Überflüssig an Mohsen Makhmalbafs Reise nach
Kandahar ist einzig das Pathos, das er sich von seiner Ausgangs- und
Grundkonstellation borgt, der Suche einer nach Kanada ausgewanderten Afghanin
nach ihrer Schwester, die in Kandahar ist und angekündigt hat, sich
bei der unmittelbar bevorstehenden Sonnenfinsternis das Leben zu nehmen.
Die Struktur der Reise, die dem Film Roadmovie-ähnlich zugrunde liegt,
hat eine solche Anreicherung nicht nötig, das Ausbleiben der Ankunft,
der Erlösung reicht als dramatisches Moment völlig aus. Alles,
was der Heldin auf ihrer Reise nach Kandahar begegnet, führt das Elend
Afghanistans deutlich und emblematisch genug vor Augen.
Die Vermischung von Dokumentarischem und Fiktion, die für das
iranische Kino so typisch ist, ist ein kluger Schachzug auch in diesem Fall,
wo doch die bittere Realität aus moralischen Gründen kein Jota
Unschärfe in ihrer Ab-Bildung zu erlauben scheint. Makhmalbaf vermeidet
in dieser Hybridisierung jedoch geschickt die Fallen eines naiven
Dokumentarrealismus, lässt die Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion
grundsätzlich verwischt und findet genau auf dieser Grenze (der
Fiktionalisierung des "Realen" und der realen "Wahrheit" seiner Fiktion)
die denkwürdigen Bilder, die die Stärke des Films ausmachen. Etwa
die grotesk an Fallschirmen zu Boden schwebenden Beinprothesen, auf die in
einem erschütternden Wettrennen die Minenopfer auf ihren Krücken
zuhumpeln. Der Zugriff auf solche Szenen (egal, wie stark sie jeweils inszeniert
sind) ist der des Spielfilm-, nicht des Dokumentarregisseurs: indem er sie
mit Musik untermalt, kommentiert und emotional auflädt (und dadurch
zugleich eine Distanzierung herstellt), indem er sie mit Handkamera und
geschicktem Schnitt dynamisiert.
Der Film wird zum Stationendrama der Heldin, die auf Raffgier der
Ärmsten wie auf selbstlose Unterstützung trifft, die immer wieder
Zeugin des schlechten Charakter auch noch der Opfer wird. Makhmalbaf
erzählt das in nur lose zusammenhängenden Episoden, stets führt
er kurz den Schauplatz ein, dann folgt der Auftritt der Heldin.
Eindrückliche Schauplätze sind eine Koranschule, in der die Kinder
neben den Suren auch Thesen zum Waffengebrauch auswendig aufsagen können.
Oder ein Lazarett des Roten Kreuzes, umlagert von Einarmigen und Einbeinigen,
die auf ihre in viel zu geringer Zahl vorhandenen Prothesen warten. Oder
eine Aufklärung kleiner Mädchen über die Gefahr von Tretminen
am Anschauungsbeispiel ihrer Puppen. Der Film kommentiert nichts davon direkt,
höchstens, indem er immer wieder Momente der Schönheit, der Faszination
gegen das Elend stellt. Darin liegt kein falscher Trost, nur der Wille, den
Blick nicht zu verengen, der Wille, dem existenziellen Elend das Feld nicht
kampflos zu räumen.
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