Die Leere nach dem Film
Manche Filme sind wie Liebhaber. Man begegnet ihnen durch Zufall.
Beiläufig. Auf einem Festival. Durch die Empfehlung von Freunden. In
einem kleinen Kino, dessen Besitzer mit einem sensiblen Sehnerv ausgestattet
sind, so dass man sich vertrauensvoll zu jedem Film niederlässt.
Im fsk in Kreuzberg traf ich Ann das erste Mal. Sie lebte in einem
Kaff irgendwo in den USA. Nur wegen ihres Freundes verweilte sie dort. Dieser
befand sich in Prag und teilte ihr via Telefon mit, dass er sich gerade in
eine andere Frau verliebt hatte. Ann nahms gelassen. Lackiert sich
nach dem Gespräch die Fußnägel. Dass sie dabei spontan einen
Schluck aus der Flasche mit dem Lackentferner nahm, war nicht geplant. Ann
überlebt den Selbstmordversuch. Sie nimmt Videotapes auf, in denen sie
dem fernen Ex das erzählt, was sie ihm nie gesagt hat eine
titelgebende Episode des Films Things I never told you von
Regisseurin Isabel Coixet. Ihr Nachbar Paul soll die Videos versenden. Doch
weil er in Ann verliebt ist, ignoriert er das Postgeheimnis und schaut sie
sich heimlich an. Als Ann in einem Supermarkt ihre Lieblingseissorte kaufen
will und sie vergriffen ist, bricht sie in Tränen aus. Lily Taylor,
die Ann spielt, haltlos schluchzend vor den riesigen Kühlregalen, begleitet
mich seitdem beim Einkauf von Eiskrem.
Ich hatte Ann fast vergessen, als dieses Jahr im Wettbewerb auf der
Berlinale My life without me lief. Wieder Isabel Coixet, wieder
Ann. Dieses Mal in Gestalt der zerbrechlich wirkenden Schauspielerin Sarah
Polley. Sie ist 23, hat zwei kleine Kinder und einen Mann ohne Job. Sie leben
in einem Wohnwagen. In irgendeinem amerikanischen Kaff. Es gibt eine
herabsetzende Bezeichnung auf Englisch für dieses Milieu: White
Trash. Das sind die, die keinen tollen Job, keinen erfolgreichen Partner,
kein Apartment mit Designer-Möbel haben. So wie Ann und Don. Das erste
Kind mit 17, das zweite mit 19 und die diffuse Hoffnung auf eine positive
Zukunft. Ann putzt mit einer Kollegin (Amanda Plummer) in der Universität.
Streitet sich mit ihrer frustrierten Mutter (Deborah Harry). Der schon lange
abwesende Vater sitzt im Knast (Alfred Molina). Beiläufig skizziert
Coixet die Lebensumstände. Ann bricht auf der Arbeit zusammen. Ihre
Mutter fährt sie ins Hospital. Ann ist verärgert, weil sie
überhaupt keine Zeit hat, sich um sich selbst zu kümmern. Sie ist
erst Anfang 20, und der durch seine Aufgabe verunsicherte Arzt muss ihr
mitteilen, dass sie Tumore hat, inoperabel. Er bietet ihr ein Bonbon an.
Zwei Monate bleiben Ann. Sie fährt nach Hause zurück. Erzählt
keinem von der Krankheit und macht im Diner bei Kaffee und Kuchen eine Liste.
Von den Dingen, die sie immer schon mal tun wollte. Eine Maniküre, eine
Dauerwelle, einen fremden Mann spüren. In ihrem Auto nimmt sie Kassetten
auf für die Geburtstage ihrer Kinder in den nächsten Jahren ohne
sie. Eine für ihren Mann. Eine für ihre Mutter. Trifft ihren
zukünftigen Liebhaber Lee (Mark Ruffalo) im Waschsalon und sitzt in
dessen leerer Wohnung auf Bücherstapeln, erzählt den weißen
Wänden und Lee von den Dingen, die sie in ihrem Leben verpasst hat.
Sie sucht eine neue Frau für ihren liebevollen, aber lebensuntüchtigen
Mann (Scott Speedman). Es wird die neue Nachbarin mit dem selben Namen sein,
Ann (Leonor Watling, im Koma ruhende Tänzerin aus Sprich mit
ihr vom spanischen Regisseur Pedro Almodovar, der diesen Film
produzierte).
Ann: Hast du mich beobachtet, als ich geschlafen hab?
Lee: Äh, ja. Kurz. Tut mir leid.
Ann: Wieso? Hab ich geschnarcht oder...?
Lee: Nein. Gesabbert hast du. Du, äh, du sabberst, wenn du
schläfst.
Als im Kino International nach der Aufführung von My life
without me die Lichter angehen, zieht der Zuschauer vor mir sein Sweatshirt
hoch und trocknet damit seine Tränen ab. Ich habe ein Verhältnis
mit Isabel Coixet, die auf der Bühne steht und ihren Film nicht
erklären kann, weil er für sich spricht. Die Regisseurin weiß
nichts von meiner Liebe. Der Applaus will nicht enden. Ihr Film hat keinen
Bären gewonnen. Aber er kommt jetzt in die Kinos. Ich lasse mich in
jedem Film nieder, den Isabel Coixet in den nächsten Jahren macht. Ihre
Leere nach diesem Film sei sehr, sehr groß gewesen,
erzählt sie. Meine auch, und doch so erfüllt, wie nach der Begegnung
mit einem flüchtigen Liebhaber, der durch besondere Aufmerksamkeit die
eigenen Sinne schärfte.
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