Durch die südchinesische Provinz Yunnan verläuft die alte
"Pferde-Tee-Straße" (oder "Tee-Pferde-Straße"? Chin. "Chamagudao"),
die China mit Tibet verbindet und weiter nach Nepal, Bhutan undsoweiter
führt. Tian Zhuangzhuang, bekannt als Regisseur von "The Horse Thief"
und "Blue Kite", hat diesem Text zufolge drei Jahre lang in Yunnan verbracht,
mit einer DV-Kamera, forschend (wenn man auch nicht genau erfährt, was
und wie). Dann hatte er die Idee zu einer Fernsehdokumentation. Nach ihrer
Fertigstellung wurde er angeregt, auch einen fürs Kino gedachten
Dokumentarfilm über die Region zu drehen. Das ist "Delamu".
"Delamu" folgt einer Eselskarawane aus Yunnan bis in ethnisch tibetische
Regionen hinein, entlang des Nujiang-Flusses, der die Grenze von China und
Myanmar markiert. Die weissen Säcke auf den Rücken der Esel sind
kleine Punkte, die auf einer schwarzen Linie von rechts nach links durch
einen Berg tänzeln, langsam, sehr langsam, begleitet vom Rauschen des
breiten Flusses im Tal. Landschaften, die klar gestochen erscheinen, auch
wenn sich Nebel- und Dunstschwaden über sie legen: Berge mit und ohne
Bewaldung, Sandiges, Schlammiges, Klippen, dünne Brücken über
reissende Flüsse, Drahtseile, an denen Menschen und Esel über
Flüsse gezogen werden, Wege an gar nicht mal so steil aussehenden
Sandabhängen, die nur frühmorgens begangen werden können,
denn sonst gäbe es Stürme und Abgänge und man könnte
sich dann gleich auch so in den Fluss stürzen (sage ich, sagt nicht
der Film), gegen Ende dann höhere Gebirge, grelleres Sonnenlicht, weisser
Schnee. Viele Bilder von Landschaft aus der Ferne, mit Menschen und Siedlungen
als kleine Punkte, reglose Ameisenhäuflein, sich langsam windende
Würmer. Langsame Kamerafahrten über Landschaft, begleitet von leicht
angequaster, dezent dudeliger und sanft ethnisierter Schwingmusik elektronischer
Herkunft (da hätte man viel mehr falsch machen können, übrigens;
Panflöten habe ich keine gehört, und das war gut so).
Die Leute führen ihre Esel, sie bestellen ihre Felder, sie scherzen,
sie arbeiten, sie rauchen. Sie sitzen und erzählen dem Regisseur ihr
Leben, in vielen verschiedenen Sprachen und Dialekten, meist in dunklen
Räumen mit einer oder zwei Tageslichtquellen von draussen. Es ist still,
die Wände sind geschwärzt von der Zeit, drei, vier Fliegen surren
am Fenster, handgeschnitzte Schränke stehen da und krumme Sitzbänke.
Eine Großfamilie isst; dabei spricht eine Frau von all dem, was noch
zu tun ist, damit die Gäste kommen könnten, ja, ein zinsenfreier
Kredit wäre schon gut, und was die da immer machen, die da, geben
Hunderttausende Yüan für Toilettanlagen aus, aber gute Strassen,
nein, die bauen sie nicht, und zinsenlose Kredite für so kleine Leute,
die die Gäste unterbringen können, nein, die gibt es auch nicht.
Ein Dorfvorsteher, dessen Frau abgehauen ist, so dass er dann mit ein- und
vierjährigem Sohn allein da sass, dann kam sie zurück und wollte
den einjährigen mitnehmen, was sollte er denn dann dem vierjährigen
sagen, und die Dorfbewohner, sie reden, nein, er hätte es satt, so viele
Probleme, er wolle nicht mehr Dorfvorsteher sein.
Ein Karawanenführer, vier Esel hatte er, einer ist gestorben, sie sind
sehr arm dort, wo er herkommt, dass der eine Esel nicht mehr ist, macht sie
gleich noch ärmer, er gibt seinen Eseln immer Namen, lange kann er
nachdenken über passende Eselsnamen, glückbringende Eselsnamen
denkt er sich aus, so wie "Delamu" zum Beispiel.
