Das
Kino Bollywoods ist ein Kino der Blende - und im Begriff der Blende darf
man sich den "weichen" Schnitt, der im Trennen verbindet, und das englische
"blend" als synchrone oder sukzessive Vermischung des Getrennten selbst noch
einmal ungeschieden vorstellen. Die Utopie des kommerziellen indischen Kinos
ist es, alles auf einmal zu sein, und zwar im Zugleich oder in den Effekten,
die sich dem - notwendig: unvermittelten, aber: sanften - Übergang vom
einen zum anderen verdanken. Im Zugleich etwa des Bitteren und des Komischen,
zu dem es immer wieder kommt, entstehen Gemengelagen der Gefühle als
Formprinzip eines Erzählens, das auf gar nichts anderes aus ist als
auf diese Gemengelagen, die es nirgends sonst gibt. Der gleitende Übergang
vom - internen, das heißt also: mit Wirklichkeitsabbildung unter keinen
Umständen zu verwechselnden - Realismus der Diegese zum der
Kontinuität von Ort, Zeit, Handlung, allem also was erzählerische
Glaubwürdigkeit hieße, kaum mehr verpflichteten Überschwang
der Bewegung in den Tanzeinlagen, ist selbst noch einmal Emblem dieser
Übergängigkeit. Emblem zugleich und Höhepunkt, reinste Gestalt
des Prinzips: denn von Bild zu Bild, von Schnitt zu Schnitt, wechseln hier
- potenziell - die Kleider, die Farben, die Schauplätze, die Stimmungen,
die Musikstile, die Verhältnisse zwischen den Personen.
Genres, aber auch Plots oder Charaktere nach westlichem
Verständnis, sind in diese in unendlicher Vervielfältigbarkeit
immergleiche Form rettungslos verstrickt, sind nie, wie exemplarisch in der
kalifornischen Filmindustrieproduktion, vorgängig, sondern sozusagen
nur Modulationen des Vorgegebenen. Zugleich ist die Form Bollywood beinahe
unbegrenzt aufnahme-, genauer gesagt anverwandlungsfähig, es gibt kaum
Motive, Themen, Genres (Terrorismus, Western, Melodram, Highschoolfilm, Romanze),
die sich nicht inkorporieren ließen: Übernahmen von
Versatzstücken und Plotmustern insbesondere aus Hollywood sind seit
langem Usus. So bedient sich Mohabbatein (zu deutsch: Liebesgeschichten),
ein Film, der alles, was Bollywood ausmacht, geradezu triumphal verkörpert,
ganz ungeniert bei Peter Weirs "Club der toten Dichter". Amithabh Bachchan,
der Superstar der 70er und 80er Jahre, gibt Narayan Shankar, den strengen,
volltönend die Prinzipien Tradition, Disziplin und Ehre verkündenden
Leiter des Elite-Colleges Gurukul. Ihm gegenübergestellt wird mit Sharukh
Khan der größte Superstar der 90er Jahre, der Gegensatz ist vielfach
determiniert: filmgeschichtlich zum einen, aber es stehen auch Moderne
(Westorientierung) und reaktionär gewordene Tradition, Sinn für
das Musische und humorlose Selbstvergottung, Liebe und Furcht gegeneinander.
Auch in den Räumen kommt der Widerspruch, aber selbst noch einmal
widersprüchlich, zur Darstellung. Gurukul, der Hort der Tradition, ist
ein georgianischer Palast (der in Wahrheit auch in England steht), also weit
weniger originär indisch als Shankar gerne wäre. Als sein Innerstes,
das Aryan zu betreten sich lange weigert, ist davon ein Shiva-Tempel noch
einmal abgesetzt. Dagegen steht die kleine Stadt, der artifizielle, sich
als Filmkulisse - genauso wie Gurukul - selbst ausstellender Ort des Handels
und Konsums (und ungescheuten Product Placements), vor allem aber auch des
Tanzes. Shankar tritt hier nur einmal auf, muss jedoch unverrichteter Dinge
das Feld räumen. Freilich findet das Eindringen von Liebe, Musik, Tanz
in Gurukul selbst vom ersten Auftritt Raj Aryans ins Bild - und wird geradezu
triumphal in einem großen Fest in der zentralen Halle, in der so Shankars
Autorität in Grund und Boden getanzt wird. Amitabh Bachchan übrigens
ist, sehr konsequent, der einzige, der aus allen Tanzszenen als ihr Gegenpol
ausgeschlossen bleibt: als Gegenpol auch Bollywoods selbst auf gänzlich
verlorenem Posten.
