Am 28.12. 1988 warf sich auf dem Klo der Theaterfabrik, Punkt 21
Uhr 30, der Dichter, Denker und Poptheoretiker Rainald Goetz ein,
mutmaßlich: das erste, ECSTASY in den Mund. Die Welt sieht anders aus
seitdem, für ihn, und spätestens im Jahre 1991, Made In Heaven,
wie er selber es nachträglich überschreibt, ist ihm die alte Wut
endgültig abhanden gekommen. Die alte, stirnschlitzerische Wut hatte
zu tun mit dem Versuch, sich in einem endlos ausdifferenzierten und, immer
schon post Adorno, auch zu vielen Enden gedachten Kulturuniversum wenigstens
am Feind noch zu vergewissern, einem Feind, der auf popkulturellem Gebiet
mit dem erworbenen SPEX-Feinstexpertentum wenigstens immer wieder konkret
auszumachen schien.
Heute hat Rainald Goetz das nicht mehr nötig. Nicht etwa, weil
er altersweise nun alles akzeptierte. Auch nicht, weil er dank ECSTASY die
Welt nicht mehr sähe und nur noch hübsche bunte Seifenblasen. Vielmehr
ist es so, daß er sein Glück gefunden hat, soweit man das finden
kann, ohne religiös oder sonstwie überzuschnappen, und dieses
Glück ist für ihn Techno, Rave, kollektiver Rhythmus, durchtanzte
Nächte mit den richtigen Drogen und Frauen. Seine alte Obsession ist
darüber nicht verlorengegangen, nach wie vor schreibt und notiert und
veröffentlicht er unablässig und 'Jeff Koons', das nun vorliegende
Stück ist Teil eines großen gesamtkunstwerkhaften Projekts, zu
dem, nicht ganz nachvollziehbar durchnumeriert, die bereits erschienene,
ganz formidable Erzählung 'Rave', das inzwischen eingestellte, aber
ein Jahr lang ausdauernd und tagesaktuell im Internet abrufbar geführte
Tagebuch 'Abfall für alle', die multimedial im letzten Jahr in Frankfurt
inszenierten Poetikvorlesungen 'PRAXIS', eine CD und mehr
gehören.
Die Tauglichkeit der alten Gattungsbezeichnungen, die auf Goetz'
Texte ohnehin immer nur bedingt anwendbar waren, ist mit diesem neuen Projekt
nun endgültig fast dahin. Die Grenzen zwischen Fiktion und Tagebuch
sind nur mehr hauchdünn. Es ist unverkennbar der Raver und Dichter Rainald
Goetz, dessen Alltag, oder eher: Allnacht, Schauplatz der Geschehnisse ist,
viele der auftretenden Figuren tragen die Namen von Szenegrößen
(in 'Rave' von Sven Väth bis Diedrich Diedrichsen), viele der Dialoge
wirken kunstlos (oft allerdings auf kunstvolle Weise) und passieren tut nicht
viel, was halt so passiert im Laufe durchtanzter Nächte, auf
Spannungsbögen und erzählerisches Geschick kommt es aber auch gar
nicht an. Dennoch bekommt man nie den Eindruck, daß es sich dabei um
eine Privatheit handelt, die keinen interessieren müßte, um
Beobachtungen, die nur für den Szene-Insider von Belang sind. Für
'Jeff Koons', das neue Stück, gilt das in besonderem Maße und
vielleicht lassen sich daran ein paar der naturalistischen
Mißverständnisse, auf die Goetz mit 'Rave' gestoßen ist,
beseitigen.
Im Schlußabschnitt 'Ästhetisches System' von 'Kronos'
(1991) schrieb Goetz: 'Ich glaube, meine Ethik hat die Gestalt der Kunst
von Jeff Koons (intersubjektiv objektiver Idealrealismus); die Logik würde
die der Malerei von Albert Oehlen haben. Die Gesamtarchitektur, also das
Begehen der Luhmannschen Philosophie, kommt mir so vor wie der Frankfurter
Museumsbau von Richard Meier.' Egal, ob das im einzelnen so schrecklich viel
Sinn macht (oder machen soll), die Namen, die Goetz aufruft, umschreiben
nicht sein ethisches oder logisches, sehr wohl aber sein ästhetisches
Programm sehr präzise. Harald Schmidt ist seitdem noch dazugekommen,
das Motto von 'Jeff Koons' ist das so poetische wie bescheuerte
Tau-und-Wiesen-Zitat aus der Harald-Schmidt-Show. Luhmann gibt nach wie vor
die Gesamtperspektive vor, den postardonitisch nicht mehr hintergehbaren
Beobachterrelativismus. Die Zwischenmotti sind aber Koons-, Meier- und dann
noch Warhol-Zitate. Überhaupt ist das ganze Stück (falls es das
ist, ein Theaterstück) nichts als eine Ansammlung von Zitaten, denn
ausweisbar spricht da keiner mehr. Nur noch Montage von Szenen, die Sprachszenen
sind ohne verortbare Sprecher oder Personen. Das Monologische aber früherer
Stücke - am extremsten 'Kolik' - ist einer multiperspektivischen Vielfalt
gewichen..
