Eines der ersten Bilder vereint Benigno und Marco, Gesichter in
Großaufnahme, als Zuschauer bei Pina Bauschs "Café Müller".
Zwei aufgelöste Frauen taumeln über die Bühne, ein Mann, der
ihnen hektisch Tische und Stühle aus dem Weg räumt. Schnitt auf
die Großaufnahme: Marco weint, Benigno sieht es. Die beiden kennen
sich nicht, noch nicht, Benigno wird Alicia davon erzählen, der Frau
mit der er, wie soll man sagen, zusammen ist. In diesem Closeup steckt schon
die ganze Geschichte von "Sprich mit ihr", wir wissen es nur noch nicht.
Almodóvar wird sie entfalten, ausfalten, mit sehr souveränem
Erzählergriff Vorgeschichten erzählen, Hintergründe
aufklären und eine Entwicklung in Gang setzen, die Marco und Benigno
wieder vereinen wird (und dann wieder trennen). Mächtig wie selten wird
in diesem Film, über alle Abwege hinweg, nein: sogar gerade auf den
Abwegen, ein auktorialer Erzählerwille deutlich, eine lenkende Hand,
die von Zeit zu Zeit auch in die Bilder hineinplatzt, mit Inserts, die das
Offensichtliche noch einmal formulieren, die bestehenden Paarverhältnisse:
Benigno und Alicia, Marco und Lydia, zuletzt eine dritte Paarung mit sanft
ironischer Wunscherfüllungsgeste (auf diesem utopischen Ton wider alle
Wahrscheinlichkeit endete schon "Alles über meine Mutter"). Gerade weil
diese aus dem Hintergrund in den Vordergrund zoomenden Inschriften eigentlich
überflüssig sind, lenken sie die Aufmerksamkeit auf diese Instanz,
die sich bei Almodóvar gerne als (grotesker) Zufall verkleidet, hier
aber als Wille eines allmächtigen Schicksalschoreografen kenntlicher
wird.
Und die Choreografie der Ereignisse in "Sprich mit ihr" ist von geradezu
ungeheuerlicher Unwahrscheinlichkeit, die in der Symmetrie, mit der alles
arrangiert ist, zu formidabler Künstlichkeit, aber - und das ist das
bei Almodóvar immer wieder verblüffende - auch zu
beträchtlicher innerer Plausibilität findet. Symmetrisch auf einander
bezogen nämlich werden die Schicksale Benignos und Marcos über
ihnen zugeordnete Frauenfiguren, die - ein wenig respektlos gesagt -
Almodóvar ins Koma schickt, auf dass die Männer einander
(wieder)begegnen. Der Frauenfilmer Almodóvar also findet zu einer
Männergeschichte über stillgestellte, scheintote Frauen; keine
Nervenzusammenbrüche mehr (die Hysterie ist in einen Trash-TVAusschnitt
verbannt), stattdessen eine ganz inwendig gewordene zärtliche Besessenheit
oder besessene Zärtlichkeit, die sanft übertragbar ist von einem
Objekt aufs andere, von der Frau auf den Mann. Die Gleichung jedoch wird
nicht aufgehen - oder jedenfalls: anders als gedacht -, es bleibt ein Zuviel
und ein Zuwenig zugleich, Benigno verliert Alicia, weil er zuviel will -
es kommt zum nekrophilen Akt, den Almodovar mit einem bizarren Stummfilmpastiche
seltsam genug entwirklicht (es ist ähnlich wie bei Kleists Marquise
von O. - statt des viel sagenden Gedankenstrichs offeriert Almodóvar
jedoch eine ganze Deckerinnerung als Spielfilm en miniature. Vielleicht auch
hier: zu viel). Benigno wird so, mit der sanftesten Vergewaltigung, die die
Filmgeschichte kennt, zum Erlöser Alicias (eine Ungeheuerlichkeit, die
der Film gewiss nicht dramatisiert) und geht selbst daran zugrunde. Marco,
dessen Lydia noch im Koma zu ihrem früheren Geliebten zurückgefunden
hat, wird eine Frau verlieren und einen Freund und doch nicht alleine bleiben.
