Werner Herzog: Rad der Zeit  (D 2003)

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Werner Herzog: Rad der Zeit  (D 2003)
Kritik v
on Stefan Höltgen

 

Jeder bildet für sich das Zentrum des Universums

In dem Maße, wie das Spielfilmwerk Werner Herzogs an Quantität abgenommen hat, hat sein dokumentarisches Schaffen gewonnen. Seit er 1987 seinen Spielfilm Cobra Verde inszeniert hat, ist es still um Herzog im Kino geworden: Sein Werk Schrei aus Stein (1991) konnte trotz internationaler Besetzung und Invincible (2001) trotz einer filmreifen authentischen Erzählung weder Publikum noch Kritik begeistern: Sein Stil habe sich verbraucht, seine Figuren würden sich - zum Klischee erstarrt - von Film zu Film nur noch wiederholen, ihm sei die Inspiration ausgegangen, lassen sich die Kritiken zusammenfassen. Was war mit dem Erzähltalent Herzogs geschehen? Nun, es hat sich offensichtlich verlagert in ein "Genre", von dem man am allerwenigsten erwartet, dass es mit narrativen Finessen daherkommt: den Dokumentarfilm.

Parallel zum Spielfilmwerk dreht Werner Herzog seit Ende der 1960er Jahre Dokumentarfilme. Viele davon sind der breiten Masse unbekannt geblieben, einige jedoch zu solch nachhaltigem Ruhm aufgestiegen, dass sie Herzogs Ruf als Ausnahmefilmer zweifellos mitbegründeten: Etwa der 1984 entstandene Gashebrum, in dem Herzog den Bergsteiger Reinhold Messner begleitet und ein unglaublich persönliches Portrait von diesem zeichnet. Und natürlich Mein liebster Feind (1999), in dem das freundschaftliche und gespannte Verhältnis zwischen Herzog und seinem langjährigen Schauspieler Klaus Kinski nachgezeichnet wird. Gerade letzterer Film verdeutlicht in vielen Details, welche Form von Dokumentarismus Herzog "produziert". Mit Rad der Zeit kommt nun ein weiterer Dokumentarfilm Herzogs in die Kinos.

Er habe sich schwer getan, einen Film über den Buddhismus zu drehen. Zu fremd seien ihm diese Religion und ihre Mystik, hat Herzog in einem Interview zu Rad der Zeit behauptet. Und dennoch hat er das Projekt, das ihm von der buddhistischen Gemeinde in Graz angetragen wurde, angenommen. In Graz sollte 2003 eines der wichtigsten Initiationsrituale des Buddhismus - das Kalachakra - durch den Dalai Lama durchgeführt werden. Nachdem Herzog seine (dokumentierende) Teilnahme zugesagt hatte, fasste er darüber hinaus den Entschluss, das Ritual schon ein Jahr zuvor (im für die Buddhisten bedeutenden "Jahr des Pferdes") in Tibet selbst zu filmen. Da dort ein von der chinesischen Regierung verhängtes Filmverbot herrscht, hat Herzog mit einer eingeschmuggelten Digitalkamera selbst gefilmt. Zum Leidwesen der mehreren Zehntausend teilnehmenden Gläubigen konnte der Dalei Lama an dem tibetanischen Inititationsritus aus Krankheitsgründen jedoch nicht wie geplant teilnehmen. Stattfgefunden hat es dennoch und Herzog fragt einige zum Verständnis der Riten wichtige Details den Dalai Lama später in Österreich und schneidet das Material in den Film hinein.

Eine für den Europäer fremde Welt tut sich auf in Rad der Zeit. Da werden unzählige Gläubige auf ihrem Weg zum heiligen Berg Kailash gezeigt, die sich in tausenden Niederwerfungen darauf zu bewegen. Meditierende Mönche en masse, ein aus farbigem Sand gezeichnetes Mandala, welches das Zentrum der Initiationsfeier bildet und immer wieder einzelne Gläubige, die die Geschichte ihrer Pilgerfahrt berichten, werden von Herzog filmisch eingefangen. Und fast möchte man meinen, geht Herzog seinem Gegenstand auf den Leim: Die vom Dalai Lama geäußerte Empfehlung, man solle in seiner eigenen Kultur bleiben, scheint Herzog in den Wind zu schlagen, wenn er seine Bilder mit szenischen Gesängen von Popol Vuh unterlegt, eine selbst schon fast meditative Bildkomposition zur Anwendung, die verklärend den Bildhintergrund mit extrem kurzen Brennweiten selbst zu einem flirrenden, umscharfen Mandala stilisiert oder sich wie gebannt an die Berichte einzelner Pilger hängt, die ihre oft jahrelangen Entbehrungen und Torturen schildern.

