Vor einem halben Jahrhundert demonstrierte Walt Disney: "Die Wüste lebt".
Nun ist es an der Zeit dem Wunder des Lebens selbst einen Film zu widmen.
"Genesis" ist die Geschichte vom großen Ganzen, von Materie, Atomen,
der Zeit, Liebe, Geburt, Leben und Tod. In der bildreichen Sprache der Mythen
und Märchen erzählt ein afrikanischer Schamane (Sotigui Kouyaté)
von der Geburt unseres Universums, von den vulkanischen Anfängen unseres
Planeten und dem ersten Leben auf der Erde. Genesis' bedeutet Ursprung
und ist auch der Titel des ersten Buches der Bibel, welches die gesamte
Schöpfung als Werk Gottes darstellt.
Der Film ist das Projekt der begeisterten Biologen und Tüftler Claude
Nuridsany und Marie Pérennou. "Mikrokosmos", ihr erster Kinofilm,
hatte 1996 seine Weltpremiere in der Offiziellen Auswahl des Filmfestivals
von Cannes. Er lief außerhalb des Wettbewerbs und wurde mit dem
Großen Preis für Technik ausgezeichnet. 1997 kamen fünf
französische Césars hinzu. "Genesis" ist ihr zweiter
abendfüllender Film und aller Romantik am Rande des Kitsches zum Trotz
einen Kinobesuch wert. Zwei Jahre lang hat allein die Entwicklung der
Filmausrüstung gedauert. Insgesamt arbeiteten sie fast sechs Jahre an
dem Projekt. Einige Sequenzen wurden im Studio Éclair in
Epinais-sur-Seine, andere im Haus der Filmemacher in Aveyron gedreht. Der
überwiegende Teil des Films entstand an Originalschauplätzen in
Frankreich, Island, Madagaskar, auf den Galapagos Inseln und in Polynesien.
Faszinierende Bilder sind das Ergebnis. Jede Einstellung wirkt so schön
und spektakulär als habe Gott persönlich einen Werbefilm in Auftrag
gegeben. Außergewöhnliche Farbspektren breiten sich in großen
Kreisen und allen möglichen anderen Formen auf der Leinwand aus. So
beginnt der Film mit einem faszinierenden Farbenspiel, das sich als Vitamin
C in extremer Vergrößerung entpuppt, wie es sich in Wasser in
Mikrokristalle auflöst. Wenn man mit der Biologin Perennou über
das Verhältnis von Mensch und Natur redet, beklagt sie den
verlorengegangenen Blick auf die Schöpfung und schwelgt in Begeisterung
über die Schönheit von Fauna und Flora. "Wir wollten ein Gefühl
der Zusammengehörigkeit zwischen Mensch und Tier, zwischen Leben und
so genannter seelenloser Materie vermitteln. Materie, längst "schwanger"
mit Leben, obwohl selbst nicht lebendig, hatte das Potenzial, Leben zu
gebären. Wir wollten keinen Dokumentarfilm im traditionellen Sinn machen,
sondern Raum für Gefühle, Träume und Assoziationen lassen.
Der Zuschauer sieht zwar wirkliche Vorgänge, gleichzeitig geht aber
seine Phantasie auf Reisen. Es war uns wichtig, völlig auf digitale
Bilder zu verzichten und ausschließlich natürliche Elemente zu
zeigen," sagt sie,"weil die Unvorhersehbarkeit von Materie viel
überraschender ist und eine ganz eigene, poetische Kraft hat." Claude
Nuridsany ist zurückhaltender als seine Kollegin. Die Rollenverteilung
ist so klassisch wie perfekt. Sie ist für die Romantik, er für
die Technik verantwortlich. Seit mehr als zwanzig Jahren arbeiten die beiden
bereits zusammen, produzieren Bildbände, Fernsehbeiträge und
Photoreportagen.
Seitdem es das Kino gibt, suchen Filmemacher nach dem Stoff, aus dem die
Helden sind. Diese Franzosen haben ihn gefunden. Die Rätsel der Natur,
der Tiere und der Pflanzen sind die Stars ihres Films. Brodelnde, kochende,
flüssige Erde bahnt sich ihren Weg, wird schließlich zäh
und erstarrt. Gewaltige Wassermassen stürzen vom Himmel, füllen
Rinnsaale, Flüsse, riesige Landschaften und lassen Ozeane entstehen.
Im Wasser entdecken wir Amöben, Einzeller ohne bestimmte Form. Rauchringen
ähnlich, die ihre Kontur in der Luft ständig verändern. Quallen
schweben vorbei. Kindergeschrei ist zu hören. Etwas zappelt über
die Leinwand. Plötzlich wird deutlich: Unzählige Spermien
bevölkern das Bild. Sie sind auf der großen Reise ihres kurzen
Lebens, auf der Suche nach dem Ei. Die Kinderstimmen werden leiser und wir
entdecken einen menschlichen Fötus,der bequem und entspannt in der
Fruchtblase kauert. Ein wenig wirkt er wie ein versonnener Greis...
Eine Geschichte braucht einen Erzähler. In Genesis' ist es ein
afrikanischer Schamane dem es gelingt, den roten Faden durch den Film zu
spinnen. Der Erzähler ist ein Zauberer. Seine Worte haben die Kraft,
uns in die magische Welt des Lebens hineinzuziehen. "Wir Lebenden sind wie
Kanus, die gegen die Strömung der Zeit kämpfen. Wir bewahren unsere
lebendige Form, indem wir anderes Leben zerstören. Eines Tages wird
mein Körper den Kampf aufgeben und der Welt diese Materie zurückgeben,
aus der ich geschaffen bin. Die Galaxie aus Milliarden von Atomen, die ich
einmal war, wird sterben, so, wie die Sterne sterben, und ihre Materie im
Raum aussäen. All diese Atome, die in mir tanzten, werden woanders
tanzen..." Jeder Mensch trägt die einzigartige Erfahrung seines eigenen
Lebens und die unendliche Geschichte des Universums, dessen Kind er ist,
gleichermaßen in sich. Genesis' widmet sich seinen Hauptdarstellern
mit großer Anteilnahme und Zuneigung. Die Tiere werden nicht zum
Forschungsobjekt, sondern zu einer lebenden Metapher, letztlich zu einem
Spiegel unserer eigenen Befindlichkeit.
Leider schafft es der Film trotz allem nicht, den Horizont des Zuschauers
wirklich zu erweitern, da sein Interesse zu sehr den äußeren Reizen
gilt. Was bleibt ist eine Montage der Sensationen, die dem anthropomorphen
Blick zu gefallen sucht. Eine Sammlung neuer, aufregender, aber flüchtiger
Eindrücke. So hetzt der Film von einer Sehenswürdigkeit zur
nächsten, um beim Zuschauer nie das Gefühl von Stillstand aufkommen
zu lassen.. Gefangen in den Denkmustern der eigenen Spezies, werden die Tiere
von den beiden Regisseuren immer wieder vermenschlicht. Gewiß ist es
Nuridsany, Perennou und ihren Mitarbeitern gelungen, atemraubende Bilder
einzufangen, meist jedoch haben sie sie arrangiert und drapiert. Wenn die
Qualität der Originalaufnahmen nicht ausreichend war wurde die Natur
im Labor nachgebaut. Dies wäre kein Problem, zeugte es nicht von dem
geringen Vertrauen, das der Film in seinen Gegenstand hat.
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