Erstaunlich bleibt, wie beiläufig Almodóvar diese gewaltsame
Ökonomie entwickelt, die über Scheintote und Leichen geht, um am
Ende doch noch und wieder ein Paar zu produzieren, verblüffend, wie
sanft sein rabiater Umgang mit den Figuren daherkommt, wie sehr ihre Schicksale
aus ihnen selbst heraus entwickelt scheinen.
Das ist gewiss ein Verdienst der genauen Choreografie der ineinander
geschobenen (mehr als gewobenen) Geschichten - und die Rede von der Choreografie
ist dabei so wenig Zufall wie das Leitmotiv des Balletts, auf das der Film
ein ums andere Mal zurückkommt. Denn ballettös ist der Film:
ausgetüftelt bis in den kleinsten Schritt, die minimale Bewegung, auch
den narrativen Umweg, der motivisch aber nichts ist als Variation - bis zur
Verkehrung - und Verdichtung, von Marcos in einen Traum verlegter Vorgeschichte
einer unglücklichen Liebe bis zur Utopie des Verschwindens des Mannes
in der Vagina der Frau, die der Stummfilm vorführt. Hier finden die
seltsamen Geschlechterverhältnisse zu sich selbst: als verschobene und
verschiebende Bebilderung der Vergewaltigung. Der Mann tritt auf als geschrumpft
- und zugleich ganz zum im Geschlechtsakt sich auflösenden Phallus geworden;
der ganze Kurzfilm wiederum ist eingeführt als Fortsetzung des abgebrochenen
Lebens der von Benigno verehrten Frau: auf ihren Spuren ist er zu Gast in
der Kinemathek. Der Mann ist hier Opfer und Täter zugleich, die Frau
machtvoll zunächst (als Stierkämpferin, als unerreichbare
Schönheit) und schlafend bzw. komatös entmächtigt bald darauf.
Männer sind es, die sich aufopferungsvoll um Frauen kümmern, um
Frauen, die Opfer sind - wenngleich nicht der Männer; dazu werden sie,
in ihrer Rettung durch diese, erst. "Sprich mit ihr" ist so, nicht zuletzt,
eine gender-verkehrte (und in dieser Verkehrung höchst verwirrende)
Variation auf Breaking the Waves, eines der anderen großen,
jedenfalls groß gedachten, Melodramen der letzten Jahre. Und ins Melodram
gehörig ist das - neben dem Ballett, mit diesem verbunden - andere
große Leitmotiv des Films: die Tränen, hier des Mannes, die sich
in den vielfach durch die Bilder (vor allem auch durchs Schlussbild)
fließenden Wassern vervielfachen und dem fortgesetzten Gleiten und
Strömen der Gefühle, der zwischenmenschlichen Beziehungen
korrespondieren. Im wie tränenverschleierten Blick der Kamera fallen
die Gesichter von Marco und Benigno bei ihrer letzten Begegnung, der trennenden
Wand zum Trotz, ineinander, blenden sich aufeinander: überaus kunstvoll
inszeniert Almodóvar so das Paradox des Zugleich von inniger und
unmöglicher Verbindung als schlagendes Bild. An dieser Stelle freilich
lässt sich auch das leise Unbehagen, das sich angesichts solcher
Meisterschaft meldet, am besten formulieren: es ist, inzwischen, vielleicht
ein bisschen zuviel der Kunst bei Almodóvar, die motivische Durcharbeitung
ins letzte droht dem Betrachter mitunter die Freiheit nicht nur des Blicks,
sondern auch des Gefühls zu rauben. Beinahe lassen einen die so
bravourös inszenierten Schicksalswirren von "Sprich mit ihr" kalt.
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