"Dogville" ist ein moraltheologischer Entwurf. Das war, in
ästhetischer Kleidung (nicht unbedingt: Verkleidung) schon "Dogma" und
vielleicht ist der neue Film nichts anderes als "Dogma" nochmal von vorne.
Auf ganz eigene Faust, alles noch einmal auf Anfang. Die Spielfläche
hat sich von Trier diesmal selbst gebastelt, aus dem Nichts geschnitten,
dies jedenfalls die vom bloßen unlesbaren Schwarz und Weiß ihrer
nicht sichtbaren Ränder suggerierte Fiktion. Erst am Ende, ganz am Ende,
wird diese Welt umgeworfen wie ein Kartenhaus oder eher: ins Reale eines
aus Kreide ins Lebende gemorphten Hundes und dokumentarischer Elendsbilder
transformiert: ein Wandlungswunder, ermöglicht durch die von Grace,
dem Katalysator der moraltheologischen Versuchsanordnung, getroffene
Entscheidung.
Aber der Anfang: Ein Spielfeld, Kreidestriche, die Andeutung einer
Welt. Eine Bühne - aber ohne Publikum. Kein Theaterraum, nicht wirklich.
Der liebste Blick darauf, er kehrt immer wieder, ist nicht der in einen
Guckkasten, sondern der Blick von oben, der die dritte Dimension nimmt. Ein
unmöglicher Blick, ein Kamerablick der Übersicht, noch einmal auf
Kosten der Illusion, die sich im Spiel der Darsteller immer wieder aufs Neue
dann herstellen muss. Wichtig an dieser ersten radikalen Reduktion wohl die
Geste der Setzung: dies Hier und Jetzt parasitiert nur auf allegorische Weise
an einer Realität, ist Ort und Nicht-Ort, einer Geschichte mit der Hand
eines Regisseurs eröffneter Raum, der in der Hand des Regisseurs bleibt.
Eine Geschichte am Nicht-Ort in zehn Kapiteln, die nicht Gebote formulieren,
sondern moralische Illustration sein wollen (eines einzigen vertrackten Gebots
gegen die Arroganz, die im Verzeihen liegt).
Illustration. Ihr Agent auf der Bühne: Der in mehr als einer
Hinsicht impotetente Möchtegern-Schriftsteller und -Philosoph Tom, der
Grace, die Frau, die als junge Dame, von unbekannten Hunden gehetzt, in
"Dogville" auftaucht, der Grace, wie soll man sagen: erfindet. Der sie braucht
und missbraucht als Illustration seiner Thesen über den Zustand der
Welt, die sich in diesem Dorf irgendnirgendwo in Amerika irgendwie gespiegelt
findet. Tom ist der Regisseur des ernsten Spiels, das sich entfaltet. Die
Lektion, die er erteilt, wird ihm zuletzt selbst erteilt werden. Grace, die
er erfunden hat, um in der Kirche seinen Mitbewohnern eine Gewissensprobe
zu stellen, lässt sich, bei aller Passivität lebendig gewordene
Illustration, nicht mehr aus der Welt schaffen.
Was ist, dies die interessanteste Frage des Films, das Verhältnis
von Tom, dem impotenten Regisseur, und Lars von Trier? Läge die Ironie
dieses Verhältnisses in der Absicht einer Gleichsetzung oder läge
sie in der Parallele, die sich gegen die Absicht des Regisseurs von Trier
aufdrängt? Ein dritter Agent steht dazwischen - und zwar so, dass alle
Eindeutigkeit im Verhältnis der Regisseure sich auflöst (was dem
Film eher schadet als nutzt): Der dritte Agent ist die Stimme eines
Erzählers, der in Tonlage und sicherer Distanz zum Geschehen auktorial
scheint. Vom ersten Wort an sich über den Geschehnissen und Figuren
situiert, mal geschwätzig, mal ironisch, jedenfalls: erzählend.
Was sich in seinem Beschwören herstellt, ist ein nur halber Ernst. Die
Parabel, die Illustration, die Allegorie, "Dogville", auf diesen Nenner kann
man es bringen, spricht nicht für sich. Ein anderer spricht. Das scheint
- wie der V-Effekt, wie das Lehrhafte - nun als epischer Zug wieder Brecht
nachgeahmt, aber es fragt sich doch, ob diese Stimme aus dem Nichts, das
das Off des Films sein muss, ob diese Stimme nicht die Versuchsanordnung
untergräbt. Ob sich von Trier hier nicht selbst immer wieder in die
Predigt fällt, die eigene Zunge spaltet, in die Strenge einerseits,
die ironische Relativierung dieser Strenge andererseits.
Lars von Trier, das zeigten schon die lächerlichen Züge
von "Dogma" (die als solche stets auch gemeint waren), ist ein Radikaler
mit Hang zur Selbstironie. Das ist, so jedenfalls der Eindruck, den "Dogville"
hinterlässt, ein Widerspruch, der nur widersprüchliche Ergebnisse
zeitigt. Oder vielleicht weniger ein Widerspruch - denn es fehlt ihm die
Notwendigkeit, die den beiden Positionen je eigen ist - als eine Zerrissenheit,
die sich ins Moralische wie Ästhetische spiegeln lässt und in
"Dogville" auch gespiegelt findet. Das heißt aber auch: Es sind
persönliche Dämonen (und man darf annehmen, dass für von Trier
die Selbstironie der schlimmere, der gefährlichere Dämon ist als
die Strenge des Predigers), die hier aufeinandertreffen. Lars von Trier ist
ein Revenant der 50er Jahre und hat im existenzialisitsch wie allegorisch
angelegten Lehrstück daher seine Form gefunden. Die Zerrissenheit, die
sich darin jedoch demonstriert, findet keinen Halt im Zeitgeist (wie sie
es bei Brecht, Sartre, Frisch, Dürrenmatt tat). Sie bleibt auf sich
allein gestellt und wird nicht anders denn als Idiosynkrasie triftig. Alle
Versuche, die Allegorie vereindeutigend zu lesen, verfehlen - auch und gerade,
wenn von Trier mit seinem Abspann dem nach Kräften Vorschub leistet
- den Ort "Dogville", der sehr genau an einer moralisch-ästhetischen
Kreuzung situiert ist, die der Gegenwart fremd bleiben muss: der Kreuzung
zwischen puritanisch strenger Ethik und dem ironisch-selbstironischen Blick
auf die Welt.
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