» ... to entertain you.«
Über die Jahrzehnte seines Bestehens ist der Serienmörderfilm
bemüht, seine Erzählung plausibel zu gestalten. Die verschiedensten
Motive und Ästhetiken haben sich in das Genrebewusstsein der Zuschauer
eingeschrieben, die den jeweiligen Film als "authentisch" ausweisen - selbst
wenn diese genau das Gegenteil - man könnte sagen "Medialität"
- anzeigen. Ein Spiel zwischen Zuschauer, Film und Produktion ist dabei
entstanden, dass mit Erwartungen operiert und diese erfüllt oder
enttäuscht, ganz im Sinne authentisierender Wirkung. Vor allem mit dem
Dokumentarischen ist der Serienmörderfilm eine Verbindung eingegangen,
da die Sujets beider Genres/Gattungen einem Konzept von Wirklichkeit verpflichtet
sind, die sich angeblich filmisch abbilden lässt.
"Aro Tolbukhin" steht in der noch sehr jungen Tradition hyperrealistischer
Serienmörderfilme. Er ist komplett wie ein Dokumentarfilm über
seinen gleichnamigen ungarischen Serienmörder gestaltet. Dieser hat
in einer Missionsstation in Guatemala sieben Menschen bei lebendigem Leib
verbrannt. Er wird vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Eine
Journalistin sucht ihn im Gefängnis auf und interviewt ihn über
seine Taten und seine Motive. Dazu wird dokumentarisches Material aus der
Mission in Guatemala montiert, wo Aro gelebt und gearbeitet hat und eine
besondere Beziehung zu der dort lebenden Missionarinnen-Schwester Carmen
unterhalten hat. Auch diese wird, Jahre nachdem sie aus dem Missionsdienst
ausgeschieden ist, interviewt und soll den Charakter und die Taten Aros
verständlich machen.
Schon nach wenigen Sekunden fällt auf, dass mit den dokumentarischen
Bildern, die "Aro Tolbukhin" präsentiert, irgendetwas nicht stimmt:
Viel zu schnelle, dramatisierende Fahrten, Soundtrack-Schnipsel und
"unmögliche" Kamerapositionen leugnen, dass es sich um nicht-inszenierte
Bilder handelt. Auf der Oberfläche versucht der Film diesen Anschein
jedoch aufrecht zu erhalten. Es wechseln Schwarz-Weiß-, mit unscharfen
und grobkörnigen Bildern, es gibt Perspektiven, die scheinbar versteckt
hinter irgendwelchen Mauern Menschen beobachten und Schrifteinblendungen,
die Darstellungszeit und -ort belegen sollen.
"Aro Tolbukhin" legt mit dieser Simulation von Authentizität Fallstricke
für den Zuschauer aus. Alles hat den Anschein einer Dokumentation über
den Serienmörder. Nach und nach komplettiert der Film die Motive der
Tat aus der Schatzkiste filmischer Plausibilitätsbildung. Das, was er
nicht zu ermitteln imstande ist, wird kurzer Hand wie ein "Kurzfilm über
Aros Kindheit" in sauberen Schwarz-Weiß-Bildern (die "Vergangenes"
und "Artifizialität" gleichermaßen suggerieren - und damit alles
verständlich ist, wird in Ungarn kurzerhand Spanisch gesprochen) eingebaut.
Aros Kindheit und Jugend, über die die Journalistin nur von einer ehemaligen
Haushälterin und nur in Fragmenten Kenntnis hat, wird durch diesen Kurzfilm
"sinnvoll" rekonstruiert: Wir sehen, dass Aros Mutter früh gestorben
ist, dass Aros Vater dies den Kindern verschwiegen hat, indem er behauptete,
die Mutter läge über Jahre hinweg krank in einem Nebenzimmer, dass
Aro eine quasi-inzestuöse Beziehung zu seiner Zwillingsschwester Selma
hatte ... und dass diese Schwester schwanger ein Opfer der Flammen wurde.
Alles passt also prima zusammen in "Aro Tolbukhin": Der Mörder soll
über Jahre hinweg vor allem Schwangere Frauen überfallen und lebendig
verbrannt haben (die Kamera von "Aro Tolbukhin" ist übrigens dabei
gewesen!). Das Täterprofil ermittelt eine schwierige Kindheit, die Beziehung
zwischen Aro und Schwester Carmen stellt sich als komplett neurotisch heraus:
Aro hält diese für seine verstorbene Schwester Selma. Als die Beziehung
eine für eine Missionsschwester heikle Qualität gewinnt, verlässt
Carmen die Station und Aro und löst durch diesen "Verlust" die Katastrophe
aus.
"Aro Tolbukhin" destruiert die Sehgewohnheiten des
Serienmörderfilm-Zuschauers, indem er dessen Erwartungen an das Genre
erfüllt, gleichzeitig aber so auffällig "lügt", dass man
weiß, dass man es mit einem Fake zu tun hat. Nur der Grund, aus dem
"gefaket" wird, bleibt unklar. Alles, was sich über die Jahrzehnte hinweg
an Ästhetiken zur Authentisierung im Serienmörder-Genre etabliert
hat, denunziert der Film als "Gemachtes". Das mediale Bild über die
Taten und den Täter, suggeriert der Film, ist immer schon präformiert,
mit "falscher" Bedeutung aufgeladen, auf ein narratives Ziel hin montiert
und versucht eine Plausibilität zu generieren, die die außerfilmische
Wirklichkeit nie bereit hält.
Das Leben ist eben kein Film - der Film ist lediglich ein rationalisiertes
und rationalisierendes Abbild des Lebens. Als der inhaftierte Aro kurz vor
Schluss des Films den Bericht über seine Jugend in Ungarn beendet (und
der Schwarz-Weiß-Film, den wir als diesen Bericht gesehen haben, damit
ebenfalls zu Ende ist), fragt ihn die verwunderte Journalistin: "Warum haben
Sie mir das alles erzählt?" Der Zusammenhang zwischen den Taten Aros
und seinem Erinnerungsbericht scheint ihr noch nicht gegeben. Die narrativen
Kohärenzen sind noch nicht geknüpft. Umso aufrichtiger und
bezeichnender ist dann auch Aros Antwort auf die Frage: "Um Sie zu unterhalten."
Aro Tolbukhin
Spanien/Mexiko 2002
Regie: Isaac-Pierre Racine / Augustin Vilaronga / Lydia Zimmermann
Länge: 114 Minuten
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