Emanuele Crialese: Lampedusa (Italien 2002)

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Emanuele Crialese: Lampedusa (Italien 2002)
Kritik v
on Dagmar Trüpschuch

"Lampedusa", der Spielfilm des italienischen Regisseurs Emanuele Crialese erzählt eine magische Geschichte:

Zwischen Sizilien und Tunesien im blauleuchtenden Mittelmeer liegt Lampedusa, eine kleine Vulkaninsel. Der Küste entlang haben sich hohe Schluchten und Kalkriffe geformt - das Meer ist von blauer Schönheit. Motorroller knattern durch Straßen, Fischer knüpfen ihre Netze. Kinder spielen in den Klippen und Bauruinen der Stadt, fangen und grillen Vögel, bekämpfen sich in Jugendbanden - am Abend flanieren sie auf der Via Roma, fein herausgeputzt zum pubertären Tanz der Geschlechter.

Die Männer fahren zur See, die Frauen arbeiten in den Fischfabriken und stehen am Hafen und warten auf ihre vom Fischfang zurückkehrenden Männer.

Wie auch jene Frau, von der eine alte Insellegende erzählt:Einst lebte auf Lampedusa eine junge Frau. Sie war von freiem Geist und wollte sich den strengen Regeln und moralischen Ansprüchen ihrer Dorfgemeinschaft nicht beugen. Die Dorfbewohner schauten auf sie herab, erklärten sie gar für verrückt. Und eines Tages verschwand die junge Frau, nur ihre Kleider blieben am Strand zurück. Die Zeit verging, doch die Frau blieb verschwunden. Die Menschen aus dem Dorf fühlten sich schuldig, die Frau in den Selbstmord getrieben zu haben. Sie gedachten ihrer und beteten jeden Tag. Und siehe da: eines Tages kehrte die junge Frau auf mysteriöse Weise wieder ins Leben zurück.

Emanuele Crialeses Adaption dieser Legende spielt irgendwann zwischen 1980 und 1990, in einer Zeit, in der weder Tourismus, Satellitenschüsseln noch andere technische Errungenschaften den Alltag der Einwohner Lampedusas beeinflussen -sie leben ganz im Einklang mit der Natur und folgen ihrem eigenen Rhythmus.

Gracia (Valeria Golino) ist Mutter dreier Kinder und mit dem Fischer Pietro (Vincenzo Amato) verheiratet. Gracia ist eine leidenschaftliche Frau - unangepasst, emotional, aufbrausend, freiheitsliebend, „himmelhochjauchzend zu Tode betrübt“, wie ihre Schwiegermutter attestiert. Sie liebt ihren Mann, ihre Kinder, das Meer - und ihr Transistorradio. Mit der Musik von Patty Bravo kommt sie ins Träumen - im Meer hingegen fühlt sie sich frei. Gracia ist eine Frau voller überschwänglicher Gefühle, von sinnlicher Unbefangenheit und ob ihrer Unberechenbarkeit den anderen Frauen ein Dorn im Auge. Es wird gemunkelt und getuschelt im Dorf, und manch einer meint, Gracia gehöre in eine Anstalt.

Und dann kommt der Tag, an dem Gracia die Hunde aus dem Tierasyl freilässt…

Crialese erzählt eine magische Geschichte - angesiedelt im rauen Alltag der Fischerleute. Der größte Teil der Rollen ist mit Laiendarstellern besetzt, mit Menschen, die auf Lampedusa leben und mit ihrer Art und ihrem eigenen Dialekt dem Film Authentizität verleihen - ein Film ganz in der Tradition des italienischen Neorealismus. Lampedusa und das Meer sind die Bühne für Crialeses Erzählung einer Fabel, die allein auf die Phantasie der Zuschauer zielt - nur wer sich für die mystischen Aspekte des Filmes öffnet, wird ihn in seiner ganzen Schönheit verstehen können.

„Ich denke, letzten Endes ist es ein Film geworden, der eher physisch wirkt als intellektuell, ein Film ohne Reflektionen und Metaphern.“ (Emanuele Crialese)

Die Bilder, das Licht und ihre Komposition stehen für sich, drücken einen Seelenzustand aus. Crialese beschreibt das Verhältnis seiner Charaktere zum Meer - das Meer wiederum bestimmt den Lebensrhythmus der Inselbewohner. Sie bedingen und brauchen sich gegenseitig. Besonders für Gracia ist das Meer Ort des Friedens, der Leichtigkeit und der Freiheit - nur hier ist sie erlöst von den Regeln des Insellebens - kann sein, ohne das ihr verpasste Korsett des Anstandes.

Die Unterwasseraufnahmen von Kameramann Fabio Zamarion sind hypnotisch schön - die Musik von John Surman "Nestor’s song" stimmt auf die Wasserszenen ein - die Zuschauer geheimnisvoll in den Bann ziehend. Crialese hat einen wunderschönen Film gedreht, der in Cannes mit dem Publikumspreis und dem Preis für den besten Film ausgezeichnet wurde. Einen Film mit authentischen, ausdrucksstarken Schauspielern.

Valeria Golino, die Frau mit dem unbändigen schwarzen Haar und den mit dem Meer um die Wette leuchtenden Augen, spielt eine starke Frau, die sich von nichts und niemandem ihr Leben vorschreiben lässt, eine Frau, die nur sich selber gehört. Zurzeit ist die gebürtige Neapolitanerin griechischen Ursprungs auch als Ex-Ehefrau von Diego Rivera in Julie Taymors Spielfilm „Frida“ zu sehen.

Vincenzo Amato - ein Freund Crialeses - ist ein in New York lebender Bildhauer und Schauspieler und hat schon in Crialeses erstem Spielfilm „Once we were strangers“ (1997) die Hauptrolle gespielt. Er ist Gracias Ehemann, ganz ohne das Klischee eines südländischen Machos zu bedienen - er agiert mit hoher Sensibilität und zeigt einen Mann mit verschiedenen Gesichtern.

Alle anderen Darsteller sind Bewohner Lampedusas. Eigenwillige Menschen, die dem Film seine Originalität geben. Die Söhne Pasquale (Francesco Casisa) und Filippo (Filippo Pucillo) sind ganz Inselkinder. Mit großspurigen Worten und Gesten sind sie „der Mann im Haus“, wenn der Vater auf See ist - und achten mit Argusaugen auf Anstand und Moral von Mutter und Schwester.

"Lampedusa" oder "Respiro" - so der Originaltitel - ist ein Film aus einer anderen Epoche, aus einem Italien, das es so nicht mehr gibt. Zwar wird sich niemand ernsthaft nach dem von engen Moralvorstellungen dominierten Inselleben sehnen - doch schürt der Film eine andere Art von Sehnsucht: die Sehnsucht nach Motorrollerfahrten durch enge Gassen zu dritt mit Hund und ohne Helm, nach einem Leben im Einklang mit dem Meer, der Sonne und dem intensiven Licht der Sonne Afrikas (Lampedusa liegt geografisch näher an Afrika als an Italien) und - nach der tiefen unergründlichen Schönheit des Mittelmeeres.

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