Wie kaum anders zu erwarten, wird der Konflikt am Hauptgegenstand
des Unterhaltungskinos, der Liebe, weiter ausdifferenziert. Drei junge
Männer treten auf, am Anfang des Films, der ihre Ankunft am Bahnhof
zeigt. Auftritte produzieren den Star, der aus dem Nichts kommt und gleich,
sofort überlebensgroß ist - eine Überlebensgröße,
die nichts mit Heroismus zu tun haben muss, Sharukh Khans Markenzeichen ist
eher eine leise Tölpelhaftigkeit (gegen die ein harter Kern erst im
Verlauf profiliert wird). Die ersten, vom Kredit des Stars freilich ganz
und gar gedeckten Inszenierungen Bachchans gehen, soweit man gehen kann,
ohne vom Scheitelpunkt des geglückten Pathos hinab ins Lächerliche
zu fallen: gottgleich, schwarzgewandet, steinernen Gesichts ist er vor den
Hintergrund des Gurukul-Symbols der strahlenden Sonne gerückt. Jedoch
auch an seinen drei "Zwischenhelden" praktiziert "Mohabbatein" den gloriosen
Auftritt, mit Großaufnahmen und aufbrausender Musik werden die jungen
Männer vorgestellt, als Figuren im Film, aber zugleich als neue Figuren
auf der Bollywood-Bühne, unbekannte Darsteller alle drei. Raj Aryan
(Sharukh Khan) als sanfter Rebell wird raffiniert eingeführt in der
Parallelmontage mehrfacher, anonym bleibender POV-Einstellungen mit dem unter
drohendem Trommelwirbel dahinschreitenden Narayan Shankar: Spannung baut
sich auf in der Verweigerung des Blicks auf den Helden, aufgelöst wird
sie überraschend: der Held spielt Geige auf den Stufen vor Gurukul.
Den drei jungen Männern, in sich eher nach Temperamenten
differenziert, vom schüchternen Sameer bis zum draufgängerischen
Vicky, werden drei junge Frauen zugeordnet, die nach dem Muster des
Grundkonflikts von Tradition und Moderne sortiert sind: Kiran lebt im Hause
ihres seit zwei Jahren toten Mannes, dessen Vater (eine Art Entsprechung
Shankars) den Tod nicht wahrhaben will, die Schwiegertochter zur gemeinsamen
Verdrängung drängt: sie wird aus den Armen des despotischen
Schwiegervaters befreit. Am anderen Ende Ishika, hochmütige Studentin,
Tochter reicher Eltern und Aerobic-Tänzerin, Verteilerin von Ohrfeigen:
ihr wird der Kopf zurecht gerückt. Dazwischen Sanjana, die weniger
society-bedürftig ist als sie scheinen will und das am Ende auch begreift.
Die Differenzierung findet sich wieder in den Tanzstilen (eine Einlage
demonstriert das in Vollendung), in der Kleidung - und überstrahlt werden
alle drei von der toten Geliebten Raj Aryans, die zugleich, als Bindeglied,
die Tochter Narayan Shankars war und von seiner Weigerung, ihre Liebe zu
Aryan (damals Student in Gurukul) zu akzeptieren, in den Selbstmord getrieben
wurde. Aufgelöst wird das inter- wie intratextuell komplexe Geflecht
in allseitiger Versöhnung, das versteht sich von selbst. Shankar und
Raj Aryan werden um die tote Geliebte/Tochter zur Familie, zu Vater und Sohn,
zusammengefügt, die Liebesgeschichten produzieren ausnahmslos Paare.
Das, was uns Kitsch heißt und mithin Ideologie, ist und bleibt die
Geschäftsgrundlage Bollywoods, die notwendige Voraussetzung seiner
monströsen Aufnahmefähigkeit. Die Merkmale des Trivialen - wenig
ambivalente Helden, um Einzelheiten und Realitäten unbesorgte Entwicklungen
von Figuren und Plots, Verwendung von Versatzstücken, Zeigen statt
Zurückhalten, Drang zur Versöhnung - sind die Merkmale dieses Kinos,
aber als Kunstform.
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