Erstaunlich, wie wenig All About Lily Chou-Chou zu tun
scheint, was der Film, alles in allem, sehr virtuos tut: eine Geschichte
erzählen. Die Bilder wirken wie Fundstücke aus den Leben, in die
sie einen Einblick geben; die Komposition drängt sich (weiß Gott)
nicht in den Vordergrund, tritt man aber ein Stück zurück, merkt
man, wie sich alle Geschehnisse um ein Zentral- und wenige Nebenmotive
gruppieren. Das Zentralmotiv ist das des tyrannischen Cliquendrucks unter
Jugendlichen, der zu seelischer und auch körperlicher Bestialität
führt. Als Nebenmotive bringt Iwai, auf den ersten Blick ganz genre-konform,
erste, schwierige Lieben, gemeinsame Ausflüge und Schulprobleme ins
Spiel. Weniger ein Motiv als der Hintergrund, vor dem der Rest in Szene gesetzt
wird, ist die Titelfigur, die nie persönlich auftritt, um deren Musik
aber ein nicht geringer Teil der Gespräche kreist: Lily Chou-Chou, eine
(fiktive) Pop-Ikone.
Gespräche ist freilich irreführend: es sind kurze Sätze
aus Internet-Chats, die Iwai als Buchstaben-Bilderbeat unter seinen Film
legt, Sätze, die um den mysteriösen Äther kreisen, dem sich
Lily Chou-Chous Genie verdanken soll. Kompletter Blödsinn also - und
darin nicht nur realistisch, sondern, dank der Entstehungsgeschichte des
Films sogar ganz authentisch. Begonnen hat Iwai das Projekt als interaktiver
Web-Roman, der nach und nach und unter heftiger Mitwirkung der Besucher entstehen
sollte; das Projekt wurde abgebrochen, aber viele der Chat-Zeilen sind direkte
Inputs der Website-Bsesucher. Im Film werden sie nun zu Material, aus dem
Iwai die zentrale Beziehung seiner Geschichte modelliert, die in Tyrannei
umschlagende Freundschaft zwischen dem schüchternen Yuichi und dem vom
Musterschüler zum brutalen Cliquen-Anführer sich entwickelnden
Oshino.
Beide führen ein Doppel-Leben, das reale und das virtuelle (und
das eine weiß, ein bisschen wie bei Lubitschs Rendezvous nach Ladenschluss,
nichts vom anderen; nur dass das hier die tiefschwarze Variante ist), für
beide Leben führt Iwai Bilder vor: auf der einen Seite die Chat-Zeilen
vor schwarzem Hintergrund, als zusätzlicher und verstärkender Schnitt
ins Abbildungs-Bilder-Gewebe die nervös aufblitzenden Reload-Signale,
die auf jeden neuen Eintrag folgen. Andererseits die von einer
hochauflösenden digitalen Videokamera in satten und sehr schönen
Fehlfarben aufgenommenen Szenen, die die Jugendlichen in ihrem Alltag zeigen.
Die Schönheit der oftmals leicht taumeligen Bilder wird dabei von der
abgrundtiefen Bösartigkeit der Handelnden konterkariert. Yuichi, ein
geborenes Opfer, sucht Anschluss an den als vermeintlicher Streber ausgegrenzten
Oshino. Tatsächlich kommen sie sich näher, machen mit Freunden
einen Abenteuer-Urlaub auf Okinawa.
Diesen Urlaub filmt Iwai als Homevideo, verwackelt, ziel- und belanglos,
urplötzlich und unvorbereitet aber kommt es zu zwei traumatisierenden
Ereignissen: Oshino ertrinkt um ein Haar und ein Mann, den die Reisegruppe
auf der Insel kennengelernt hat, gerät vor ein Auto. Danach ist Oshino
wie verwandelt. Die Art dieses Umschlags ist typisch für den Film, das
Schockerlebnis ist die fast nur symbolische Erklärung für die
Veränderung. Der Film argumentiert nie psychologisch, das Verhalten
der Figuren bleibt erratisch, oft schwer verständlich, ist nicht recht
in eine vernünftige Kontinuität zu bringen. Redundanzen und Phasen,
in denen buchstäblich nichts passiert (auch dem geduldigen Betrachter
wird's da gelegentlich zu viel) stehen plötzliche Ein- und Ausbrüche
von Gewalt und Tempo gegenüber - und seltsamerweise gibt gerade dieses
Hin und Her dem Film einen klaren Rhythmus. Und was als blinder Pfad erscheinen
mag, wird stets zurückgebunden an die wenigen wichtigen Motive des Films,
der eher unerwartet noch auf einen letzten Höhe- und Schlusspunkt zusteuert
und die beiden Hauptfiguren bei einem Konzert von Lily Chou-Chou ein letztes
Mal aufeinandertreffen lässt.
Eine der großen Stärken des Films ist es, dass ihm nicht
auf die Stirn geschrieben steht, was er eigentlich will. Ein Porträt
japanischer Jugendlicher von heute ist er genauso wie eine zwischen Mystizismus
und Schocks pendelnde Meditation über Musik und Sehnsüchte; manchmal
ein Bildergedicht; manchmal selbstgefällig, manchmal atemberaubend.
Wer die Geduld aufbringt, sich auf All About Lily Chou-Chou einzulassen
(der Film macht es einem nicht immer leicht), darf sich auf ein faszinierendes
Film-Erlebnis gefasst machen.
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