Julian Li Chi-chiu ist eine recht ungewöhnliche Persönlichkeit,
eine Ausnahmeerscheinung unter den Filmemachern Hong Kongs. Ein Multitalent:
Fotograf, Maler, Schriftsteller, nebenbei auch Regisseur. Autorenfilmer.
Versteht sich von selbst. Wenn er was anpackt, dann ist das 100 Prozent Li.
Jedes Werk ein Original. So auch der Arthouse-Horrorfilm NIGHT CORRIDOR ('03),
basierend auf einem seiner zahlreichen eigenen Romane, sein zweiter Film.
Der erste, THE ACCIDENT ('99), kontrovers aufgenommen. Lis Schilderung sexueller
Unruhen während einer folgenschweren Unglücksnacht (u.a. eine
vergleichsweise völlig undrastische, trotzdem perspektivisch
Old-School-Sino-Moral-kippende Gay-Love-Autofickszene) schaffen einen gewissen
Publikumsanreiz.
Keine Frage, Li, der zu seinen Lieblingsfilmen Eliseo Subielas
rätselhaften, großartigen EL LADO OSCURO DE CORAZON
(Argentinien/Kanada, '92) zählt, ist ein echter Autorenfilmer. Sein
zweiter Spielfilm, wieder ein ehrgeiziges Projekt, produziert von dem bekannten
schwulen Regisseur Stanley Kwan Kam-pang und dem Hauptdarsteller Daniel Wu
Yanzu (bekannt für seine starke Wirkung auf beiderlei Geschlechter),
ist der nur schwer greifbare Arthouse-Horrorfilm NIGHT CORRIDOR. Die Story
basiert auf einem von Lis eigenen Romane.
Die Filmtitel gleiten über monochrome Zerrbilder dunkel-zerquälter
Gesichter, die an die Werken des Surrealismus-beeinflußten britischen
Neo-Expressionisten Francis Bacons erinnern, ausschnittsweise kommt Johann
Heinrich Füßlis berühmtes, schwarz-romantisches Gemälde
"Der Nachtmahr" (1781) ins Blickfeld. Zuerst nur ein recht deutlicher Hinweis
darauf, wie es wohl um die Stimmung im weiteren bestellt sein dürfte,
wird diese fiebrige, bedeutungsschwere, prä-symbolistische Bildmetapher
später der eigentliche Kristallisationspunkt für den amorphen Plot.
NIGHT CORRIDOR beginnt mit einem erwachenden Schläfer und endet damit
auch wieder (die kurze kunsthistorische Koda eher unwesentlich). Was dazwischen
geschieht, ist möglicherweise die sehr elliptische Visualisierung einer
beklemmenden Traumvision. Die überkommt einen chinesischen
Fotokünstler in London.
Ausgangspunkt der Handlung ist ein angeblicher schwerer Verkehrsunfalls seines
Zwillingsbruders in Hong Kong. Gleich nach der Eröffnung seiner Ausstellung
(die gezeigten Bilder sind Julian Lis eigene) bricht er in seine Heimatstadt
auf. Aber der Bruder, ein Parkwächter, ist da bereits tot.
Möglicherweise zerfleischt von einer Horde Affen. Seine von
Verlassensängsten in Trunksucht und Psychosen getriebene Mutter schwer
damit beschäftigt, die wahren Umstände zu verschleiern.
Ein seltsamer Reigen beginnt. Aus dem Bewußtsein Getilgtes drängt
zurück an die Oberfläche: pädophiler Mißbrauch durch
einen katholischen Geistlichen, ein unverarbeiteter Ödipuskomplex,
Identitätszweifel, homoerotische Affären. Offen bleibt, ob es die
Neukonfrontation mit einer tief eingeschlossenen realen Vergangenheit und
alten Deformierungsschäden ist. Vielleicht die Umprägungen und
Neubesetzungen anderer (Un-)Bewußtseinsreste oder Phantasmen unbestimmter,
ganz anderer - viel grauenvollerer - Art?
Das alles sind Möglichkeiten, keine Gewißheiten. Allemal Gründe
genug für einen aggresiv dissoziativen Psycho-Backlash, dem nicht
adäquat zu begegnen ist. Viel Raum für die Schilderung von in
trüben Gefühlslagen herumoszilliernden Bewußtseinszuständen
des zerrissenen Protagonisten, vergeblich seine Erinnerungen nach brauchbaren
Abgleichmustern durchwühlend, überfordert, Erklärung für
seine geheimnisvolle Gegenwart zu finden. Eine schwierige, schmerzhafte
Persönlichkeitsarchäologie, die sie immer mehr zu einer
psychotisch-schizophrenen Identitätskrise zuspitzt. Die Atmosphäre
des Films dem entsprechend durchgehend bedrückend dicht, seine mit sicherem
Gespür für ästhetische Wirksamkeit entworfenen Bilder oft
von ungesund-algenhafter Farbstichigkeit.
Diesen persönlichen Problemkomplex erweitert Li durch phantastische
Elemente: Das leibhaftige Böse versucht, über die Welt zu kommen.
So oder so: Eine Menge dunkler Kräfte sind hier am Werk. Ohne fest
umrissenes, kontinuierliches Handlungsgefüge, entspricht NIGHT CORRIDOR
im Verlauf seines zeitlichen Voranschreitens eher der immer konkreter werdenden
Formulierung eines bestimmten Stimmungszustands von angst- und schreckensstarrer
existentieller Verunsicherung denn einer herkömmlichen linearen
Erzählung.
Schläfer erwacht. Oder nicht? ...
Traumlogik hin oder her: Was man Li vorhalten muß, ist, daß er
seinem ursprünglichen Impuls zu wenig subversiven Drive verleiht. (Es
versteht sich von selbst, daß ein so ätherisches Werk verglichen
mit Filmen, die den Schrecken durch den Einsatz von Spezialeffekten greifbarer
gestalten, grundsätzlich ein hohes Schwungmassendefizit aufweist.) Sein
Film, mit lediglich knapp 74 Minuten Laufzeit angenehm kurz gehalten, gerinnt
zu einem tiefenpsychologischen Standbild.
Um dorthin zu kommen, wo NIGHT CORRIDOR hingehören will, brauchte es
jedoch weit mehr krankhaft-hysterischer Dynamik, morbider, asozialer
Perversionen, komplizierter und präziserer
Realitätserschütterungen.
Li will viel, letztlich wohl zu viel - und scheitert daran, das alles zu
einem einzigen, künstlerisch überzeugenden Ausdruck zu verdichten
zu wollen. NIGHT CORRIDOR wirkt wie jemandes mißglückter Versuch,
in der Nähe der Bedingungen oder Objekte seiner ganz eigenen, speziellen
Obsession zur Entladung zu kommen. Genug Material für eine sehr scharfe,
sarkastisch-obszöne Karikatur. Die ist in Lis anerkennenswert aufrechtem
Fall aber nicht angebracht. Eins sollte ihm aber klar sein: Ein guter Fotograf
ist noch lang kein guter Regisseur. Möglicherweise weiß Li, wie
man nach den Regeln des Kunstmarkts spielen muß. Im Film-Biz hat er
noch einige zu lernen.
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