Berlin, 1.9.2002
Frieda Grafe nannte sich Filmkritikerin. Sie war eine große
Autorin, eine Intellektuelle, die dachte und schrieb wie keine andere und
kein anderer, singulär in Nachkriegsdeutschland, Bezüge gab es
eher nach Frankreich hinüber. Nicht nur weil sie eine der ersten war,
die begriff, dass die "Nouvelle Vague" nicht weniger vorschlug, als Film
neu zu denken aus Kenntnis der Tradition; mit französischer Theorie
und abendländischer Kulturgeschichte war sie wie selbstverständlich
vertraut, auf Distanz blieb sie zu jedem Jargon, schrieb, wie nur sie schrieb:
reich an Assoziationen, gelegentlich prägnant bis zur Undurchdringlichkeit,
inspiriert und inspirierend, subtil und strahlend intelligent. Ihr zu Ehren
trafen sich Freunde und Weggefährten im Berliner Arsenal, um ihrer zu
gedenken: Frieda Grafe starb im Juli dieses Jahres.
Enno Patalas, Grafes Lebensgefährte, selbst längst eine
Legende als Mitbegründer der Zeitschrift Filmkritik, in der Grafes
erste Texte erschienen, später als Leiter des Münchner Filmmuseums,
berichtete von der Entstehungsgeschichte des soeben erschienen Bandes
"Filmfarben" mit Texten Grafes. Wenig lag ihr, erzählte er, an der
Beschäftigung mit Texten von früher, alles Journalistische an ihrer
Arbeit blieb ihr fremd. Erst jetzt beginnt eine Werkausgabe, Filmfarben ist
der erste Band, geplant sind zehn oder mehr, zusammengestellt nach den Themen
und Regisseuren, die Grafes Lebensthemen waren: Lang, Lubitsch,
Murnau, natürlich die Nouvelle Vague.
Es folgte eine Lesung, wunderbar unprätentiös, Freunde lasen
Texte von Grafe, einleitend kurze Kommentare, persönliche Erinnerungen,
Farocki zu einem Artikel über das Experimentalfilmfestival im belgischen
Knokke Ende der 60er Jahre, auf dem er mit Holger Meins einen Beitrag
beisteuerte, Yoko Ono nähte sich in einen Sack ein, ohne zu sagen warum.
Diedrich Diederichsen bekannte, bei der Lektüre Frieda Grafes in den
70er Jahren intellektuelle Erweckungserlebnisse gehabt zu haben, in ihren
Texten auf die Spuren großer Regisseure und Denker geraten zu sein.
Es lasen Hanns Zischler, Heinz Emigholz, Christa Blümlinger, Angela
Schanelec, Dietrich Kuhlbrodt. Einzig Wolfgang Schmidt hatte einen eigenen
Text verfasst
(hier nachzulesen), Erinnerungen an ein Seminar mit Grafe
an der dffb, zum Dokumentarfilm, eine Hommage, eine Liebeserklärung,
vierzig Filme in zwei Wochen, darunter wollte sie es nicht machen.
Danach Vorführung eines Videos, das Igor und Enno
Patalaszusammengestellt hatten, Ausschnitte aus Klaus Theweleits
großartiger, auch großartig komischer Preisrede zur Verleihung
des 01-Awards an der HdK vor zwei Jahren als Rahmen um eine Diskussion von
Theweleit und Grafe zu Ray Müllers Riefenstahl-Film "Die Macht der Bilder",
ausgestrahlt auf 3sat, aus dem Jahr 1995. Faszinierend zu sehen, wie die
beiden die Knüppel an Dummheit, die ihnen die Moderatorin immer wieder
zwischen die Beine wirft, ohne allen Arg und vor den Augen des Zuschauers
zu subtilen Argumenten schnitzen, im vertrauten Furor der eine, differenzeriend
Grafe, die nur eines fassungslos macht: die manipulative Primitivität
von Müllers Film. Es ist eine Fassungslosigkeit, die tief empfunden
ist, die zeigt, dass Grafe nur eines ganz und gar unverständlich
gewesen ist: der Mangel an Subtilität.
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