Ich bin mitten hinein geraten und habe einen alten Mann gesehen
mit recht langen weißen Haaren und eine junge Frau, die nur einmal
kurz ganz im Bild zu sehen war. Interview, so der Titel des nicht
mehr als zehn Minuten langen Films. Unsicherheit der beiden Beteiligten,
von denen ich nicht zu sagen weiß, ob sie eine Rolle spielen, die im
Drehbuch steht. Stünde sie im Drehbuch, dann stünde da, dass sie
Unsicherheit zu spielen hätten. Oder ob sie nicht im Drehbuch steht
- nur dass der Umgang der beiden miteinander denkbar unnatürlich ist.
Nach wenigen Minuten, eine Weißblende hinaus auf das zuvor geöffnete
Fenster später, eine sehr unhöfliche Verabschiedung der Frau aus
der Wohnung des Mannes später (die Tür fällt ins Schloss,
die Kamera bleibt, der aggressive Blick des Mannes, der aber nichts mehr
sagt), einen Loop später: der Beginn des Films. Interview, der alte
Mann, von dem etwas Bedrohliches auszugehen schien, ist Lou Castel. Schauspieler
bei Philippe Garrel, bei Fassbinder, eine Legende. Die junge Frau, die ihn
besucht, die ihn interviewt, die das Drehbuch oder auch nicht zu diesem Interview
oder auch nicht geschrieben hat oder auch nicht, ist Jeanne Faust. Sie hat
diesen Film gemacht, in dem Lou Castel sie vorführt. Er spielt mit ihr,
sie ist die Regisseurin. Eine Inszenierung (was immer man davon hält)
zerstörter Souveränität, die Regisseurin ist, als
Interviewpartnerin, im Bild (nur einmal ganz), sie liefert sich aus, der
Kamera und Castel. Ein Gespräch kommt nicht zustande, Ihr Französisch
ist schlecht, sagt er, sprechen wir englisch. Castel kokettiert mit seiner
Unleidlichkeit (vielleicht ist es Jeanne Fausts Anweisung), er bietet ihr
an, sich die Hände zu waschen, in einem winzigen Kämmerchen, mit
einem Waschbecken, er scheint sie zu bedrängen. Er wechselt den Ort,
setzt sich auf eine Art Couch, gibt auch mal einen Brocken Deutsch von sich,
macht sich einen Spaß daraus, die Interviewerin zu erschrecken, dann
der Abschied, die Weißblende.
Eine andere Szene. Wie durch ein Wunder beginnt der Film (16 mm) in
der Sekunde, in der ich das abgedunkelte Separée betrete. Zu sehen
ist ein grünes Feld, zu sehen sind Häuser im Hintergrund, zu sehen
sind Berge im Hintergrund, Voralpenland, zu sehen ist ein Junge oder ein
Mann in einem orangen T-Shirt, der sich gebückt von rechts nach links
bewegt in einiger Entfernung. Nicht zu sehen ist die Kamera, die aber in
den Mittelpunkt rückt, sobald die Stimme zu hören ist (eine
männliche Stimme, schroff im Ton). Die Stimme scheint im Rücken
der Kamera situiert zu sein, direkt hinter ihr womöglich, da, wo ich
sitze (allein übrigens, die Ausstellung ist kaum besucht) sie ist aber,
greifbar, nicht im Bild. Sie ist beinahe konstituiert, möchte man sagen,
durch dieses Nicht-Im-Bild-Sein. Die Stimme, deren Sprache erst und öfter
kaum zu verstehen ist (ein tief gefärbtes Niederbayrisch), adressiert
den Mann. Der nähert sich der Kamera. Die Bildqualität ist schlecht,
die Farben fransen leicht aus, sind gekörnt, 16 mm eben. Der junge Mann
(es ist ein junger Mann, kein Junge, kein Mann, das sehe ich, als er nahe
genug ist) versteht nicht, was die Stimme von ihm will. Oder vielleicht doch?
Die Stimme sagt etwas von einer Uhr, der junge Mann zeigt eine Uhr. Was er
dann aber sagt, ist unverständlich. Die Stimme blafft ihn an. Es ist
immer dieselbe Einstellung, die Kamera wie festgewurzelt, die Stimme kommt
nicht ins Bild. Der junge Mann entfernt sich wieder, nimmt seine Arbeit wieder
auf, gebückt, verschwindet dann nach links aus dem Bild. Die Kamera
verharrt weiter, dieselbe Einstellung. Ein Geräusch, etwas bewegt sich
im Bildhintergrund in den Kader hinein. Ein Traktor, der das Feld pflügt.
