An den Schmerzen erkennst du, dass du zu Hause bist, und
nicht an dem Klingelschild. - Das Spielfilmdebüt Scherbentanz
von Chris Kraus handelt von einer zerrütteten Familie. Einer Familie,
die durch häusliche Gewalt schon früh auseinander gesprengt wurde.
Chris Kraus, Regisseur und Drehbuchautor von Scherbentanz ist ebenfalls
Autor des hoch gelobten gleichnamigen Buches. Er arbeitete parallel an Drehbuch
und Roman und übernahm auch die Regie, um so nahe wie möglich am
Inhalt des Buches zu bleiben. Auf dem diesjährigen Münchner Filmfest
bekam Kraus für sein Werk den Drehbuchpreis 2002.
Für die Figur des Jesko, ein junger Mann, der gegen
Familienstrukturen, das Vergessen und ums Überleben kämpft, hat
Kraus Jürgen Vogel ausgesucht. Vogel vereint wie kaum ein anderer deutscher
Darsteller Verletzlichkeit, Einsamkeit und Selbstironie in seinen Rollen.
Schon als Jan Nebel in Wolfgang Beckers Spielfilm Das Leben ist eine
Baustelle (für diese Rolle bekam er den Deutschen Bundesfilmpreis)
verkörpert er einen jungen Mann, der sein Leben und seine Herkunft hasst.
Auch in Scherbentanz spielt Vogel eine Person, die mit ihrer Familiengeschichte
hadert. Ich spiele am liebsten gebrochene Typen und
Arschlöcher, sagt Vogel über sich. Auch sein Jesko ist ein
unsympathischer Zyniker, ein von Hass und Selbstmitleid zerfressener erfolgloser
Modedesigner, gnadenlos in seiner Anklage auf sein Elternhaus und die Welt.
Doch hinter dieser harten Fassade verbirgt sich ein stark traumatisierter,
empfindlicher Mann. Ein Mann, der mit und um sein Leben kämpft. Denn
Jesko hat Leukämie, nur eine Knochenmarkspende kann ihn noch retten.
Sein Vater (Dietrich Hollinderbäumer,The Long Hello and Short
Goodbye von Rainer Kaufmann) ist ein erfolgreicher Unternehmer. Er
möchte das Leben seines jüngsten Sohnes retten und setzt einen
Privatdetektiv auf die Spur seiner seit Jahrzehnten verschollenen Frau. Kommt
sie doch als mögliche Knochenmarkspenderin in Frage. Käthe wird
gefunden - in einem Obdachlosenasyl. Margit Carstensen, eine
der größten deutschen Theaterheroinen, dem Kinopublikum bekannt
durch viele Fassbinder-Filme, spielte bereits mit Jürgen Vogel in Romuald
Karmarkars Spielfilm Manila zusammen. Überzeugend abstoßend
ist sie in ihrer Rolle als verwirrte, verwahrloste Pennerin. Eine, die gerne
mal im Garten herumirrt und buddelnd auf Schatzsuche geht - ganz in ihrer
Phantasiewelt aufgehend.
Auf dem Familienbesitz treffen sie wieder aufeinander. Jesko, der
Verlierer, sein erfolgreicher älterer Bruder Ansgar (der Film- und
Fernsehschauspieler Peter Davor) Mutter Käthe und Vater Gebhard. Der
Familienreigen beginnt sich zu drehen. Jesko ist entsetzt, dass gerade seine
verhasste Mutter sein Leben retten soll. Immer wieder wird er von Erinnerungen
geplagt - gezeigt in Rückblenden, die dem Zuschauer die
Familientragödie verraten: die Kindheit der Brüder mit einem
desinteressierten Vater und einer prügelnden Mutter. Die junge Käthe
wird von Andrea Sawatzki (Das Experiment von Oliver Hirschbiegel)
gespielt.
Die Familie zerbricht. Die Kinder kommen ins Kinderheim. Die Mutter
landet in der Psychiatrie, der Vater macht Karriere. Wieder konfrontiert
mit seiner Mutter muss sich Jesko seiner Vergangenheit und der Gegenwart
stellen. Er muss sich arrangieren, um überleben zu können.
Unterstützung und Hilfe findet er bei der Verlobten seines Bruders (Nadja
Uhl, Die Stille nach dem Schuss von Volker Schlöndorff).
Die Handlung des Films kann nicht immer überzeugen. Mit all seinen
Schicksalsschlägen und Fügungen wirkt er in mehr als einer Szene
unglaubwürdig. Sei es, dass die verwirrte Käthe ihrem Jüngsten
doch noch zu einer Knochenmarkspende verhilft und dabei ein Familiengeheimnis
aufdeckt, sei es, dass die kleine Tochter Jeskos urplötzlich in einem
seiner kritischsten Momente vor ihm steht. Die Kamerafrau Judith Kaufmann
fängt mit ihren Bildern die düstere und bedrückende Stimmung,
die solch einer Familiengeschichte anhaftet, ein. Drehort ist eine alte Villa
im Schwäbischen Wald, in der sich vor ca. 50 Jahren eine Familie selbst
ausgelöscht hat. Seitdem steht das Haus leer - doch die Einrichtung
blieb original erhalten. Die Geister scheinen das Haus noch nicht verlassen
zu haben und erzählen vielleicht auch einen Teil ihrer Geschichte.
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