Es kann nur eine geben
Der weltweite Erfolg des neuseeländischen Films Whale
Rider ist ein Phänomen. Mit einem für einheimische Produktionen
relativ üppigen Budget von sechs Millionen Dollar drehte ein Ensemble
aus Laien- und professionellen Darstellern in einem kleinen Ort am East Cape
Neuseelands einen Film über einen Wal und ein Mädchen.
Die 1966 geborene Regisseurin Niki Caro, deren Filmbiographie bis
dato einige Kurz- und einen preisgekrönten Spielfilm (Memory &
Desire) enthielt, wurde als Neuseeländerin europäischer Herkunft
die Verfilmung des gleichnamigen Romans eines berühmten
Maori-Schriftstellers angeboten. Witi Ihimaera schrieb Whale Rider
1987 bei einem Aufenthalt in New York und widmete das Buch seinen Töchtern,
die sich nach einer weiblichen Heldin gesehnt hatten. Es verknüpft eine
tausend Jahre alte Geschichte der Maori, die lange vor den europäischen
Entdeckern die beiden Inseln im Südpazifik besiedelten,
mit dem Kampf eines Teenagers um die Zuneigung ihres Großvaters und
die Anerkennung als legitime Nachfolgerin des Walreiters.
In den letzten Jahren machte Neuseeland vorwiegend als Drehort der
aufwändigen Herr der Ringe-Trilogie von dem in Wellington
ansässigen Regisseur Peter Jackson sowie Der letzte Samurai
mit Tom Cruise von sich reden. Mit Land und Leuten haben diese Filme primär
nichts zu tun. Sie nutzen die spektakuläre Landschaft als Kulisse,
profitieren von günstigen Arbeitsbedingungen und bis auf Ausnahmen
von der ihnen entgegen gebrachten Begeisterung, ein kleines Land am
Rande der Weltkarte für kurze Zeit in das Zentrum des (Film-)Interesses
zu rücken.
Originäre Stoffe aus Aotearoa, dem Land der langen weißen
Wolke, wie Neuseeland in der Sprache der Maori heißt, kamen erst in
den 90ern mit Filmen von Jane Campion (Das Piano), Peter Jackson
(Heavenly Creatures) oder Lee Tamahori (Die letzte
Kriegerin) in die internationalen Kinos. Bis auf letzteren übernehmen
in allen Filmen die ersten Einwohner Neuseelands eine marginale Rolle. Cliff
Curtis, einer der Hauptdarsteller aus Die letzte Kriegerin und
seit diesem Erfolg auf der Besetzungsliste internationaler Produktionen
(Training Day, Three Kings), beschreibt sein Debüt
in Das Piano als exotische Beigabe zur Story.
Die Interpretation der Maori-Kultur oblag seit der Inbesitznahme
Neuseelands durch die englische Krone im 19. Jahrhundert den Nachfahren der
europäischen Kolonialherren. In den Archives of New Zealand in Wellington
liegt das Original des Treaty of Waitangi, des 1840 unterzeichneten Vertrages
zwischen den Stammesführern der Maori und den Vertretern der englischen
Krone. Ein Abkommen, dessen fragwürdige Interpretation und praktizierte
Ungerechtigkeit heute von Regierungsseite offiziell bedauert wird. Nach mehr
als hundertjährigem Ringen um Identität und Autonomie auf Seiten
der Maori veränderte sich seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts
bei der von den Europäern abstammenden Bevölkerung, den Pakeha,
schrittweise die Wahrnehmung der nationalen Geschichte.
Entschädigungszahlungen und vereinzelte Landrückgabe sowie die
Definition als bikulturelle Nation führten zu einer partiellen
Annäherung zwischen Pakeha und Maori sowie zu einem wachsendem
Selbstbewusstsein bei letzteren. Als Maori Renaissance wird der
Prozess der Rückbesinnung auf die eigenen Traditionen und ihre Vermittlung
an die jüngere Generation bezeichnet.
Fast zehn Jahre liegen zwischen dem 1994 in den Kinos startenden
Sozialdrama Die letzte Kriegerin und der seit zwei Wochen auch
bei uns laufenden Emanzipationsgeschichte Whale Rider. Nie zuvor
hatte ein Autor das Elend der ersten Bewohner Neuseelands, die heute 15 Prozent
der Gesamtbevölkerung stellen, so drastisch zu Papier gebracht wie Alan
Duff, auf dessen Roman Once Were Warriors der Film von Lee Tamahori
basiert.
In einer heruntergekommenen Gegend von Auckland, neben einem Highway,
lebt eine siebenköpfige Maori-Familie, die an Gewalt und Alkoholismus
fast zugrunde geht. Die Tochter erhängt sich nach ihrer Vergewaltigung
durch den Onkel (Cliff Curtis, der in Whale Rider den meist
abwesenden, aber liebevollen Vater von Paikea spielt). Der
großmäulige Vater Jake weiß sich in seinem Schmerz nicht
anders zu helfen, als den Baum zu fällen, an dem sich die Tochter
aufknüpfte. I make the desicions for my family, schleudert
ihm seine Frau Beth, die er in den 18 Ehejahren regelmäßig schlug,
in der letzten Szene auf einem Parkplatz vor der Stammkneipe ins Gesicht.
