Das merkwürdige Verhalten geschlechtsreifer Belgier zur
Paarungszeit
Die Situation ist fast schon standardisiert: Ein junger Mann aus der
Großstadt fährt mit seinem Auto übers Land und erleidet eine
Panne. Er schlägt sich bis zum nächsten Gasthof durch, wo man ihn
bereitwillig aufnimmt und ihm zu helfen verspricht. Die Hilfe wird jedoch
immer wieder verzögert und als der Mann sich schließlich allein
auf den Weg machen will, wird er überwältigt und als Geisel genommen.
Diese aus zahlreichen Redneck- und Backwood-Filmen bekannte
Erzählkonstruktion bekommt im belgischen Film "The Ordeal" eine
beängstigend-groteske Steigerung.
Der Leidensweg des Musikers Marc Stevens, der mit seinem Kleinbus kurz vor
Weihnachten in der belgischen Pampa strandet, führt ihn in die
Abgründe sexueller Devianz: Nicht nur, dass sein Gastgeber Paul Bartel
von der fixen Idee besessen ist, bei Stevens handele es sich um die entflohene
Ehefrau, die nun aus Reue und Liebe zu ihm zurückgekehrt ist (und von
ihm nicht gerade zärtlich behandelt wird). Auch das Umfeld des Sonderlings
Bartel ist von Irrsinn und Perversion beherrscht: So entdeckt Stevens bei
einem Spaziergang kurz nach seiner Ankunft in der Pension in einer nahe gelegenen
Scheune mehrere Männer, die sich durch Fellatio von einem Kuhkalb
befriedigen lassen. Bartel, der diesen und auch anderen Dorfbewohnern aus
nicht genannten Gründen feindlich gegenübersteht, beäugt
später seine zurückgekehrte "Ehefrau" eifersüchtig, denn auch
die Dorfbewohner sehen in Stevens nicht den, der er ist.
Dass etwas grundsätzlich faul ist im Staate Belgien offenbart bereits
die Eröffnungssequenz des Films, in der Stevens einen Gesangsauftritt
in einem Altersheim hat, bei dem er heftig mit den alten Damen flirtet. Eine
von ihnen interpretiert seinen Flirt als echtes Interesse, sucht ihn nach
der Show hinter der Bühne auf, macht ihm mehr als eindeutige Avancen
und wird schließlich von ihm abgewiesen - nur um der nächsten,
der Heimleiterin, das Feld zu räumen. Diese überfällt Stevens
schon fast mit ihren Zärtlichkeiten und steckt ihm Pornofotos von sich
zu. Zeigt der Film hier noch eine nahezu "zivilisierte" Form der
Triebkanalisation, in der die Worte Stevens (nämlich die der Ablehnung)
noch Tatsachen zu schaffen im Stande sind, so schwindet diese Möglichkeit,
je tiefer der Sänger in die belgische Backwoods gelangt. Dort herrscht
nicht selten Redeverbot und das Grunzen wird zur vornehmlichen Art der
Kommunikation, die die Rednecks zusammen mit den von ihnen vergewaltigten
Tieren pflegen.
Man kann sich einer sozial- und medienkritischen Lesart von "The Ordeal"
kaum erwehren. Der Film erscheint zu einer Zeit, in der Belgiens internationale
Bekanntheit nicht mehr von Waffeln oder Pommes Frites bestimmt ist, sondern
durch zwei der grausamsten Sexual-Serienmorde der europäischen Geschichte:
Der Fall des pädophilen Kindermörders Marc Dutroux auf der einen,
die jüngste Entlarvung des ebenfalls pädophilen französischen
(in Belgien aktiv gewesenen) Serienmörders Michel Fourniret auf der
anderen Seite bestimmen derzeit das Medienbild Belgiens. Zwar dürfte
der Fourniret-Fall zur Produktionszeit von "The Ordeal" noch nicht bekannt
gewesen sein, der motivische Zusammenhang scheint aber gerade deshalb umso
luzider und bedrückender.
Denn im schwarzen Humor und in den Abgründen menschlicher Sexualität,
mit denen Fabrice du Weiz seinen Protagonisten Marc konfrontiert, scheint
sich doch auch ein Kommentar auf eben jenes Medienbild Belgiens wieder zu
finden. Hat man die weiten Kreise, die der Fall Dutroux angeblich bis in
Regierung und Polizei gezogen hat, über die Medien verfolgt, so mochte
tatsächlich der Eindruck entstehen, dass beim westlichen Nachbarn die
Grenzen zwischen Gut und Böse vollends verschwommen sind. Dass dem nicht
so ist, darauf weist "The Ordeal" deutlich hin, der das Gezeigte zwar als
unendlich grausam, aber dennoch nicht ohne mediale Ironie schildert. So wird
der Zuschauer am Ende der ersten Hälfte etwa Zeuge eines geselligen
Kneipenabends der perversen Dorfbewohner, an dessen Höhepunkt die
Männer (und es sind nur Männer in dem Ort) einen debilen Hüpftanz
zu kakophonischen Klavierklängen tanzen. Das Zerrbild einer Irrenanstalt,
das den Film eindeutig als Komödie ausweist und das die dokumentierende
Kamera lüstern einfängt.
Fabrice du Weiz dreht "The Ordeal" innerhalb fester Genre-Konventionen. Er
knüpft an die Tradition des amerikanischen Backwood-Films an (Deliverence,
The Hills have Eyes, Southern Comfort), der die moralische Steinzeit ebenfalls
als Bestandteil der Zivilisation und nicht als Bedrohung von außen
kennzeichnet. Sind es in den amerikanischen Filmen zumeist die Sümpfe
und Wälder der Südstaaten oder die Wüstengegenden im Westen,
so wählt "The Ordeal" eine morastige Steppe im winterlichen Belgien,
die den Eindruck erweckt, dass man in ihr - inmitten der Zivilisation -
tatsächlich verloren gehen könnte. In einem unterscheidet sich
"The Ordeal" jedoch deutlich von seinen amerikanischen Vorbildern: Im Unterschied
zu deren eher auktorialen Beobachterpositionen gerät der Zuschauer
Kamerablick hier zusehends zum mitwissenden Teilnehmer der grotesken Orgien:
Auf dem Weihnachtsfest, das Bartel mit Stevens feiert, labt sich der Kamerablick
am Geschehen, wirbelt durch den Raum, so als wäre der Zuschauer im Kino
Teilnehmer der Situation.
Nachdem die Dorfbewohner diese Orgie blutig beendet haben, flieht der halbnackte
Marc Stevens in die Einöde. Auf seiner Flucht gerät er immer tiefer
in die verschneiten belgischen Sumpflandschaften. Gehetzt von den Männern
und vom nun nicht mehr neutralen Kamerablick verliert er sich schließlich
in der Landschaft, in der ihn der sichere Kältetod erwartet: Der Perversion
und den Medien scheint man in diesem Belgien nicht entkommen zu können.
The Ordeal
Frankreich/Belgien/Luxemburg 2004
Regie: Fabrice du Weiz
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