Jeder bildet für sich das Zentrum des
Universums
In dem Maße, wie das Spielfilmwerk Werner Herzogs an Quantität
abgenommen hat, hat sein dokumentarisches Schaffen gewonnen. Seit er 1987
seinen Spielfilm Cobra Verde inszeniert hat, ist es still um Herzog
im Kino geworden: Sein Werk Schrei aus Stein (1991) konnte trotz
internationaler Besetzung und Invincible (2001) trotz einer filmreifen
authentischen Erzählung weder Publikum noch Kritik begeistern: Sein
Stil habe sich verbraucht, seine Figuren würden sich - zum Klischee
erstarrt - von Film zu Film nur noch wiederholen, ihm sei die Inspiration
ausgegangen, lassen sich die Kritiken zusammenfassen. Was war mit dem
Erzähltalent Herzogs geschehen? Nun, es hat sich offensichtlich verlagert
in ein "Genre", von dem man am allerwenigsten erwartet, dass es mit narrativen
Finessen daherkommt: den Dokumentarfilm.
Parallel zum Spielfilmwerk dreht Werner Herzog seit Ende der 1960er
Jahre Dokumentarfilme. Viele davon sind der breiten Masse unbekannt geblieben,
einige jedoch zu solch nachhaltigem Ruhm aufgestiegen, dass sie Herzogs Ruf
als Ausnahmefilmer zweifellos mitbegründeten: Etwa der 1984 entstandene
Gashebrum, in dem Herzog den Bergsteiger Reinhold Messner begleitet und ein
unglaublich persönliches Portrait von diesem zeichnet. Und natürlich
Mein liebster Feind (1999), in dem das freundschaftliche und gespannte
Verhältnis zwischen Herzog und seinem langjährigen Schauspieler
Klaus Kinski nachgezeichnet wird. Gerade letzterer Film verdeutlicht in vielen
Details, welche Form von Dokumentarismus Herzog "produziert". Mit Rad
der Zeit kommt nun ein weiterer Dokumentarfilm Herzogs in die
Kinos.
Er habe sich schwer getan, einen Film über den Buddhismus zu
drehen. Zu fremd seien ihm diese Religion und ihre Mystik, hat Herzog in
einem Interview zu Rad der Zeit behauptet. Und dennoch hat er das Projekt,
das ihm von der buddhistischen Gemeinde in Graz angetragen wurde, angenommen.
In Graz sollte 2003 eines der wichtigsten Initiationsrituale des Buddhismus
- das Kalachakra - durch den Dalai Lama durchgeführt werden. Nachdem
Herzog seine (dokumentierende) Teilnahme zugesagt hatte, fasste er darüber
hinaus den Entschluss, das Ritual schon ein Jahr zuvor (im für die
Buddhisten bedeutenden "Jahr des Pferdes") in Tibet selbst zu filmen. Da
dort ein von der chinesischen Regierung verhängtes Filmverbot herrscht,
hat Herzog mit einer eingeschmuggelten Digitalkamera selbst gefilmt. Zum
Leidwesen der mehreren Zehntausend teilnehmenden Gläubigen konnte der
Dalei Lama an dem tibetanischen Inititationsritus aus Krankheitsgründen
jedoch nicht wie geplant teilnehmen. Stattfgefunden hat es dennoch und Herzog
fragt einige zum Verständnis der Riten wichtige Details den Dalai Lama
später in Österreich und schneidet das Material in den Film
hinein.
Eine für den Europäer fremde Welt tut sich auf in Rad der
Zeit. Da werden unzählige Gläubige auf ihrem Weg zum heiligen Berg
Kailash gezeigt, die sich in tausenden Niederwerfungen darauf zu bewegen.
Meditierende Mönche en masse, ein aus farbigem Sand gezeichnetes Mandala,
welches das Zentrum der Initiationsfeier bildet und immer wieder einzelne
Gläubige, die die Geschichte ihrer Pilgerfahrt berichten, werden von
Herzog filmisch eingefangen. Und fast möchte man meinen, geht Herzog
seinem Gegenstand auf den Leim: Die vom Dalai Lama geäußerte
Empfehlung, man solle in seiner eigenen Kultur bleiben, scheint Herzog in
den Wind zu schlagen, wenn er seine Bilder mit szenischen Gesängen von
Popol Vuh unterlegt, eine selbst schon fast meditative Bildkomposition zur
Anwendung, die verklärend den Bildhintergrund mit extrem kurzen Brennweiten
selbst zu einem flirrenden, umscharfen Mandala stilisiert oder sich wie gebannt
an die Berichte einzelner Pilger hängt, die ihre oft jahrelangen
Entbehrungen und Torturen schildern.