Doch ein solcher Verdacht wird schnell zerstreut, wenn man Herzogs modus operandi kennt, mit dem er die Erzählgegenstände seiner Dokumentarfilme präsentiert. Diese stellen nämlich eine Art Hybrid zwischen Inszenierung und Authentizität dar: Das dokumentierte Ereignis ist zwar historisch verbürgt, dessen (Nach)Erzählung jedoch nicht. In zahlreiche Filme zuvor hat Herzog auf diese Weise "eingegriffen": Ob es der "Mythos der zuschlagenden Tür" in Little Dieter needs to Fly (1997) oder die Beschreibung der sichtbaren Welt durch die taubblinde Fini Straubinger in Land des Schweigens und der Dunkelheit (1971) ist. Immer ist auch Herzogs eigene Interpretation der Tatsachen mit im Spiel. Das hat weniger mit Fälschen als vielmehr mit einer für diesen Regisseur typischen "filmischen Aufbereitung der Wirklichkeit" zu tun. Denn Film ist für Herzog nie abgefilmte Realität gewesen - nicht in seinem dokumentarischen und auch nicht in seinem fiktionalen Werk. Er ist damit wesentlich ehrlicher als ein Dokumentarist, der den "objektiven Zugang zur Wirklichkeit" behauptet. Denn dieser ist filmisch genauso wenig erreichbar wie sprachlich. "Jeder bildet für sich das Zentrum des Universums", sagt der Dalai Lama zu Herzog, der sich die Bedeutung des Mandala erklären lassen will und daraufhin diese Antwort bekommt, die insgeheim schon immer sein Credo als Regisseur gewesen ist.

Der religiöse Gegenstand in Rad der Zeit ist Herzog nicht fremd, wie er behauptet, sondern sogar ungemein nah. Seine gesamte Filmografie ist durchzogen von der Suche nach der Erfahrung des Anderen. Diese Suche spiegelt Herzog in seinen Figuren: Aguirre, Fitzcarraldo, Stroszek - sie stehen für diejenigen, die die Welt (neu) entdecken wollen und daran scheitern. Dieses reflexive Moment gibt Herzog auch in seinem dokumentarischen Werk nicht auf: Vom Bildschnitzer Steiner (1974) über Gashebrum bis hin zu Julianes Sturz in den Dschungel (2000) schildert Herzog Biografien, die extreme Erfahrungen gesammelt haben. Und mittels der Spiegelung seiner selbst in diesen Menschen wird auch der zweite Grund deutlich, aus dem Herzog Tatsachen überformt: weil er sie zu sich selbst in Beziehung setzt. So dokumentieren die Filme zu einem Teil auch den Autor selbst - was sich nicht zuletzt an Mein liebster Feind zeigt, in dem Herzog der eigentliche Hauptdarsteller ist, der vor (und hinter) der Kamera steht und sogar im Titel von sich selbst spricht.

Und im Rad der Zeit? Inszeniert Herzog auch dort dieses dokumentarisch-unübliche "Zentrum des Universums"? Nun, er ist auf der Suche danach. Das ahnt der Zuschauer den gesamten Film über in Herzogs Versuchen, aus der Menge heraus das einzelne Gesicht, das Individuum zu fixieren. Dies ist bei einer erklärten Massenveranstaltung wie dem Kalachakra-Ritual natürlich ein titanisches Unterfangen - und dennoch gelingt es Herzog. Ist er schon fasziniert von dem Pilger, der sechseinhalb Jahre lang 4100 Kilometer ausschließlich in Niederwerfung zurück gelegt hat, so findet er in Graz schließlich das, wonach er gesucht hat: Einen alten Tibeter, der über 30 Jahre lang im Gefängnis gesessen hat, nur weil er "Freiheit für Tibet!" gerufen hat. Und seine Strafe wurde mehrfach verlängert, weil er selbst im Gefängnis nicht geschwiegen hat. Nun ist dieser Mensch - darin ein untypischer Held Herzogs - dennoch am Ziel angelangt, ist wieder frei und sieht den Dalai Lama zum ersten Mal in seinem Leben.

Und als wäre dies nicht genug, kehrt Herzog noch einmal nach Tibet zurück, zur mittlerweile fast leeren Versammlungsstätte und findet dort einen letzten meditierenden Mönch, der nicht bemerkt hat oder nicht bemerken wollte, dass das Kalachakra vorüber ist: "Ob er die Glückseligkeit in der Meditation erreicht hat?", fragt Herzog erleichtert und damit endet sein Film.

Rad der Zeit
(D 2002)
Regie, Buch, Kamera (Tibet): Werner Herzog
Kamera (Graz): Peter Zeitlinger, Schnitt: Joe Bini, Ton: Eric Spitzer

Länge: 81 Minuten, Verleih: Werner Herzog Filmproduktion

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