"Lampedusa", der Spielfilm des italienischen Regisseurs Emanuele
Crialese erzählt eine magische Geschichte:
Zwischen Sizilien und Tunesien im blauleuchtenden Mittelmeer liegt
Lampedusa, eine kleine Vulkaninsel. Der Küste entlang haben sich hohe
Schluchten und Kalkriffe geformt - das Meer ist von blauer Schönheit.
Motorroller knattern durch Straßen, Fischer knüpfen ihre Netze.
Kinder spielen in den Klippen und Bauruinen der Stadt, fangen und grillen
Vögel, bekämpfen sich in Jugendbanden - am Abend flanieren sie
auf der Via Roma, fein herausgeputzt zum pubertären Tanz der
Geschlechter.
Die Männer fahren zur See, die Frauen arbeiten in den Fischfabriken
und stehen am Hafen und warten auf ihre vom Fischfang zurückkehrenden
Männer.
Wie auch jene Frau, von der eine alte Insellegende erzählt:Einst
lebte auf Lampedusa eine junge Frau. Sie war von freiem Geist und wollte
sich den strengen Regeln und moralischen Ansprüchen ihrer Dorfgemeinschaft
nicht beugen. Die Dorfbewohner schauten auf sie herab, erklärten sie
gar für verrückt. Und eines Tages verschwand die junge Frau, nur
ihre Kleider blieben am Strand zurück. Die Zeit verging, doch die Frau
blieb verschwunden. Die Menschen aus dem Dorf fühlten sich schuldig,
die Frau in den Selbstmord getrieben zu haben. Sie gedachten ihrer und beteten
jeden Tag. Und siehe da: eines Tages kehrte die junge Frau auf mysteriöse
Weise wieder ins Leben zurück.
Emanuele Crialeses Adaption dieser Legende spielt irgendwann zwischen
1980 und 1990, in einer Zeit, in der weder Tourismus, Satellitenschüsseln
noch andere technische Errungenschaften den Alltag der Einwohner Lampedusas
beeinflussen -sie leben ganz im Einklang mit der Natur und folgen ihrem eigenen
Rhythmus.
Gracia (Valeria Golino) ist Mutter dreier Kinder und mit dem Fischer
Pietro (Vincenzo Amato) verheiratet. Gracia ist eine leidenschaftliche Frau
- unangepasst, emotional, aufbrausend, freiheitsliebend,
himmelhochjauchzend zu Tode betrübt, wie ihre Schwiegermutter
attestiert. Sie liebt ihren Mann, ihre Kinder, das Meer - und ihr
Transistorradio. Mit der Musik von Patty Bravo kommt sie ins Träumen
- im Meer hingegen fühlt sie sich frei. Gracia ist eine Frau voller
überschwänglicher Gefühle, von sinnlicher Unbefangenheit und
ob ihrer Unberechenbarkeit den anderen Frauen ein Dorn im Auge. Es wird gemunkelt
und getuschelt im Dorf, und manch einer meint, Gracia gehöre in eine
Anstalt.
Und dann kommt der Tag, an dem Gracia die Hunde aus dem Tierasyl
freilässt
Crialese erzählt eine magische Geschichte - angesiedelt im rauen
Alltag der Fischerleute. Der größte Teil der Rollen ist mit
Laiendarstellern besetzt, mit Menschen, die auf Lampedusa leben und mit ihrer
Art und ihrem eigenen Dialekt dem Film Authentizität verleihen - ein
Film ganz in der Tradition des italienischen Neorealismus. Lampedusa und
das Meer sind die Bühne für Crialeses Erzählung einer Fabel,
die allein auf die Phantasie der Zuschauer zielt - nur wer sich für
die mystischen Aspekte des Filmes öffnet, wird ihn in seiner ganzen
Schönheit verstehen können.
Ich denke, letzten Endes ist es ein Film geworden, der eher
physisch wirkt als intellektuell, ein Film ohne Reflektionen und
Metaphern. (Emanuele Crialese)
Die Bilder, das Licht und ihre Komposition stehen für sich,
drücken einen Seelenzustand aus. Crialese beschreibt das Verhältnis
seiner Charaktere zum Meer - das Meer wiederum bestimmt den Lebensrhythmus
der Inselbewohner. Sie bedingen und brauchen sich gegenseitig. Besonders
für Gracia ist das Meer Ort des Friedens, der Leichtigkeit und der Freiheit
- nur hier ist sie erlöst von den Regeln des Insellebens - kann sein,
ohne das ihr verpasste Korsett des Anstandes.
Die Unterwasseraufnahmen von Kameramann Fabio Zamarion sind hypnotisch
schön - die Musik von John Surman "Nestors song" stimmt auf die
Wasserszenen ein - die Zuschauer geheimnisvoll in den Bann ziehend. Crialese
hat einen wunderschönen Film gedreht, der in Cannes mit dem Publikumspreis
und dem Preis für den besten Film ausgezeichnet wurde. Einen Film mit
authentischen, ausdrucksstarken Schauspielern.
Valeria Golino, die Frau mit dem unbändigen schwarzen Haar und
den mit dem Meer um die Wette leuchtenden Augen, spielt eine starke Frau,
die sich von nichts und niemandem ihr Leben vorschreiben lässt, eine
Frau, die nur sich selber gehört. Zurzeit ist die gebürtige
Neapolitanerin griechischen Ursprungs auch als Ex-Ehefrau von Diego Rivera
in Julie Taymors Spielfilm Frida zu sehen.
Vincenzo Amato - ein Freund Crialeses - ist ein in New York lebender
Bildhauer und Schauspieler und hat schon in Crialeses erstem Spielfilm
Once we were strangers (1997) die Hauptrolle gespielt. Er ist
Gracias Ehemann, ganz ohne das Klischee eines südländischen Machos
zu bedienen - er agiert mit hoher Sensibilität und zeigt einen Mann
mit verschiedenen Gesichtern.
Alle anderen Darsteller sind Bewohner Lampedusas. Eigenwillige Menschen,
die dem Film seine Originalität geben. Die Söhne Pasquale (Francesco
Casisa) und Filippo (Filippo Pucillo) sind ganz Inselkinder. Mit
großspurigen Worten und Gesten sind sie der Mann im Haus,
wenn der Vater auf See ist - und achten mit Argusaugen auf Anstand und Moral
von Mutter und Schwester.
"Lampedusa" oder "Respiro" - so der Originaltitel - ist ein Film aus
einer anderen Epoche, aus einem Italien, das es so nicht mehr gibt. Zwar
wird sich niemand ernsthaft nach dem von engen Moralvorstellungen dominierten
Inselleben sehnen - doch schürt der Film eine andere Art von Sehnsucht:
die Sehnsucht nach Motorrollerfahrten durch enge Gassen zu dritt mit Hund
und ohne Helm, nach einem Leben im Einklang mit dem Meer, der Sonne und dem
intensiven Licht der Sonne Afrikas (Lampedusa liegt geografisch näher
an Afrika als an Italien) und - nach der tiefen unergründlichen
Schönheit des Mittelmeeres.
zur Jump Cut Startseite
|