Im Hintergrund das Voralpenland, die Berge. Abblende.
Mitten im Raum ein Fernseher, wieder platze ich in den Film hinein,
der Titel ist Global Girl. Wieder Jeanne Faust, wieder wirkt sie
außerordentlich verunsichert. Sie verkauft Kleidung an einem Stand
auf einem Markt im Freien, die Anmutung ist polnisch, ein Mann tritt an ihren
Stand, es gibt einen Dialog, er verhöhnt sie. Der Dialog, die Szene
wiederholt sich. Dann sitzt die Frau mit einem anderen Mann auf einer Stufe
in einer Art Stadion, der Wind fährt durchs Gras, wirbelt
Plastiktüten, Müll durchs Bild, bläst heftig ins Mikro. Ende
des Films, Anfang des Films. Erste Szene: Jeanne Faust mit dem jungen Mann
vom Ende, den sie als Übersetzer einstellt. Schnitt (der erste Film
mit Schnitt: in Interview folgte die Handkamera Lou Castel auf Schritt
und Tritt durch die Wohnung, in sonst wer wie du verharrte sie
regungslos). Der nächste Morgen, eine Taxifahrt, Regen, ziellos scheinen
die beiden unterwegs. Das Vorhaben - jedenfalls reime ich mir das so zusammen
-, einen eigenen Stand aufzumachen auf dem polnischen Markt, droht zu scheitern.
Dann glückt es doch, es kommt zu der Begegnung mit dem arroganten jungen
Mann; man hat ihn nun zuvor schon einmal gesehen. Er zog eine Hose an, war
agressiv, Jeanne Faust rief ihm zu: sie ist gefälscht. Darum wird es
auch im Dialog gehen, zwischen den beiden, dem wiederholten Dialog mit
aggressivem Unterton. Die Kleidung ist echt. Aber billig ist sie nicht.
Jeanne Faust, so scheint es, inszeniert das Leben, als wäre es
inszeniertes Leben. Die Szenen ihrer Filme bewegen sich im Zwischenraum zwischen
Dokument und Fiktion. Dokumentiert werden, könnte man vielleicht auch
sagen, Fingierungsversuche. Oder wird die Fälschung des Dokumentarischen
fingiert? Eine Entscheidung zwischen derartigen Alternativen ist nicht zu
treffen. Kompliziert wird es, erst recht, wenn die Regisseurin sich selbst
ins Bild begibt, ins Spiel. Sie tritt zögerlich auf, ihrer Rolle (im
Spiel der Fiktion, das die Bilder zu dokumentieren scheinen) ganz ungewiss,
glaubt man jedenfalls. Die Geschichten, zu denen sich das, was man sieht,
zusammenreimen lässt, bleiben belanglos. Was man sieht, zu sehen scheint,
was einem absichtsvoll absichtslos serviert wird, kommt einem vor wie das,
was beim gekonnten Erzählen von Geschichten weggelassen gehört.
Die Randbedingungen eines Interviews, einer Erzählung, die Vorbereitungen,
das Fehlgehen. Daraus baut Faust ihre Filme. Dieses Ins-Leere-Gehen,
Aus-dem-Nichts-Kommen, dieses Schlingern, Treiben, Zu-Nichts-Führen
ist die Substanz dieser Bilder, ist auch ihr Rätsel. Im Feld zwischen
ihrer doppelten Unzugehörigkeit - ins Register des Dokumentarischen
wie des Fiktiven - öffnet sich, verblüffend genug, der Raum einer
beträchtlichen Spannung, die nicht aufgelöst wird. Der Betrachter
erfährt nichts (von Belang). Er wird allerdings zur Erfahrung dieser
Nicht-Erfahrung genötigt und erlebt sein Dürsten nach dem
Herausspringen eines Sinns, der, als solcher, ausbleibt. Dieses Erlebnis
aber ist keines der Frustration, denn die Funken springen von beiden Seiten
(der der Fiktion und der der Dokumentation), um sogleich wieder ausgelöscht
zu werden. Entzogen bleibt eine klare Ordnung der Bilder, der Register. Darin,
diesen Entzug als Sog spürbar zu machen, liegt Jeanne Fausts erstaunliche
Kunst.
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