Am dunklen Ende der Welt
Kindheit ist erwachsen werden auf Probe. Die Welt, auf die
Größe der Familie zusammengeschrumpft, dehnt sich aus. Der Innenraum
stülpt sich nach außen. Neue Erfahrungen durchbrechen gewohnte
Rituale. Ich sehe was, was du nicht siehst, spielen Eltern mit
ihren Kindern auf langen Autofahrten zur Zerstreuung. Über Vermutungen,
die mit warm oder kalt quittiert werden, erraten
sie den Gegenstand.
Mit einer ähnlichen Liedzeile eröffnet Rain,
der am 20. Februar startende Film der neuseeländischen Regisseurin Christine
Jeffs: You dont know what I want/You dont know whats
going on/You cant see what I can. Zu der melancholischen
Frauenstimme, begleitet von langsamen Gitarrenklängen, schwimmt ein
Mädchen auf dem Rücken im dunklen Wasser, Beine und Arme weit
ausgebreitet. Der Gesang geht in die erste Einblendung von einem Strand
über. Die Natur, die Farben, das Licht - alles ist in Braun getaucht.
Dieser Landstrich in Neuseeland - dem grünen Ende der Welt,
wie gewinnend in den Broschüren des Fremdenverkehrsamts geworben wird
- versinkt aus der Perspektive der Kamera im Morast. Bei Ebbe staken Segelboote
wie hilflose Vögel im Schlamm.
Eine Stimme aus dem Off erzählt von ihrer Familie und dem gemeinsamen
Sommerurlaub am Strand. Der dunklen Sand- und Meerlandschaft nähern
wir uns aus der Perspektive der 13-jährigen Janey. Sie verbringt mit
ihrer Mutter Kate, ihrem Vater Ed und dem fünfjährigen Bruder Jim
den Sommer am Strand. Eine Halbinsel mit Hafen. Ein Ferienbungalow am Wasser.
Die Mutter sitzt gelangweilt im Sonnenstuhl. Der Vater mäht
gleichmütig den Rasen. Sie trinken viel Bourbon mit Eis und Zitrone,
flirten auf Partys am Abend und schwimmen mit den Gästen besoffen im
Meer. Es wird wenig geredet.
Janey und Jim sind sich selbst überlassen. Räkeln sich in
den braunen Korbsesseln auf der Terrasse. Schauen den Eltern zu. Ein Teenager
im geblümten Bikini. Ein schmaler Junge mit Sommersprossen. Einmal wirbelt
Jim mit einem schwarzen Umhang über den Hügel. Ein kleiner Batman.
Selbstvergessen planscht er mit seiner zu großen Taucherbrille im flachen
Wasser am Strand. Aufmerksam beobachtet Janey die Erwachsenen. Schiebt sich
auf den Partys durchs Gedränge. Gelassen trabt der kleine Bruder hinter
der großen Schwester her.
An einem schwülen Sommertag hält sich die Familie auf dem
Boot des Fotografen Cady auf. Die Erwachsenen trinken. Die Kinder schwimmen
im Meer. Cady fotografiert. Die Familie, die Mutter und viel später
die Tochter - allein. Ich will meine Seele sehen. Janey sieht
etwas, das sie nicht sehen soll. Die Mutter beginnt beiläufig eine
Affäre mit dem Fotografen. Ihre Tochter imitiert sie. Trägt ihr
Kleid, küsst den gleichaltrigen Nachbarsjungen, setzt ihre kindlichen
Reize bewusst bei Cady ein. Leichthin agiert Janey als Doublette der Mutter,
erschreckend durchtrieben in der Sicherheit der Wahl ihrer Waffen.
Janey spielt mit dem spürbaren Unbehagen der Mutter. Vermittelt
in Andeutungen, dass sie weiß, was los ist. Kate ignoriert diese
Anspielungen. Janey wird direkter. Bittet, nein, fordert den Fotografen auf,
Bilder von ihr zu machen. Präsentiert sich im Kleid der Mutter. Die
Erwachsenen lassen die Dinge geschehen. Lächeln über das altkluge
Kind. Sie polieren den Rahmen, der ihnen aus der Hand gleitet. Das Kind weitet
die Welt. Es überschreitet ihre Grenze. Seine kleine Hand streicht
über eine beharrte Männerbrust. Danach steht Janey unter der Dusche
im Garten. Die Welt schrumpft wieder zusammen. Das Drama bleibt in der
Familie.
