Hejar - Großer Mann, kleine Liebe, der Spielfilm
der türkischen Regisseurin Handan Ipekçi, war der offizielle
Beitrag der Türkei für den Oscar 2002 in der Kategorie bester
ausländischer Film. Er erzählt von der Beziehung zwischen
einem alten türkischen Mann und einem kleinen kurdischen Mädchen
- zwei Jahre nach Beendigung des Krieges der Türkei gegen die Kurden,
mit Anspielungen auf die aktuelle politische Situation in der
Türkei.
Direkt nach der Verleihung - den Oscar gewann die Kriegssatire "No
Man's Land" von Danis Tanovic - wurde Hejar vom Türkischen
Kulturministerium vom Spielplan gesetzt. Zu kritisch war dem Ministerium
die Darstellung von dem immer noch schwelenden Konflikt zwischen Türken
und Kurden im eigenen Land.
Obwohl schon einige Zeit in der Türkei mit großem Erfolg
gelaufen und ursprünglich mit 45 Milliarden Türkischer Lire (ca.
25 695 ) von staatlicher Seite gefördert, schritt die
Zensurbehörde aufgrund einer polizeilichen Beschwerde ein: Im Film wird
ein richterlich nicht genehmigter Polizeiübergriff auf eine kurdische
Familie gezeigt: die brutale Erstürmung einer Wohnung mitten im modernen
Istanbul und die Hinrichtung kurdischer Landsleute.
Die Thematisierung einer kurdischen Identität war ebenso
ausschlaggebend für das Verbot wie die türkische Untertitelung
einzelner kurdisch gesprochener Passagen. Auch der ausländische Verleihtitel
Hejar stieß auf wenig Gegenliebe. Heißt der Film
in der Türkei Büyük Adam Kücük Ask -
Großer Mann, kleine Liebe, trägt er für den
ausländischen Verleih den Titel Hejar - übersetzt:
Unterdrückung -, den kurdischen Namen der Hauptdarstellerin.
Der mit insgesamt 13 Preisen ausgezeichnete Film handelt von einem
kleinen kurdischen Mädchen, dessen Eltern bei einem Kampf zwischen
türkischer Miliz und kurdischer Arbeiterpartei PKK ums Leben gekommen
sind. Der Dorfälteste bringt das Mädchen Hejar (Dilan Ercetin)
nach Istanbul zu kurdischen Verwandten. Dort erlebt Hejar zum zweiten Mal
einen tiefen Schock - türkische Polizei stürmt die Wohnung und
metzelt ihre Verwandten ab.
Hejar überlebt, versteckt in einem Schrank. Stark traumatisiert
sucht sie Zuflucht in der Nachbarwohnung. Hier lebt Rifat Bey, ein
türkischer Richter im Ruhestand, der Hejar kurz entschlossen aufnimmt.
Als er jedoch bemerkt, dass Hejar Kurdin ist, will er sie ausliefern, vertritt
er doch die konservative Türkei, die jegliche kurdische Identität
im eigenen Land unterdrückt
Regisseurin Handan Ipekçi (Vater ist in der Armee,
Berlinale-Panorama 1995), die auch das Drehbuch schrieb, hat einen Film
geschaffen, in dem kleine Gesten große Gefühle hervorrufen. Vorsichtig
gewechselte Augenblicke zwischen Hejar und dem Richter beschreiben mehr als
tausend Worte; Zeitlupenaufnahmen von dem sich hinter einem Sofa versteckenden
Mädchen sobald es klingelt, zeigen ein Kind auf ewiger Flucht - des
harten Richters weicher Kern zeigt sich in einem kleinen Schild, das er neben
seiner Haustüre anbringt: Bitte anklopfen - nicht klingeln.
Die Hauptdarstellerin Hejar (Dilan Ercetin) wurde aus 150 Bewerberinnen
für den Film ausgesucht. Für ihre ergreifende Darstellung wurde
sie auf dem Filmfest Antalya 2001 als beste Nachwuchsschauspielerin
ausgezeichnet.
Souverän zeigt sie eine breite Palette an Gefühlen: Trauer,
Angst, Verzweiflung und Wut - und ist dennoch Kind - trotzig, stur und frech:
I will shit in your mouth ist nur die harmlosere Variante einer
sich je nach Situation steigernden Fluchtirade gegen den alten Richter.
Richter Rifat Bey wird von Sükran Güngor gespielt, bekannt
aus dem türkischen Film Güle Güle, der 2000 in
den deutschen Kinos lief. Eindrucksvoll ist sein Spiel im Zwiespalt zwischen
Staatshörigkeit und der Stimme seines Herzens. Leider verstarb
Sükran Güngor im September 2002. So ist Hejar auch
der letzte Film, in dem er mit seiner Frau, der Theater- und Filmschauspielerin
Yildiz Kenter, zusammen zu sehen ist. Sie ist die Nachbarin Müzeyyen
Hanim, die ihren Lebensabend gerne mit dem Richter verbringen würde.
Eine weitere Auszeichnung des Filmfestes in Antalya ging an die
Schauspielerin Füsun Demirel. Sie führt als Sakine den Haushalt
des Richters und lebt mit ihrer Familie im gleichen Haus. Bis zu Hejars Ankunft
weiß der Richter nicht, dass seine Haushälterin Kurdin ist - aber
dann hört er sie mit Hejar in der verbotenen Sprache reden. Dem
Türkischen und dem Kurdischen mächtig, bewährt sich Sakine
als Mittlerin zwischen den Welten.
Zwei Generationen treffen aufeinander, zwei Generationen, aufgewachsen
im selben Land, die jedoch aufgrund von Rassismus, Diskriminierung und
Unterdrückung der kurdischen Minderheit nicht in der Lage sind, miteinander
zu kommunizieren. Doch zeichnet Handan Ipekci ein Bild von einer neuen
Türkei: Sie zeigt ihre Vision von einem Land, in dem gegenseitige Akzeptanz
und Toleranz helfen, ethnisch-kulturelle und soziale Konflikte beizulegen;
in dem Sprache nicht nur Mittel zur Verständigung unter Gleichgesinnten
ist, sondern auch die Identität Andersdenkender. Und an diesem Punkt
wird Sprache zum alles vermittelnden Element: Bilingualität als lebenswerte
Alternative in einem Land zu akzeptieren, in dem jahrelang die
Individualität eines Völkerstammes unterdrückt wurde, unter
anderem durch das Verbot der eigenen Sprache.
Am 17. April läuft Hejar in den deutschen Kinos an
- mittlerweile ist er auch in der Türkei wieder freigegeben. Aber am
17. April ist auch der Tag, an dem sich Handan Ipekci vor Gericht für
eben diesen Film verantworten muss. Der türkische Justizminister fordert,
dass die Regisseurin - für einen Film, der mit nationalen und
internationalen Preisen gekürt wurde - nach dem türkischen
Strafgesetzbuch (TCK.159/1) verurteilt wird: sechs Jahren Haft - wegen
Beleidigung der Justiz- und Sicherheitskräfte des Staates!
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