Die Geschichte der Nana S. ist, unter anderem,
eine Meditation über die Modellierung eines Gesichts durch die Kamera.
Es beginnt mit einer langsamen Aufblende, wenn man so will, die das Gesicht
von Nana (Anna Karina) lange und in jeweils einer unbewegten Einstellung
von drei Seiten in den Blick nimmt: noch allerdings im Schatten, ein dunkler
Riss vor kaum hellerem Hintergrund. Später wird dieses Gesicht von
Großaufnahmen liebkost, dann aber kontraststark weiß geschminkt,
von schwarzem Haar umrahmt. Ihre Apotheose erfährt diese Inszenierung
in der Verdopplung: Nana sieht im Kino Dreyers Jeanne D'Arc, Godard hält
auf die Leinwand, zitiert in kompletter Übernahme des Originalbilds
den legendären filmhistorischen Topos der Großaufnahme, schneidet
nur einmal, verehrend, nicht ironisch, das Gesicht von Anna Karina dazwischen,
die weint: im Close-Up.
Die Geschichte der Nana S. ist auch eine formalistische
Studie über die Möglichkeiten, Dialoge zu filmen. Im ersten der
zwölf Tableaus, in die sich der Film halbstreng ordnet, blickt die Kamera
den am Tresen sitzenden Dialogpartnern abwechselnd über die Schultern,
nie ins Gesicht, das nur gelegentlich in Spiegeln zu ahnen ist. Später
verfolgt sie Nana durch den Plattenladen, in dem sie arbeitet, in ungeschnittenen
Kamerafahrten, der Kunde interessiert sie kaum. Oder sie bewegt sich, in
einem geradezu unterstrichenen Schwenk, vom einen zum anderen. Oder sie
fährt im Dreischritt hinter dem Kopf des Mannes her, so dass sie einmal
von rechts, einmal von links daran vorbei den Blick auf Nanas Gesicht erlaubt
- und dazwischen blendet der Hinterkopf des Mannes es aus. Nur in einem Tableau,
in einer Szene, die in der Kapitel-Zwischentafel beschrieben wird als Nana
philosophiert, ohne es zu wissen", kommt Godard auf die konventionelle
Schuss/Gegenschuss-Technik zurück, nutzt sie, um lange Minuten dialogischer
philosophischer Überlegungen zu verflüssigen. Auch da entkommt
ihm Karinas Gesicht jedoch einmal ins entschieden Des- oder anderweitig
Interessierte.
Die Geschichte der Nana S. ist ein Film von großem
formalen Reichtum, aber durchaus unangestrengt. Er ist aber auch die Geschichte
einer Frau, die zwar entschieden ungeklärte Lücken lässt,
vieles nicht zu Ende erzählt, fragmentarisch bleibt: aber doch im
Vervollständigungsbegehren des Betrachters zum Porträt wird. Daneben,
im Nebenbei dieses Porträts, ist der Film auch eine Abhandlung über
die Prostitution. Die in der Fahrt den Straßenrand entlang den Blick
des Freiers probt. Die in einer suggestiven Großaufnahme den Blick
auf den (bekleideten) männlichen Unterleib und die in die Tasche nach
dem Geld greifende Hand zum schlüssigen Emblem der Prostitution
zusammenfasst. Die ein ganzes Kapitel lang statistische Informationen zu
Gesetzen und Einkommensmöglichkeiten im Zusammenhang mit der Prostitution
mit elegant geschnittenen Szenen aus dem Leben der Prostituierten Nana bebildert.
Am Ende (vor dem eigentlichen, bitteren Ende) kommt dann, aus dem heiteren
Himmel, aus dem zuvor zum Beispiel auch schon eine großartige Tanzeinlage
kam, Poe ins Spiel: die Erzählung vom Gemälde, das so lebensecht
war, dass das lebende Vorbild sterben musste. Gelesen von Godard, der gerade
dabei ist, dieses Gemälde Karinas, seiner damaligen Frau, zu Ende zu
bringen. Ein Film, randvoll mit Ideen, oder vielleicht auch: um einiges
überschüssig, über den Rand hinaus, den irgendwelche Konventionen
vorsehen würden. Aber hier stimmt alles, hier ist noch nichts, wie
gelegentlich später bei Godard, Prätention und Bildungsschutt,
sondern alles Neugier, Ausprobieren, Wagnis.
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