Nachlese - Filmfestival in Venedig

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Nachlese - Filmfestival in Venedig
Von Ulrike Mattern

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Filmfestivals ähneln Pfadfinderlagern. Tagelang irrt man durch provisorisch errichtete Zelte. Auf der Suche nach dem besten Film, einer sättigenden Mahlzeit, sanitären Anlagen und interessanten Gesprächspartnern. Eine luxuriöse Variante des kollektiven Campens ist das Festival in Venedig. Auf dem Lido schnellen die Preise für Kost und Logis Ende August in exorbitante Höhe, wenn die akkreditierten Gäste zur Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica anreisen.

Seit 1932 pilgert man auf die schmale Landzunge, welche die Lagune von der Adria trennt, um an zehn Tagen „Cinema as a true form of Art“ zu sehen, wie es Festivaldirektor Moritz de Hadeln im Grußwort des Katalogs formuliert, nicht ohne hinzuzufügen, „there is no Art without business“. In der Zeitrechnung der Festivalleitung feierte man dieses Ereignis zum 60. Mal. Unliebsame Erinnerungen an die 40er und 70er Jahre wurden getilgt. Trotzdem ging auch zum Jubiläum nicht alles glatt über die Bühne. Endlose Schlangen vor den Kinos, lautstark protestierende Akkreditierte, die 40 Euro zahlen mussten, aber trotzdem nicht in den Saal gelangten, führten in den ersten Tagen zu tumultartigen Szenen, die teils durch die Präsenz von Carabinieri entspannt werden mussten. Zu diesem verblüffenden Bild eines renommierten Festivals, das seinem zahlenden (Fach-)Publikum mit Hilfe der Polizei den Zugang zum Kinosaal verwehrt, passte der Titel des Abschlussfilms vom letzten Samstag: „Summer Madness“, die Wiederaufführung der restaurierten Version einer Komödie mit der Ende Juni verstorbenen Schauspielerin Katharine Hepburn in der Hauptrolle.

Mit einer Komödie aus dem unerschöpflichen Neurosen-Potential des Regisseurs Woody Allen („Anything Else“) hatte das Festival eröffnet. Moritz de Hadeln, vor seiner Berufung 2002 zum Direktor der Mostra in Venedig bereits in derselben Position in Locarno und lange Zeit in Berlin tätig, unternahm auch bei seinem zweiten Einsatz keine Experimente. Die Mischung aus einem sich gehoben gebärenden Mainstream, der die Stars (Clooney & Co.) an den Lido und zum Schaulaufen auf eine Rampe vor den Festivalpalast brachte, die wie aus dem Baumarkt entwendet aussah, und Bekannten aus dem publikumskompatiblen Bereich des Arthouse-Kinos (Kitano & Co.) zieht die Massen an und liefert delikate Bild- und Texthäppchen. Grummelnde Kritiker des Spektakels befriedigt man in Venedig mit genau dosiertem Kunstkino - in Form eines Wettbewerbs in der „zweiten Reihe“, Controcorrente (Gegenstrom), Raum für Außergewöhnliches bei den Nuovi Territori (Neue Gebiete), unzähligen Sonderreihen und Retrospektiven wie etwa zu den italienischen Produzenten zwischen 1945 und 1975.

Betrachtet man diesen Kosmos zum ersten Mal, möchte man dem leidenschaftlichen Ausruf von Peter Greenaway zustimmen: „Cinema is dead - long live Cinema.“ Am liebsten hätte der Regisseur, neben der Vorstellung des dritten Teil seiner Trilogie „The Tulse Luper Suitcases: Antwerpen“, eine Konferenz zu diesem Thema abgehalten. Not amused war die Festivalleitung, die dieses Ansinnen im Jubiläumsjahr als wenig opportun betrachtete, aber die Anregung immerhin erwähnte. Die harsche Kritik Greenaways am gegenwärtigen Kino, das er als „poor narrative medium“ charakterisiert, korrespondiert allerdings nicht mit dem eigenen Schaffen. Nachdem bereits auf den Festivals in Cannes und Berlin die ersten Teile seines multimedialen Film-, Internet- und DVD-Projekts aufgeführt wurden, hinterlässt auch der neueste Part ein Gefühl der Ratlosigkeit. Wie animierte Gemälde aus der Kunstgalerie, aufwändig ausgestattet und theatralisch gut gesprochen, wirken seine Filme seit „Prospero’s Books“, wiederholen im monotonen Rhythmus am Computer generierte Spielereien mit überlappenden Bildausschnitten und stakkatoartigen Wortwiederholungen. An den sich zur Schau stellenden, Blut und Schweiß absondernden Leibern sowie den kopulierenden Paaren hat man sich inzwischen satt gesehen.