Das Spielfilmdebüt von Christine Jeffs (ihr erster Kurzfilm
Stroke wurde 1994 in Cannes in der Reihe Un certain
regard aufgeführt) entstand nach der gleichnamigen Novelle der
neuseeländischen Autorin Kirsty Gunn. Die Regisseurin adaptierte den
Text (in deutscher Übersetzung unter dem Titel Regentage
im Berliner Taschenbuch Verlag erschienen) für die Leinwand. Anders
als in dem schmalen Bändchen der in London lebenden Autorin wird bei
Jeffs die 13-jährige Janey zur aktiv handelnden Verführerin.
Auf grobkörnigem 16mm-Filmmaterial gedreht, von der
neuseeländischen Filmstiftung mit einem Budget von rund 700 000 Euro
finanziert, entfaltet die visuell meisterlich umgesetzte Story einen
atmosphärischen Sog, der sich sowohl durch die beiläufige, der
tragischen Entwicklung entgegenspielende Filmmusik als auch mittels der
unbeteiligten Stimme der Protagonistin aus dem Off verdichtet.
Entgegen des poppigen, manchmal überkandidelten Retro-Looks der
in den 70er Jahren angesiedelten Filme wählt Christine Jeffs einen
sepiafarbenen Schonbezug wie einen Ölfilm als Grundton, der andere Farben
kräftig hervorbringt: den grünen Rasen, den rostigbraunen
Rasenmäher, die roten Haare von Jim, die Blumen auf dem Bikini von Janey.
Mag dieser Stil auch aus der Begrenzung finanzieller Mittel resultieren,
in seiner gedeckten Linie trägt er zur rätselhaften Schönheit
des Films bei.
Ein weiterer Glücksfall sind die Schauspieler. Sarah Peirse
(Heavenly Creatures) verkörpert Kate mit einer rastlosen,
lasziven Sinnlichkeit, die in der brütenden Hitze des Sommers
schweißtreibend wirkt. In ihrer Androgynität erinnert sie an die
amerikanische Schauspielerin Sigourney Weaver in Alien -
Resurrection oder als Ehefrau in einer ähnlichen Konstellation
in Der Eissturm.
Die beiden Kontrahenten um die Gunst von Kate - Ed und Cady - werden
von Alistair Browning und Marton Csokas gespielt. Beide Darsteller sind mit
dem Peter-Jackson-Film Herr der Ringe zur Zeit im Kino.
Rain forderte mehr Subtilität von ihnen: Browning nähert
sich behutsam seiner Frau, wird von ihr aber in seinem Begehren abgewiesen.
Mit dem Eis in der Hand kann er nur die beiden Kinder beglücken. Csokas
erotische Anziehung auf Kate und Janey resultiert aus seiner Aura als Fotograf
und Abenteurer. Gemischt mit Gedankenlosigkeit ergibt sich ein gefährlicher
Cocktail. Die kleine Verführerin wird von der 15-jährigen Alicia
Fulford-Wierzbicki gespielt, die als Beste Nachwuchsschauspielerin einen
von drei New Zealand Film Awards für Rain erhielt. Geradezu
hinreißend: Aaron Murphy als Janeys niedlicher Bruder Jim.
Cinema of Unease, Kino der Unruhe, Kino des Unbehagens,
nannte der Schauspieler Sam Neill seinen Film über Neuseeland für
die Reihe 100 Jahre Filmgeschichte vom Britischen Filminstitut.
Wenn das Kino unser Wesen widerspiegelt, dann sind wir eine zutiefst
verstörte Nation. Nach Ansicht von Sam Neill entwickelt der
neuseeländische Film erst seit Ende der 70er-Jahren ein eigenständiges
Profil. Die Wahrnehmung der überwältigenden Schönheit des
Landes verschiebt sich zu Gunsten einer radikalen Sicht auf soziale Defizite.
Ihre Thematisierung verändert parallel den Blick auf die Landschaft.
Sie erscheint bedrohlich statt idyllisch. Einsamkeit, Gewalt, Wahnsinn betten
sich zwischen grüne Hügeln und moosbedeckte Regenwälder.
In Rain ist das Unbehagen allgegenwärtig. Jeffs
beherrscht die spannungsgeladenen Gesten in diesem Summerblues an der
neuseeländischen Küste. Gefährlich ruhig, in den akzentuierten
Bildern einer düsteren Landschaft, erzählt sie die Chronik eines
angekündigten Todes. Wer begehrt, zahlt einen Preis. Das Kind, das erwachsen
werden will, dehnt die Welt und das, was sie zusammenhält. In dieser
Dehnung zerreißt es den schützenden Raum, der die Familie umgibt.
Ich sehe was, was du nicht siehst. Im ahnungslosen Kinderreim
liegen Erkenntnis und Erschrecken nahe beieinander.
zur Jump Cut Startseite
|