Eine Stimme, die sich danach sofort aus dem Film zurückziehen
wird, macht den Anfang, fragt, unter dem Schwarzbild und den durchlaufenden
Schriftzeichen, die kleine Ameneh nach ihren Brüdern und Schwestern.
Einen nach dem anderen, drei Schwestern, zwei Brüder, nennt sie sie,
stellt die Helden dieses Films vor. Gleich die ersten, darauf folgenden Bilder
von einem Basar in einem irakischen Dorf werfen den Betrachter mitten hinein
in die erdrückende Situation der Kinder. Mit kleinen Handreichungen
verdienen sie sich ihr Geld, müssen noch um unzumutbar harte Arbeit
betteln. Der Vater, von dem Ameneh spricht, der vom Schmuggel über die
iranisch-irakische Grenze lebt, wird bei der Rückkehr der Kinder ins
Dorf nicht mehr leben, Ayub, der älteste Sohn, hat nun die Rolle als
Ernäherer und Familienoberhaupt zu übernehmen.
Madi ist das Sorgenkind der Familie. Ein verkrüppelter,
zwergenwüchsiger 15jähriger, der kaum spricht, hellwach aussieht,
wie ein Kind weint, wenn er seine Spritze bekommt und der dringend operiert
werden muss, soll er ein paar Monate wenigstens noch leben. Madi ist in einer
Lage, die ohnehin kaum anderes als Mühsal und Schrecken kennt, eine
zusätzliche Last; die Kinder jedoch kümmern sich aufopferungsvoll
um den Bruder. Ayub wird zum Schmuggler, riskiert, bedroht von Landminen
und Hinterhalten, Leib und Leben, um die Operation möglich zu machen.
Zwischen der Welt der Kinder und der der Erwachsenen verläuft ein scharfer
Riss. Zwischen den Vätern, oder ersatzweise den Onkeln, wird um die
Verheiratung der Kinder geschachert, Madi aber wird von der neuen Familie
seiner Schwester Rojin empört zurückgewiesen.
Bevor der Film beginnt, bevor die nur am Anfang hörbare fragende
Stimme einsetzt, gibt es eine Schrifttafel; der Regisseur und Autor informiert
über die Lage des kurdischen Volkes und gibt sein ästhetisches
Programm zu Protokoll. Der wichtigste Satz: "Das Gezeigte ist keine Erfindung
meiner Fantasie." Das klingt naiv und doch ist darin, abgesehen von
der Zurichtung zur Erzählförmigkeit, die der Film vornimmt, eine
Wahrheit. Die Wucht der Geschichte liegt darin, dass sie zur Wirklichkeit
nichts hinzutun muss um zu überzeugen. Die Bilder sind klar und einfach,
ohne dass dadurch irgendetwas mythisiert würde. Der Film ist mit vielen
Laien aus dem Dorf, in dem er spielt, gedreht, mit einem winzigen Team. Er
verdichtet das Dokumentarische, schneidet, natürlich, aus, aber geht
über das Minimum der Erfindung nicht hinaus, das die Figuren zur
berührenden Geschichte anordnet.
Zeit der trunkenen Pferde ist ein Film über die Grenze.
Sie ist Fluch und Segen zugleich für die Dorfbewohner, die sich ihren
Lebensunterhalt durch den Schmuggel verdienen und dabei immer ihr Leben
riskieren. Es ist ein Leben an der Grenze auch im ganz existenziellen Sinn:
viel mehr als das bloße Leben und Überleben haben die Kinder nicht.
Und doch gibt es diesen Überschuss übers Kalkulieren mit dem
Lebensnotwendigen in der Fürsorge für den verkrüppelten Madi.
An ihm, dem Hilflosen, hält das familiale Band zusammen, mit ihm auf
dem Rücken wird Ayub am Ende, against all odds, über die
Grenze gelangen.
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