügeleisen
lenken. An Wasserkränen drehten Männer, die Helden waren.
Emanzipation stand in den Sternen, und der weibliche Teil der Besatzung
sah einfach nur gut aus. Die Crew der Raumpatrouille Orion, der
Mitte der 60er Jahre im Fernsehen ausgestrahlten Science-Fiction-Serie, feierte
ihren Rücksturz ins Kino auf dem Filmfest in München.
Dass das Weltall, in dem das Raumschiff kreiste, auf dem Studiogelände
der Bavaria entstand, sah man der siebenteiligen Serie an, die vor der
Mondlandung im Fernsehen lief. Statt auf moderne Technik setzten die Produzenten
auf absurde Details, slapstickartige Dialoge und selbstironische Charaktere.
In der 88 Minuten langen Kinoversion, die am 24. Juli bundesweit startet,
hält Elke Heidenreich im Orion-Look als Moderatorin der
Sternenschau die intergalaktischen Fäden in der Hand. Commander
Dietmar Schönherr pflegt einen Gesichtsausdruck, rettet nebenbei die
Erde und bekommt am Schluss wieder das Mädchen, Leutnant Tamara alias
Eva Pflug.
Dass deutsches Film- und Fernsehschaffen auch nach fast 40 Jahren nicht alt
aussieht, belegt die Premiere des sich nicht so wichtig nehmenden
intergalaktischen Kultfilms. Dagegen wirken einige Produktionen aus der Reihe
Made in Germany auf dem Filmfest in München vorzeitig vergreist.
Dont look away
Träume mit offenen Augen schmust das Motto des
diesjährigen Filmfests mit dem Betrachter. Die echten Liebesgeschichten
spielten in anderen Welten: in Indien, in Bangladesch, in Afghanistan. Mr.
& Mrs. Iyer von der Gallionsfigur des feministischen Kino
Indiens, der Regisseurin Aparna Sen, thematisiert den Religions- und
Kastenkonflikt in der gegenwärtigen Gesellschaft. Eine verheiratete
Hindu-Frau und ein muslimischer Fotograf geben vor, ein Ehepaar zu sein,
um auf einer Busreise nach Kalkutta nicht von hinduistischen Extremisten
bedroht zu werden. Der Film gleitet nie in süßliches Pathos ab,
sondern erzählt die Annäherung des fremden Paares mit großer
Sensibilität. Indem sie dem hilfsbereiten Fremden widerwillig ihren
Familiennamen gibt, schützt die junge Frau ihn vor religiös motivierten
Übergriffen während der Unruhen in einem ländlichen Bezirk.
Ich will dich hassen
Aus der Ferne Abschied nehmen. In dem türkischen Film Distant
fährt der Protagonist, wieder ein Fotograf, zum Flughafen, um die Abreise
seiner Exfrau mit ihrem neuen Partner nach Kanada aus sicherem Abstand zu
beobachten. In The Lover, einem Beitrag aus der Reihe Tributes
für den russischen Schauspieler Oleg Janovskij erfährt der Ehemann
nach dem plötzlichen Tod seiner Ehefrau, dass sie über Jahre einen
Liebhaber hatte. Im Moment der Entdeckung des Betrugs, dem Auffinden eines
Briefes an den Liebhaber im Nachlass, hört man nur das entsetzte, laute
Atmen des Ehemanns Als er den Liebhaber findet, ihn verprügelt, stehen
sich die beiden Männer gegenüber und ihre Gesichter, ihre Wangen
scheinen sich wie im zärtlichen Aneinanderschmiegen zu berühren.
Dagegen schlägt die Tochter ihrer Mutter in dem britischen Film The
Mother ein blaues Auge. Nach dem Tod des Vaters hatte diese eine
Affäre mit dem Liebhaber der Tochter angefangen. Die Stille, den Abstand
und die Verzweiflung über das Leben aushalten - dünnhäutig
geworden verlässt man das Kino.
Die Liebe der Frauen
Die 80er waren Thema im deutschen Film. Girls just wanna have fun,
ein Musiktitel von Cindy Lauper aus der gleichen Epoche führt in
Hysterical Blindness, dem neuen Film der in Indien geborenen
Regisseurin Mira Nair (Monsoon Wedding) in die 80er Jahre in
New Jersey zurück. Uma Thurman, Juliette Lewis und Gena Rowlands tragen
die engen Jeans, die figurbetonenden Tops im Leoparden-Stil, die Leggins
und die antoupierten Haare, als wären sie darin geboren. Die Suche nach
einem Mann macht die eine Frau hysterisch blind für die Realität,
die Warnungen der Freundin, die das Suchen aufgegeben hat, überhört
sie, und der dritten Frau begegnet die wahre Liebe, die sie nur kurze Zeit
genießen kann. Dass das Glück nicht auf der Wiese, aber vor der
eigenen Haustür liegt, ist eine Erkenntnis, für die alle drei Frau
einiges ertragen müssen. Ein Frauenfilm, in dem die hysterische Suche
nach dem Mann fürs Leben beim Zusehen weh tut und das bittersüße
Happy End wenig Linderung schafft.
Die romantischen Seiten des Lebens
Wie viel Romantik im Elend entstehen kann, zeigen zwei völlig
unterschiedliche Filme: Oasis vom koreanischen Regisseur Lee
Chang-dong gewinnt den Preis für die ungewöhnlichste Paarbildung
auf dem Festival: ein kleiner Gangster verliebt sich in eine
körperbehinderte junge Frau. So respektvoll wie spannend erzählt.
In One on One lebt der schweigsame Macak mit seinem Großvater
in einer heruntergekommenen Hochhaussiedlung in Belgrad. Der tristen Umgebung
entflieht er beim Basketballspiel, das er hervorragend beherrscht. Als er
sich das erste Mal in seinem Leben verliebt und die örtliche Mafia seine
Freunde bedroht, greift Macak erst zum Baseballschläger und dann zur
Pumpgun. Wie in einem Western lässt der serbische Regisseur Mladen Maticevic
die Kontrahenten im Showdown aufeinander treffen. Gegendas
Großstadtghetto in Belgrad wirkt 8Mile mit Eminem wie
Disneyland.
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