Ein kleines Dorf, irgendwo auf der anderen Seite der chinesischen Mauer,
dort wo alte Legenden und Traditionen bis heute lebendig geblieben sind.
Man hängt etwa dem merkwürdigen Glauben an, dass sich unverheiratete
Tote einsam fühlen. Regisseur William Kwok Wai Lun, der mit Wing Wang
auch das Drehbuch schrieb und seine Ausbildung in Hong Kong und New York
genoß, wurde durch einen Zeitungsartikel auf diesen Brauch aufmerksam.
In einem weit abgelegenen Landstrich des riesigen Landes kam man einer
Gaunerbande auf die Spur die frische Gräber aufgebrochen hatten. Die
entwendeten Leichen der toten Frauen wurden umgehend feilgeboten um in magischen
Heiratsritualen an den bereits verstorbenen Singlegatten verkuppelt zu werden.
In "Darkness Bride" verbindet Kwok Wai Lun diese skurrile Geschichte mit
einer fest verankerten chinesischen Tradition: der Würde der
Jungfräulichkeit.
Es geht also um die Zwiespältigkeit von Moralbegriffen und deren Verfall,
die beinahe exemplarisch anmutend in der Dreiecksbeziehung zwischen dem
verschlossenen Sissy, dessen bescheuerter Name wohl auch im chinesischen
ähnlich dämlich klingt, seiner kindlichen Verlobten Qing Hua und
dem Waisenknaben Chun Sheng. Qing Hua träumt von einer rot gekleideten
Frau, von Menschen umringt, Chun Sheng wird etwa zur selben Zeit dazu angestiftet
das "Grab der Jungfrau" zu plündern, jener Ort, an dem der Legende nach
eine Frau auf der Flucht vor Räubern von einem Felsen sprang um ihre
Jungfräulichkeit zu retten. Bereits in der Hochzeitsnacht sitzt Chung
Sen mit am Tisch, heimlich versteht sich, und stößt mit Qing Hua
und ner Pulle Hochprozentigem aufs Leben an. Wenig später ist Sissy
spurlos verschwunden. Nachdem er kurzerhand von den Dorfältesten für
Tod erklärt wird, soll ihm Qing Hua ins Jenseits folgen. Die eigene
Mutter mischt ihr den Giftcocktail. Für das unerkannte Liebespaar ist
die Zeit reif um aus dem Nest zu fliehen und das Glück in der großen
Stadt zu suchen.
Der Film besteht aus zwei etwa gleich großen Teilen. Die erste Hälfte
spielt im Dorf, in den selbst für chinesische Verhältnisse
ärmlichen Lehmhöhlen, die in die hügelige Landschaft getrieben
wurden - in einem mittelalterlich anmutendem Sozialverbund, inmitten einer
kargen Landschaft, der Kameramann Wong Ping Hung immer wieder Bilder von
bemerkenswerter Schönheit abringen kann. Die Erzählung braucht
sehr viel Zeit um zu sich zu kommen, ist zunächst damit beschäftigt
das Setting zu beschreiben, uns die Lebensumstände und die befremdlichen
Rituale der Menschen näherzubringen. Die Einstellungsgrößen
lassen uns kaum Luft, der abgeschrittene Raum, auch wenn wir häufig
den Handlungsort wechseln, bleibt überschaubar. Dann jedoch, immer
wiederkehrend, über den ganzen Film verteilt, löst sich der Blick.
Wir gewinnen Distanz zu den Figuren, zu ihrer Welt und begreifen dadurch
erst ihre Umstände. Mal ist es eine Kranfahrt, mal ein Dollyshot, immer
jedoch sind es freischwebende, gleitende Kamerafahrten, die einen krassen
Kontrast abgeben, zu dem was der Film dazwischen an Sozialstudie betreibt.
Im zweiten Teil dann die Stadt. Sissy wird zunächst gezeigt, der sich
mit der Animierdame Yan Yan angefreundet hat, ihr die Kunden zutreibt und
dabei von einer Gaunerbande instrumentalisiert wird, die den Freiern das
Geld abpresst. Er trinkt zum ersten Mal Cola, findet gefallen an Kentucky
Fried Chicken. In einer erbärmlichen Unterkunft trifft er schließlich
auf Qing Hua und Chung Sheng, die in die Stadt gekommen sind um ihn zu suchen.
Wie zu erwarten reagiert Quing Hua eifersüchtig auf Yan Yan, die den
beiden Männern bald den Kopf verdreht hat.
Auch in der Stadt verfolgt Kwok Wai Lun das gleiche Prinzip. Wir sehen immer
nur Ausschnitte, eine desolate Wartehalle, der winzige Fiseursalon, in dem
Yan Yan unterschlüpft, die Gießerei, in der Chung Seng Arbeit
findet. Der allgegenwärtige Verfall wird zum ästhetischen Prinzip
erhoben. Hier beschränken sich die beschriebenen Fahrten auf
Hinterhöfe oder Fußgängertunnel. Die einzige Totale zeigt
ein Kraftwerk, vor dessen Hintergrund Betonpfeiler aus der Erde ragen. Nicht
nur hier, auch bereits vorher, wenn ein verdörrter Baum das Bild dominiert,
kommt einem Tarkowskij in den Sinn - die Stadt erinnert an die verbotene
Zone aus "Stalker" - oder vielleicht sogar Lars von Trier, was die
tableauartigen, durch die Kadrierung wie gerahmt wirkenden Bilder anbelangt.
"Darkness Bride" ist aber zuallererst unabhängiges chinesisches Kino,
wie man es ähnlich auch schon in den Jahren zuvor im Forum beobachten
konnte. In der letzten Einstellung etwa sitzt Sissy in der Polizeistation.
Kurz zuvor erst hat er Bekanntschaft gemacht mit der alltäglichen
staatlichen Willkür, die Kleinkriminelle oder einfach nur Pechvögel
auf Lieferwägen verlädt und vom plärrenden Megaphon begleitet
durch die Stadt karrt. Als er da so sitzt, auf der Bank, entfernt sich die
Kamera von ihm und zeigt uns zum ersten und einzigen Mal die Stadt im
zusammenhängenden Kontext. Vor unseren Augen verschwindet die
Häuserzeile hinter einer Wegbiegung, auf den unbefestigten Straßen
verstreut liegt verlorengegangenes Transportgut - saftig rote Tomaten, die
in ihrer Farbe an das Mädchen aus Qing Huas Träumen erinnert. Der
Film kommt schließlich mit diesem Bild zu seinem ursprünglichen
Anliegen zurück und es ist beinahe als stünde er sich mit diesem
bemüht wirkenden thematischen Überbau selbst im Weg.
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