Our people once were warriors, people with manga, with pride.
Wie eine große stolze Schwester der zarten Paikea aus Whale
Rider wirkt die von Verlust und Schmerz gezeichnete Beth.
Alan Duff hat die Geschichte der Familie weiter erzählt. What
becomes of a broken hearted?, der zweite Teil seiner Trilogie (der
dritte erschien Weihnachten 2002 als Buch in Neuseeland) war als gleichnamiger
Film 1999 bei der Verleihung der New Zealand Film Awards in mehreren Kategorien
nominiert und wurde in der Abteilung Bester Film von dem
Spielfilmdebüt Memory & Desire der damals noch unbekannten
Regisseurin Niki Caro geschlagen.
Innerhalb der Maori-Community regt sich immer dann lautstarker Protest,
wenn eines ihrer Themen von einem/einer Pakeha interpretiert wird. Schenkt
man dem Presseheft und zahlreichen Artikeln aus Neuseeland Glauben,
überzeugte die junge Regisseurin die kritische Gemeinschaft am East
Cape durch gute Sprachkenntnisse in Maori und einen sensiblen Umgang mit
dem Thema.
Anders als dem von einem Festival zum anderen schwimmenden Whale
Rider unter anderem Publikumspreis in Toronto sowie Auszeichnungen
in Sundance, Rotterdam und San Sebastian sind Produktionen von Maori
normalerweise kein großes Publikum vergönnt. In seinem Essay
Maori im neuseeländischen Film. Die Sichtweise eines Pakeha
stellt der neuseeländische Professor Sam Edwards die wenigen Filme vor
und diskutiert unter anderem das ihnen teilweise inhärente Problem der
kulturellen Kolonialisierung, das heißt das Zurückgreifen
auf ein Stereotyp zum Beispiel das Image des Kriegers, des edlen
Führers, des noblen Wilden bei gleichzeitiger Kritik
an der selektiven Wahrnehmung ethnischer Vielfalt.
Einen anderen Weg schlug vor zwei Jahren der Schauspieler (Sleeping
Dogs) und Regisseur Don Selwyn ein: Er drehte den ersten Film auf Maori,
mit englischen Untertiteln, nach einem Stück von Shakespeare. The
Maori Merchant of Venice erhielt den Publikumspreis auf dem Filmfestival
in Hawaii und tourte durch einige neuseeländische Kinos. Betrachtet
man das Phänomen Whale Rider, nach dem Start von
Rain im Frühjahr bereits der zweite neuseeländische
Film in diesem Jahr nicht zu vergessen, dass in wenigen Monaten der
dritte Teil von Herr der Ringe wieder das ganz große
internationale Publikum erreichen wird , lässt sich sein Erfolg
auf die Adaption einer simplen Textur zurückführen, mit der Hollywood
an der Kinokasse seit jeher Millionen einspielt: Held(in) wider Willen
überwindet alle Barrieren und triumphiert am Ende. Whale Rider
schickt dazu die charismatische Debütantin Keisha Castle-Hughes als
tugendhaftes Mädchen Paikea auf die spirituelle Sinnsuche. Ein Konzept,
das, trotz unterschiedlicher Problematik, bereits den australischen Film
Long Walk Home über die Stolen Generation aus den
Arthouse-Kinos in die Multiplexe und damit in eine große
Öffentlichkeit brachte.
Als Rollenvorbild für moderne junge Frauen, Anliegen ihres
Schöpfers, des Schriftstellers Witi Ihimaera war, gerät Paikea
im Film zu perfekt, fast aseptisch. Sie personifiziert eine Strömung
innerhalb der Maori-Gesellschaft, die in der Bewahrung der Tradition, der
Rückkehr zu den alten Werten, die Lösung für aktuelle Probleme
sieht. Der Moment der Emanzipation, das deutlich angelegte feministische
Profil der Figur, bekommt einen Hang zum Heroismus im Sinne einer stetig
gegen den Widerstand des sturen Großvaters ankämpfenden, jede
Zurückweisung schluckenden Leidensgestalt. Es kann nur eine geben,
suggeriert der Film von Anfang an, und viele magische Momente weisen auf
diese mythische Bestimmung hin. Doch wenn Paikea in der letzten Szene den
Ton im Waka, dem Kriegskanu, angibt, fragt man sich ungläubig, wohin
die Reise geht. Lebts sich so am anderen Ende der Welt?
*In: Hartmut Jäcksch (Hg.): Maori und Gesellschaft. Wissenschaftliche
und literarische Essays. Berlin: Mana-Verlag 2000, S. 117140
Siehe auch:
David Flickling: The return of the native, The Guardian,
10.7.2003
Nicola Shepheard: Making Waves, North & South, February
2003
OnFilm, December 2002
Interview mit Niki Caro in: Metro, January 2003
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