Ein Bub in einem Bretterkiosk am Weg. Sein Vater säuft, Oma und Tante
haben ihn dann hochgezogen, und dann hat er mich mit der Flasche geschlagen,
sie waren wütend, ich war auch wütend, aber er sagt, er liebt mich,
und ich liebe ihn auch, und jetzt spiele ich meist allein, ich spiele nicht
viel mit den anderen Kindern im Dorf, weil ich so große Ohren habe.
Ein alter Mann, sein Gesicht sieht man nicht im Gegenlicht, hat sein Leben
auf den Handelspfaden zugebracht, Lhasa sowieso, man ging bis Indien, ja,
klar, mit gefälschten Dokumenten, Opiumschmuggel, immer alles schwierig
mit den Strassen, offen oder zu, Murenabgänge, Winterstürme, nicht
einfach, und das war mein Leben, so rattert er dahin, die englischen Untertitel
kommen kaum nach und das österreichische Publikum lächelt irgendwann
vor Überforderung kollektiv auf.
Ein junger Lama, spricht einen chinesischen Dialekt, kam in die Gegend und
zu diesem "Beruf", weil ihm ein Freund erzählte, es wäre so friedvoll,
ja, es sei wirklich so friedvoll, sehr ruhig, er würde jetzt Tibetisch
lernen, nein, an das Mädchen würde er nicht mehr viel denken, sie
war sehr schön, 14 oder 15, sie tanzte und er lernte Gitarre spielen,
dann wurde er Lama und sie hat mittlerweile einen anderen geheiratet, nein,
er denkt nicht mehr an sie, das tut er nicht.
Eine junge Frau, gefilmt in der Dorfschule, sie muss doch auch an ihre Eltern
denken, ihre drei Schwestern sind schon wegverheiratet, nur noch sie ist
da und muss die Eltern versorgen, jetzt ist sie Aushilfslehrerin, aber es
gibt keine Aussicht auf eine feste Anstellung, sie muss einen Mann suchen,
aber sie will lieber alleine bleiben als mit einem Mann, den sie nicht liebt,
sie möchte eine gute Lehrerin sein, aber es gibt keine Aussicht auf
eine richtige Lehreranstellung, für das Holzhacken müssen sie jetzt
zu Hause eine Hilfskraft anstellen, seit sie Aushilfslehrerin ist, die Schwestern
sind ja auch schon aus dem Haus, sie möchte in die Stadt, ihren Mann
suchen, es ist dieses Unglück, das ist ihr Unglück, nein, sie will
nicht mehr darüber reden, sagt sie, lächelt und redet weiter über
ihr Unglück.
Manchmal hört man den Regisseur zwischendurch Fragen stellen, aber meistens
reden die Menschen allein, über lange Strecken erzählen sie. Man
könnte ihnen stundenlang zuhören, ich könnte ihnen stundenlang
zuhören, was mich nicht daran hinderte, während des Anfangsteils
des Filmes kurz einzunicken; es war so stickig im Kino. Gemerkt habe ich
mir sicher auch nicht alles richtig, es ist ein Unglück.
Ein Film wie "Delamu" lässt sich nicht ohne Skepsis betrachten.
Volksrepublik China und Gebiete mit ethnischen Minoritäten - die Lisu,
die Nu, die Tibeter -, da könnte viel Pittoreskes aufkommen, viel Lied
und Spiel und Tanz und Naturverbundenheit, wie es eben die Volksrepublik
China mit ihren Minoritäten heute so gerne hat (früher: in feudalen
Lebensformen befangene Menschen müssen durch moderne
Volksbefreiungsarmeesoldaten befreit werden, oder: seht her, wie bunt unsere
befreiten ethnischen Brüder sind, die den Tanz des fröhlichen Bauerns
im Kommunismus hüpfen, heute: putzig naturverbundene Menschen mit drolligen
Religionen müssen durch moderne geldbringende Touristen besucht werden).
Das alles kommt aber nicht auf in "Delamu". Das Leben ist hart, die Landschaft
ist da, sie ist schön, aber das macht nichts, denn sie ist da und man
muss da durch und darüber mit Eseln und Säcken. "Delamu" könnte
sicher auch im Fernsehen laufen, als Universum-Beitrag, aber das macht nichts.
Die Kritik ist im Original in Birgit Kellners Weblog
Camp
Catatonia nachzulesen.
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