Historisches Ausstattungskino bot der deutsche Beitrag „Rosenstraße“ von Margarethe von Trotta. Die eigentlich spannende Geschichte über den Widerstand von als „arisch“ geltenden Frauen gegen den Abtransport ihrer jüdischen Männer 1943 in Berlin wird im Rückblick aus einem Mutter-Tochter-Konflikt in der Gegenwart in New York erzählt. Dies reißt die Handlung in zwei sich nicht ineinander fügende Teile, die durch eine platte Symbolik, penetrante Musik und seltsame Dialoge geprägt sind. Die Jury fand die Leistung von Hauptdarstellerin Katja Riemann jedoch so beachtlich, dass sie ihr den Coppa Volpi für die beste weibliche Darstellung verlieh.

Wie unergründlich solche Entscheidungen sind, zeigen drei italienische Filmen (zwei im Wettbewerb, einer außer Konkurrenz), die sich wie ein politisches Triptychon lesen lassen und zu den aufregendsten Entdeckungen in Venedig gehörten. „Segreti di Stato“ (Secret File) von Paolo Benvenuti befasst sich in einem sparsamen Kammerspiel mit den fiktiven Untersuchungen eines Anwalts zu den realen Schüssen auf eine 1.-Mai-Demonstration 1947 in Sizilien, bei der elf Menschen starben und 27 verletzt wurden. Schritt für Schritt wird die Verflechtung diverser Interessengruppen (Mafia, Regierung, Geheimdienste) bei den Ereignissen aufgedeckt. „The Dreamers“ von Bernado Bertolucci spielt in Paris im Jahre 1968. Während auf den Straßen die Studenten Barrikaden errichten, ziehen sich ein Geschwisterpaar und ein amerikanischer Student zu intimen Spielchen, die bald außer Kontrolle geraten, in eine Wohnung zurück. Bis der erste Pflasterstein durchs Fenster fliegt, und die Straße den Raum erobert. Auf den Barrikaden endet der kurze Sommer der sexuellen Anarchie. Ein weiteres Kapitel der italienischen Geschichte beleuchtet Regisseur Marco Bellocchio mit dem von Kritik und Publikum begeistert aufgenommenen, von der Jury in Venedig mit einem Preis für das Drehbuch abgespeisten „Buongiorno, notte“. Aus der Sicht einer Terroristin der Roten Brigade schildert der Film die Entführung und Ermordung des Christdemokraten Aldo Moro im Jahre 1978. Inspiriert von dem Buch „Il prigioniero“ der Ex-Brigatistin Anna Laura Braghetti gönnt der seit „I pugni in tasca“ (1965) als „Bürgerschreck“ geltende Bellocchio der Geschichte ein - erträumtes - Happy End. Wenn der Schauspieler Roberto Herlitzka in seiner Rolle des gekidnappten Politikers frühmorgens durch die Straßen von Rom läuft, ist das so unglaublich, als lebten Romeo und Julia glücklich bis ans Ende ihrer Tage.

Das Festival baut seine Zelte ab. Die Preise sind verteilt (Der Goldene Löwe ging an den russischen Film „The Return“). Berlusconi, Ministerpräsident der so genannten Zweiten Republik, ließ dieser Tage wieder eine seiner unsäglichen Tiraden gegen die italienische Justiz los. Auf dem Lido beschäftigte man sich derweil mit den Konflikten und Träumen aus der Ersten Republik. Wenn man den Titel der noch bis zum 2. November andauernden Kunst-Biennale in Venedig, „Dreams and Conflicts. The Dictatorship of the Viewer“ auf die politischen Verhältnisse überträgt, sollte der Zuschauer einiges zu interpretieren haben.

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