DER PIANIST ist ein einfacher Film und ein sehr guter. Beides
ist unerwartet in einem Genre, das wie kein anderes zum Aushandlungsort von
darstellungstheoretischen Konzeptionen geworden ist, von Debatten über
Zulässigkeit und Unzulässigkeit des Zeigens, über die
Legitimität und die Exploitation von Bildern, über die
Unmöglichkeit des Erzählens, die Anmaßung der Teilhabe, etc.
Inmitten dieser Auseinandersetzungen, als hätte er von ihnen Kenntnis
gehabt und sei doch in bestimmtem Sinne unbeeindruckt von ihnen geblieben,
hat Roman Polanski seine straight story vom Konzertpianisten Wladyslaw Szpilman
vorgestellt, der fünfeinhalb Jahre deutscher Okkupation in Warschau
überstand und auf die Frage nach seinen Plänen für die Zeit
nach Kriegsende antwortete, er hoffe, eines Tages wieder im polnischen Rundfunk
Klavier spielen zu können.
Der Blick, den DER PIANIST zu teilen nahelegt, ist der eines
Protagonisten, der nicht fassen kann, was sich vor seinen Augen abspielt.
Eine vielzitierte Formel, nur daß sich - auf einmal, auf einmal wieder,
mit einem Mal so, als könnte das Kino dies tatsächlich leisten
- etwas von dieser Fassungslosigkeit mitteilt. Wladyslaw Szpilman ist Zeuge
der Vernichtung gewesen; im Prinzip könnte man Polanskis Film in diesem
Satz resümieren. Er hat gesehen, er hat erfahren: das sind, wie immer,
die wesentlichen Teile der Geschichte, doch ist sie selten mit so viel Dezenz
erzählt worden. Der erste Teil: die Verordnungen, die Pogrome, das Ghetto,
die Appellplätze, die Züge, das Lager, dem der Pianist entgeht
und in dem der Rest seiner Familie umgebracht werden wird. Der zweite: die
Verstecke, die Blicke aus dem Fenster, der Hunger, die Kälte, die Stille;
später die Toten auf der Straße, die Ruinen, der Schnee, das
Kriegsende. In beiden Teilen wird die Rolle Szpilmans durch das Sehen
konstituiert sein und durch die grundsätzliche Ungewißheit, die
darin besteht, nicht zu wissen, wie weit das, was er sieht oder eben gesehen
hat, eigentlich von ihm entfernt ist. (Es könnte, diesmal, jeder zweite
aus der Reihe sein oder jeder dritte. Es könnte die Familie im Haus
gegenüber sein oder die in der Wohnung nebenan oder seine eigene. Die
ältere Schwester oder die jüngere oder statt dessen die Brüder.
Das Fenster an der Ecke oder seines; die nächste Straßenkreuzung,
der nächste Zug, der nächste Nachmittag auf der Baustelle.)
Am Ende, als er immer noch da ist und keiner mehr, den er kannte,
erschießt man ihn fast, weil er den falschen Mantel trägt. Zu
dem, was bis dahin erzählt worden ist, paßt das. Rettung, so wie
sie sich in DER PIANIST ereignet, ist beides: absolutes Wunder und absolute
Koinzidenz, ein Mischprodukt aus Zufall, Willkür und gelegentlichen
Hilfeleistungen, dazu eine Sache, die viel zu tun hat mit
Haustürschlüsseln, Konservendosen, Brotrationen, Wolldecken und
damit, daß man sich nicht lange in einer Wohnung aufhalten kann, in
der die Wasserleitungen eingefroren sind. Tatsächlich hat Polanski viel
Zeit darauf verwendet, sich mit den materiellen Bedingungen des Überlebens
zu befassen - mit dem, was klein ist und häßlich sein kann, mit
dem nicht mehr Selbstverständlichen, dem Geringen, das zwischen einem
Tag und dem nächsten steht oder einen Tag so endlos lang macht wie den
darauffolgenden. Ein unheroischer Film zweifellos, und, weil unheroisch,
ein nobler: Geschichte eines sehr stillen Protagonisten, wie es ihn unter
Polanskis Gestalten bislang nicht gegeben hat.
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