Filmkritik David Cronenberg: Spider  (USA 2004)

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David Cronenberg: Spider  (USA 2004)

 

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David Cronenberg: Spider  (USA 2004)
Kritik v
on Stefan Höltgen

 

Familienromane

Wenn es bei David Cronenberg um das Thema "Familie" geht, darf man als Zuschauer auf die tiefsten emotionalen Abgründe hoffen. Familie, dass ist in Cronenbergs Universum immer gleichbedeutend mit gewalttätigen Strukturen, Missbrauch, Angst und psychischer Instabilität - also genau das Gegenteil der Familien, die Hollywoods Filmmelodramen sonst präsentieren. Cronenbergs Familienfilme sind, trotzdem sie als "Fallgeschichten" daherkommen, immer "phylogenetisch" motiviert: Er bebildert in seinen Familienfilmen die im sozialen Konstrukt "Familie" von je her bestehenden Probleme und Untiefen, verschiebt sie auf die Ebene des Horror, verdichtet sie zu Einzelschicksalen und bringt dies filmisch zur Darstellung.

In "The Brood" beschreibt Cronenberg eine Mutter, die sui generis Kinder gebiert, die nur für kurze Zeit leben und jeden töten, auf den sich die emotionale Aggression der Mutter richtet. "Scanners" erzählt die Geschichte zweier ungleicher Brüder, die mit telekinetischen Fähigkeiten ausgestattet sind und als erbitterte Feinde gegeneinander die Selbstvernichtung antreten. Analog handelt "Dead Ringers" von Gynäkologen-Zwillingsbrüdern, die sich beide in dieselbe Patientin verlieben und sich ihr gegenüber als einer darstellen - was schließlich aller drei Leben zerstört. Mit seinem neuen Film "Spider" widmet sich Cronenberg nun einem Freud'schen Familienroman reinster Ausprägung: Ein Junge erzählt sich selbst die Geschichte seiner eigenen Herkunft und versucht das Netz aus biografisches Halbwahrheiten aufrecht zu halten um sich dadurch sein eigenes Leid verstehbar zu machen.

Dennis Clegg (von seiner Mutter mit dem Kosenamen "Spider" belegt) kehrt nach Jahrzehnten in seinen Heimatort zurück. Dort wird er in einem Übergangsheim für ehemalige Insassen einer Psychiatrie untergebracht. Denn Spider leidet unter Schizophrenie. Er eilt ruhelos und sich ständig nach Verfolgern umschauend durch die Straßen, führt Selbstgespräche und ist unfähig Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Er trägt unter seinem Mantel stets vier Oberhemden und als er vermutet, der Gasofen seines Zimmers vergifte die Luft, wickelt er sich zusätzlich noch mit Zeitungspapier ein. Wie seinen Augapfel behütet er ein kleines Notizheftchen, in dem er Erinnerungsaufzeichnungen über seine Vergangenheit sammelt. Und um die fehlenden Erinnerungen aufzufrischen und das Notizbuch zu ergänzen - den Familienroman endlich zu einem kohärenten Ende zu bringen - sucht er nun die Stätten seiner Kindheit auf.

Für David Cronenberg ist Film ein Experimentierfeld. Nicht nur bebildert er immer wieder eigene wissenschaftliche und quasi-wissenschaftliche Hypothesen (zum Beispiel hat David Cronenberg mit "Rabid" 1974, lange bevor der Begriff "Stammzellentherapie" geprägt war, einen Film über das Verfahren gedreht); Cronenberg setzt die audiovisuellen Möglichkeiten des Films auch selbst experimentell ein. In dieser Hinsicht interessant sind seine Versuche über den Filmraum, zu denen auch Spider gezählt werden kann. Cronenbergs Filme handeln auch immer davon, wie Räume überbrückt werden können: entweder durch die Technik ("Videodrome", "eXistenZ", "The Fly") oder durch parapsychologische Fähigkeiten ("Dead Zone", "Scanners"). Das Wesentliche dabei ist, dass Cronenberg disparate Räume einander durchdringen lässt, indem er die Membran dazwischen (oft eine mediale Oberfläche) durchstößt und den Protagonisten selbst zum Medium macht.

In dieser Hinsicht ist auch "Spider" ein Film über die Überwindung von Raum- und nun auch Zeitgrenzen: Dennis Clegg erinnert sich nicht einfach daran, was er als Junge erlebt hat; nein, er nimmt noch einmal daran Teil, wenn sein Vater seine Mutter betrügt, diese schließlich im Suff erschlägt und mit einer Hure als "Ersatzfrau" weiterlebt. Dennis steht als Erwachsener Beobachter in den Szenen seiner Kindheit, sieht sich selbst als Kind, spricht die Worte, die er damals gesprochen hat, aus der Erinnerung, wie, um sich zu vergewissern, dass er sich korrekt erinnert. Und dennoch werfen diese scheinbar untrüglichen Bilder Fragen auf: Der erwachsene Spider ist selbst Zeuge solcher Szenen, denen er als Kind gar nicht beigewohnt hat und genau diese Szenen schreibt er in sein Notizheft.

Dass jeder Familienroman, wie die Psychoanalyse ihn beschreibt, ein rein ideelles Konstrukt ist, ein Wunschtraum, der die Kränkung des Ödipusdramas, dessen Zeuge wir zusammen mit Dennis immer wieder werden, verdeutlicht Cronenberg schonungslos. Das Lügengebäude Dennis' bricht mehr und mehr in sich zusammen. Die Szenen seiner Vergangenheit usupieren seine Gegenwart und der nächste schizophrene Schub verursacht, dass die Menschen seiner Umgebung auf einmal zu den Menschen seiner Vergangenheit werden. Schließlich muss Dennis erkennen, was es mit dem Tod seiner Mutter auf sich hat. Sein Versuch, die Fäden seiner Biografie zu einem perfekten und undurchdringlichen Netz zu knüpfen, scheitert.

Cronenberg erzählt und zeigt diese Geschichte mit unglaublichem Einfühlungsvermögen und - wie man so sagt - psychologischer Tiefe. Diese Tiefe ist jedoch auch einem Projekt filmischer Theoriebildung geschuldet, deren Bestreben es ist, Film selbst als Diskursbeitrag zu formulieren. Auf diese Weise verwebt er die Sujets seiner Filmografie zu einem Projekt über den Menschen, der in der Überschreitung räumlicher und zeitlicher Grenzen die Fragmentierung seiner selbst erleben muss. Gesund und Krank unterscheidet Cronenberg dabei nicht; das sind nur verschiedene Grade auf ein und derselben Skala.

Spider

(Can/GB 2002)

Regie: David Cronenberg

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