Doch ein solcher Verdacht wird schnell zerstreut, wenn man Herzogs
modus operandi kennt, mit dem er die Erzählgegenstände seiner
Dokumentarfilme präsentiert. Diese stellen nämlich eine Art Hybrid
zwischen Inszenierung und Authentizität dar: Das dokumentierte Ereignis
ist zwar historisch verbürgt, dessen (Nach)Erzählung jedoch nicht.
In zahlreiche Filme zuvor hat Herzog auf diese Weise "eingegriffen": Ob es
der "Mythos der zuschlagenden Tür" in Little Dieter needs to Fly
(1997) oder die Beschreibung der sichtbaren Welt durch die taubblinde
Fini Straubinger in Land des Schweigens und der Dunkelheit (1971)
ist. Immer ist auch Herzogs eigene Interpretation der Tatsachen mit im Spiel.
Das hat weniger mit Fälschen als vielmehr mit einer für diesen
Regisseur typischen "filmischen Aufbereitung der Wirklichkeit" zu tun. Denn
Film ist für Herzog nie abgefilmte Realität gewesen - nicht in
seinem dokumentarischen und auch nicht in seinem fiktionalen Werk. Er ist
damit wesentlich ehrlicher als ein Dokumentarist, der den "objektiven Zugang
zur Wirklichkeit" behauptet. Denn dieser ist filmisch genauso wenig erreichbar
wie sprachlich. "Jeder bildet für sich das Zentrum des Universums",
sagt der Dalai Lama zu Herzog, der sich die Bedeutung des Mandala erklären
lassen will und daraufhin diese Antwort bekommt, die insgeheim schon immer
sein Credo als Regisseur gewesen ist.
Der religiöse Gegenstand in Rad der Zeit ist Herzog nicht
fremd, wie er behauptet, sondern sogar ungemein nah. Seine gesamte Filmografie
ist durchzogen von der Suche nach der Erfahrung des Anderen. Diese Suche
spiegelt Herzog in seinen Figuren: Aguirre, Fitzcarraldo, Stroszek - sie
stehen für diejenigen, die die Welt (neu) entdecken wollen und daran
scheitern. Dieses reflexive Moment gibt Herzog auch in seinem dokumentarischen
Werk nicht auf: Vom Bildschnitzer Steiner (1974) über
Gashebrum bis hin zu Julianes Sturz in den Dschungel (2000)
schildert Herzog Biografien, die extreme Erfahrungen gesammelt haben. Und
mittels der Spiegelung seiner selbst in diesen Menschen wird auch der zweite
Grund deutlich, aus dem Herzog Tatsachen überformt: weil er sie zu sich
selbst in Beziehung setzt. So dokumentieren die Filme zu einem Teil auch
den Autor selbst - was sich nicht zuletzt an Mein liebster Feind zeigt, in
dem Herzog der eigentliche Hauptdarsteller ist, der vor (und hinter) der
Kamera steht und sogar im Titel von sich selbst spricht.
Und im Rad der Zeit? Inszeniert Herzog auch dort dieses
dokumentarisch-unübliche "Zentrum des Universums"? Nun, er ist auf der
Suche danach. Das ahnt der Zuschauer den gesamten Film über in Herzogs
Versuchen, aus der Menge heraus das einzelne Gesicht, das Individuum zu fixieren.
Dies ist bei einer erklärten Massenveranstaltung wie dem Kalachakra-Ritual
natürlich ein titanisches Unterfangen - und dennoch gelingt es Herzog.
Ist er schon fasziniert von dem Pilger, der sechseinhalb Jahre lang 4100
Kilometer ausschließlich in Niederwerfung zurück gelegt hat, so
findet er in Graz schließlich das, wonach er gesucht hat: Einen alten
Tibeter, der über 30 Jahre lang im Gefängnis gesessen hat, nur
weil er "Freiheit für Tibet!" gerufen hat. Und seine Strafe wurde mehrfach
verlängert, weil er selbst im Gefängnis nicht geschwiegen hat.
Nun ist dieser Mensch - darin ein untypischer Held Herzogs - dennoch am Ziel
angelangt, ist wieder frei und sieht den Dalai Lama zum ersten Mal in seinem
Leben.
Und als wäre dies nicht genug, kehrt Herzog noch einmal nach
Tibet zurück, zur mittlerweile fast leeren Versammlungsstätte und
findet dort einen letzten meditierenden Mönch, der nicht bemerkt hat
oder nicht bemerken wollte, dass das Kalachakra vorüber ist: "Ob er
die Glückseligkeit in der Meditation erreicht hat?", fragt Herzog
erleichtert und damit endet sein Film.
Rad der Zeit
(D 2002)
Regie, Buch, Kamera (Tibet): Werner Herzog
Kamera (Graz): Peter Zeitlinger, Schnitt: Joe Bini, Ton: Eric Spitzer
Länge: 81 Minuten, Verleih: Werner Herzog Filmproduktion
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