Am matschigen Flussufer
Filme haben ein Geschlecht. Dieser ist männlich. Er riecht nach
Aftershave. Nach Tabak und dem Alkohol, den Jimmy (Sean Penn) neben anderem
in seinem kleinen Drugstore an einer Straßenecke im Arbeiterviertel
von Boston vertickt. Und nach Furcht, als zwei Jungen einen dritten in ein
fremdes Auto einsteigen lassen.
"Mystic River", der neue Film von Regisseur Clint Eastwood nach dem
Roman "Spur der Wölfe" von Dennis Lehane, beginnt mit dieser Episode
aus der Vergangenheit. Drei Jungen vertreiben sich ihre Langeweile auf einer
Straße in ihrem Wohnviertel. Sie schreiben an diesem Nachmittag mit
den Spitzen ihrer Hockeyschläger ihre Namen in frischen Beton. Eine
Lappalie. Die beiden Männer, die in ihrem schwarzen Wagen anhalten,
eine Polizeimarke und Handschellen zeigen, geben sich als Autorität
aus. Bezichtigen die drei der Zerstörung öffentlichen Eigentums
und fordern eine Bestrafung.
Den einen Jungen, den sie vorgeblich mitnehmen, um ein paar Takte
mit seinen Eltern zu reden, und der seinen Freunden von der Rückbank
aus verzweifelt nachblickt, entführen sie und missbrauchen ihn tagelang
in einem Kellerloch im Wald. Bis ihm die Flucht glückt. Ein Trauma,
an dem das Opfer zerbricht und mit dem es trotzdem weiter leben muss.
Tim Robbins spielt diesen Überlebenden, Dave Boyle, als
zerstörte Existenz im Alter. Er hat Familie: eine Frau, einen kleinen
Sohn. Mit schlurfendem Schritt und hängenden Schultern begleitet er
ihn jeden Tag zum Schulbus, spielt mit ihm Baseball im abgezirkelten Hinterhof.
Die Freunde aus Jugendtagen haben nie über das Ereignis der Vergangenheit
gesprochen. Obwohl alle weiter im selben Stadtteil wohnen. Sie gehen sich
aus dem Weg, bis ein Mord sie 25 Jahre später zusammenführt.
Sean Penn, einer von ihnen, ist in der Gegenwart, in der der Film
über zwei Stunden zumeist spielt, ein solide gewordener Gangster. Er
ist Vater von drei Töchtern und in zweiter Ehe mit Annabeth (Laura Linney),
der Kusine von Boyles Frau Celeste (Marcia Gay Harden), verheiratet. Als
eines seiner Mädchen in der Kirche zur Kommunion geht, wird zeitgleich
die Älteste ermordet in einem verlassenen Bärenkäfig aufgefunden.
Ermittler in dem Fall ist Sean Devine (Kevin Bacon), der Dritte aus der alten
Clique. Als ihn sein Kollege Whitey Powers (Laurence Fishburne) nach seinem
Verhältnis zum Vater des Opfers befragt, sagt er beiläufig: Man
grüßt sich auf der Straße. Eine Untertreibung, wie sich
herausstellt.
Alle drei Männer sind Nomaden, die sich in ihrer zerbrechlichen
Existenz häuslich eingerichtet haben, ohne darin heimisch zu werden.
"Manchmal denke ich, wir wären alle in das Auto eingestiegen", skizziert
einer von ihnen die verbindende destruktive Lebenslinie, als ein Ende bereits
gekappt ist. Alle drei haben Ehefrauen, deren eigene Bedürfnisse von
dem männlich kodierten Raum, der ihre Familien umschließt, absorbiert
werden. Opfernd, schützend, verstummt - die Frauen bilden ein
Schreckenskabinett weiblicher Identitäten: Celeste interpretiert die
Blutspuren an ihrem Mann falsch, weil sie sich nicht mit seiner Geschichte
auseinander setzt. Annabeth will ihre Familie schützen und ist von der
Unfehlbarkeit ihres Gatten überzeugt. Lauren verlässt ihren Mann
trotz Schwangerschaft und überbringt ihm in zahlreichen Anrufen auf
dem Handy keine Botschaft. Von ihr sieht man lange Zeit nicht mehr als die
rote Lippen an einem Telefonhörer, der schnell wieder aufgelegt
wird.
