Familienromane
Wenn es bei David Cronenberg um das Thema "Familie" geht, darf man
als Zuschauer auf die tiefsten emotionalen Abgründe hoffen. Familie,
dass ist in Cronenbergs Universum immer gleichbedeutend mit gewalttätigen
Strukturen, Missbrauch, Angst und psychischer Instabilität - also genau
das Gegenteil der Familien, die Hollywoods Filmmelodramen sonst
präsentieren. Cronenbergs Familienfilme sind, trotzdem sie als
"Fallgeschichten" daherkommen, immer "phylogenetisch" motiviert: Er bebildert
in seinen Familienfilmen die im sozialen Konstrukt "Familie" von je her
bestehenden Probleme und Untiefen, verschiebt sie auf die Ebene des Horror,
verdichtet sie zu Einzelschicksalen und bringt dies filmisch zur
Darstellung.
In "The Brood" beschreibt Cronenberg eine Mutter, die sui generis
Kinder gebiert, die nur für kurze Zeit leben und jeden töten,
auf den sich die emotionale Aggression der Mutter richtet. "Scanners"
erzählt die Geschichte zweier ungleicher Brüder, die mit
telekinetischen Fähigkeiten ausgestattet sind und als erbitterte Feinde
gegeneinander die Selbstvernichtung antreten. Analog handelt "Dead Ringers"
von Gynäkologen-Zwillingsbrüdern, die sich beide in dieselbe Patientin
verlieben und sich ihr gegenüber als einer darstellen - was
schließlich aller drei Leben zerstört. Mit seinem neuen Film "Spider"
widmet sich Cronenberg nun einem Freud'schen Familienroman reinster
Ausprägung: Ein Junge erzählt sich selbst die Geschichte seiner
eigenen Herkunft und versucht das Netz aus biografisches Halbwahrheiten aufrecht
zu halten um sich dadurch sein eigenes Leid verstehbar zu machen.
Dennis Clegg (von seiner Mutter mit dem Kosenamen "Spider" belegt)
kehrt nach Jahrzehnten in seinen Heimatort zurück. Dort wird er in einem
Übergangsheim für ehemalige Insassen einer Psychiatrie untergebracht.
Denn Spider leidet unter Schizophrenie. Er eilt ruhelos und sich ständig
nach Verfolgern umschauend durch die Straßen, führt
Selbstgespräche und ist unfähig Beziehungen zu anderen Menschen
aufzubauen. Er trägt unter seinem Mantel stets vier Oberhemden und als
er vermutet, der Gasofen seines Zimmers vergifte die Luft, wickelt er sich
zusätzlich noch mit Zeitungspapier ein. Wie seinen Augapfel behütet
er ein kleines Notizheftchen, in dem er Erinnerungsaufzeichnungen über
seine Vergangenheit sammelt. Und um die fehlenden Erinnerungen aufzufrischen
und das Notizbuch zu ergänzen - den Familienroman endlich zu einem
kohärenten Ende zu bringen - sucht er nun die Stätten seiner Kindheit
auf.
Für David Cronenberg ist Film ein Experimentierfeld. Nicht nur
bebildert er immer wieder eigene wissenschaftliche und quasi-wissenschaftliche
Hypothesen (zum Beispiel hat David Cronenberg mit "Rabid" 1974, lange bevor
der Begriff "Stammzellentherapie" geprägt war, einen Film über
das Verfahren gedreht); Cronenberg setzt die audiovisuellen Möglichkeiten
des Films auch selbst experimentell ein. In dieser Hinsicht interessant sind
seine Versuche über den Filmraum, zu denen auch Spider gezählt
werden kann. Cronenbergs Filme handeln auch immer davon, wie Räume
überbrückt werden können: entweder durch die Technik
("Videodrome", "eXistenZ", "The Fly") oder durch parapsychologische
Fähigkeiten ("Dead Zone", "Scanners"). Das Wesentliche dabei ist, dass
Cronenberg disparate Räume einander durchdringen lässt, indem er
die Membran dazwischen (oft eine mediale Oberfläche) durchstößt
und den Protagonisten selbst zum Medium macht.
In dieser Hinsicht ist auch "Spider" ein Film über die
Überwindung von Raum- und nun auch Zeitgrenzen: Dennis Clegg erinnert
sich nicht einfach daran, was er als Junge erlebt hat; nein, er nimmt noch
einmal daran Teil, wenn sein Vater seine Mutter betrügt, diese
schließlich im Suff erschlägt und mit einer Hure als "Ersatzfrau"
weiterlebt. Dennis steht als Erwachsener Beobachter in den Szenen seiner
Kindheit, sieht sich selbst als Kind, spricht die Worte, die er damals gesprochen
hat, aus der Erinnerung, wie, um sich zu vergewissern, dass er sich korrekt
erinnert. Und dennoch werfen diese scheinbar untrüglichen Bilder Fragen
auf: Der erwachsene Spider ist selbst Zeuge solcher Szenen, denen er als
Kind gar nicht beigewohnt hat und genau diese Szenen schreibt er in sein
Notizheft.
Dass jeder Familienroman, wie die Psychoanalyse ihn beschreibt, ein
rein ideelles Konstrukt ist, ein Wunschtraum, der die Kränkung des
Ödipusdramas, dessen Zeuge wir zusammen mit Dennis immer wieder werden,
verdeutlicht Cronenberg schonungslos. Das Lügengebäude Dennis'
bricht mehr und mehr in sich zusammen. Die Szenen seiner Vergangenheit usupieren
seine Gegenwart und der nächste schizophrene Schub verursacht, dass
die Menschen seiner Umgebung auf einmal zu den Menschen seiner Vergangenheit
werden. Schließlich muss Dennis erkennen, was es mit dem Tod seiner
Mutter auf sich hat. Sein Versuch, die Fäden seiner Biografie zu einem
perfekten und undurchdringlichen Netz zu knüpfen, scheitert.
Cronenberg erzählt und zeigt diese Geschichte mit unglaublichem
Einfühlungsvermögen und - wie man so sagt - psychologischer Tiefe.
Diese Tiefe ist jedoch auch einem Projekt filmischer Theoriebildung geschuldet,
deren Bestreben es ist, Film selbst als Diskursbeitrag zu formulieren. Auf
diese Weise verwebt er die Sujets seiner Filmografie zu einem Projekt über
den Menschen, der in der Überschreitung räumlicher und zeitlicher
Grenzen die Fragmentierung seiner selbst erleben muss. Gesund und Krank
unterscheidet Cronenberg dabei nicht; das sind nur verschiedene Grade auf
ein und derselben Skala.
Spider
(Can/GB 2002)
Regie: David Cronenberg
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