Diese Schauerballade, dieser amerikanische Albtraum von den Fremden,
die das Idyll aufmischen und sich an Unschuldigen vergehen, verlangt nach
Vergeltung - und einer Moral. In der Darstellung der Rache, die Selbstjustiz
ist, entfaltet sich die Moritat ahnsehnlich wie das Stillleben eines
italienischen Malers in Chiaroscuro, Helldunkel: akzentuiert ausgeleuchtet,
begnadet ausgestattet und auf altmodische Weise auf die Leinwand aufgetragen.
Ohne die dauernd klingelnden Handys würde man nicht annehmen, dass dies
eine moderne Geschichte sei, stellte ein Kritiker in der englischen
Filmzeitschrift "Sight and Sound" fest. Eine Nostalgie-Wolke wabert über
diesen Film, der in seiner unverdrossenen Zurschaustellung von Männlichkeit
und reaktiver Weiblichkeit das Gesetz des Genres erfüllt und folglich
nicht neu interpretiert. Doch wo bleibt die Moral?
Ein anderer Film, der ähnlich retrospektiv an sein Drama
heranführt, ist "Sleepers" (1996) von Barry Levinson. Vier Jungen kommen
durch einen Streich, bei dem ein Mann getötet wird, ins Gefängnis.
Dort werden sie von dem Aufseher - Kevin Bacon - vergewaltigt. Jahre später
rächen sie sich an ihrem Peiniger. So trifft man sich wieder in der
Furcht. Doch im Gegensatz zu "Mystic River" kennt der weniger gelungen
inszenierte und in seiner Handlung stark konstruierte Film "Sleepers" nur
einen schalen juristischen Sieg, aber keine Erlösung für die
Täter. Bei Clint Eastwood sieht es in den beiden letzten Szenen nach
einem hart erarbeiteten Happy End für zwei seiner Protagonisten aus.
Mit entblößtem Oberkörper, auf dessen Rücken
ein überdimensionales Kreuz tätowiert ist, steht Jimmy am
Schlafzimmerfenster seines Hauses und blickt auf die Straße. Eine
Leidensgestalt im Unrecht. Er hat den falschen Mann umgebracht, der ihm von
seiner Schwägerin auf einem Tablett serviert wurde. Seine Frau hält
weiter zu ihm und spricht ihn von aller Schuld frei. Er sei der König,
der über Recht und Unrecht entscheide. In seinem Körper schlagen
die Herzen aller vier Familienmitglieder. Die hingebungsvolle Annabeth
wäscht den Mörder im Liebesakt rein. "We bury our sins, we wash
them clean", die Tagline zum Film passt zur Szene.
Später steht das Paar Seite an Seite vor seinem Haus, an dem
eine Parade vorbeizieht. Die verrückt gewordene Verräterin an ihrem
eigenen Mann, dessen Körper nun im Mystic River, dem Fluss von
Boston, schwimmt - erneut ein Symbol für den Prozess der Reinwaschung
-, wandert verwirrt durch die Menschengruppen. Celeste versucht, den verwaisten
Sohn durch Winken zu trösten, der auf einem der Wagen traurig mit seinem
leeren Baseballhandschuh spielt. Lauren, die sprachlose Frau vom Telefon,
ist mit ihrer neu geborenen Tochter zu ihrem Mann zurückgekehrt. Sowohl
das Motiv für ihre vorübergehende Trennung als auch die
Versöhnung, die zeitgleich mit der Aufklärung des Mordes an Jimmys
Tochter zusammenfällt, bleiben unklar. Das Ehepaar verfolgt gemeinsam
mit ihrem Kind die Parade.
Zwei Kleinfamilien gerettet, eine zerstört. In der Summe erinnert
das an eine griechische Tragödie und wirkt durch das offene Ende, das
keine Bestrafung des Täter andeutet, verstörend unmoralisch. Wenn
Männlichkeit und Furcht in einem Film von Clint Eastwood zusammentreffen,
werden die Konflikte nicht am runden Tisch gelöst, sondern wie in der
guten alten Zeit am matschigen Flussufer erledigt.
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