'Jeff Koons' ist nun ein Virtuosenstück der Bejahung, des
Glückens. Eines glückenden Lebens, das per Notat zu glückender
Kunst wird. Andeutungsweise, wenigstens, aber aufdringlich ginge es auch
nicht. Die Kunst von Jeff Koons ist Beispiel, aber auch Modell der Verbindung
von Kitsch und Schrott und Lebensstil und damit zugleich Modell für
den Künstler Rainald Goetz, der, in der Wortverkunstung seines Alltags,
die er vornimmt, Programm und Ausführung seiner Kunst zugleich zu liefern
vermag. Das Credo geht so: 'Ziel wäre oder ist die Absicht/Perfektion
und Fertigkeit/wie immer schon gewesen/das Tun des Machens wegpoliert/die
Spur desWerdens dabei lassen // die Meisterschaft des Handwerks/zu dem Endpunkt
bringen/sagt der Handwerker in blauer Schürze/zu seinem bei ihm angestellten
Praktikant/wo nichts mehr davon übrig ist'. Das Wunder dabei ist: es
gelingt. Nie zuvor klang Goetz derart unangestrengt und entspannt wie in
'Jeff Koons'. Der reine chill out. Die Sätze sind, oft sehr lyrisch
anmutend, meist durchrhythmisierte, sprachspielerische Prosa, diesich im
Vorübergehen den disparatesten Themen anschmiegen kann, von
ästhetischer Reflexion über zugekokstes Gelalle bis zum Stammeln
des Liebesglücks. Und auch das ist neu bei Rainald Goetz: Liebeslyrik,
fast schon tausend Tränen tief, ohne Scheu vor großen Worten:
'mein du/und mein ich/mein alles für dich // mein Herz und Augenstern/und
Blütenblatt'. Da hat einer, weiß Gott, sein Glück gefunden.
Man darf gespanntsein, wie's weitergeht, mit dem deutschen Dichter Rainald
Goetz.
ERWIN BLUMENFELD:
EINBILDUNGSROMAN. FRANKFURT/MAIN
1996
Erwin Blumenfelds 'Einbildungsroman' ist kein Roman, sondern eine
Autobiographie. Beinahe könnte man sogar glauben, es handele sich um
so etwas wie Memoiren, denn Blumenfeld ist als Fotograf durchaus eine
Berühmtheit. In Wahrheit aber handelt es sich glatt um das Gegenteil,
denn Blumenfelds Erfolgsjahre, der Erfolg überhaupt, spielen eine durchaus
untergeordnete Rolle. Das Buch ist auch keineswegs ein Bildungsroman, der
die Formung des Protagonisten nachzeichnete, die Jahre des Künstlers
als junger, erwachsener und alter Mann. Es gibt eine Chronologie, aber es
ist die des Schelmenromans, in dem sich nichts entwickelt und bildet, sondern
ein komischer Heiliger als Held in dem, was ihm widerfährt, der
Welt den Spiegel vorhält.
Der Schelmenton liegt wesentlich nicht in dem, was passiert, sondern
in der Haltung des Erzählers dazu, der in diesem Falle behauptet, mit
einer realen Person, Erwin Blumenfeld, identisch zu sein.
Selbstverständlich ist er das nicht und schon die ersten Sätze,
die den Mutterbauch respekt- und geschmacklos als erstes KZ erinnern, machen
das deutlich. Das Ich des Buches, der deutsche Juden Blumenfeld, betrachtet
sich selbst mit einiger Geringschätzung, was dazu führt, daß
ein Subjekt, ein Ich nur auf ganz unsentimentale Weise vorhanden ist im Buch,
so daß man glauben könnte, man vermisse es - aber was man
vermißt (und nach ein wenig Nachdenken sehr gerne) ist mehr die
geschwätzige Üblichkeit eines Ichs, das der irrigen Meinung ist,
sein Allerweltsleben müsse für alle Welt von Interesse sei, nur
weil es das eigene ist. Blumenfelds Ich - ohne Zweifel ein Konstrukt der
Autobiografie, denn leben läßt sich sowas, ohne wahnsinnig zu
werden, nur ansatzweise - ist präsent als, durch Eitelkeit oder Scham
etwa, nicht zu bestechender Beobachter der Weltläufte. Und diese stellen
sich bereits der präzisen vorgeburtlichen Beobachtungsgabe als völlig
rettungslos dar. Die Schilderung der Jugend ist eine lupenreine
Haßerklärung an die eigene Familie (ein wunderbares Foto zeigt
den singulär griesgrämigen Blumenfeld mit fünf oder sechs
im Kreise seiner, nun ja..., man muß das sehen). Die Lehrzeit bei Moses
und Schlochauer lehrt fürs Leben, immerhin, die eindeutige Botschaft
bestätigt sich hinfort immer wieder und sie ist so simpel wie vom mehr
als abwechslungsreichen Leben Blumenfelds aufs interessanteste und groteskeste
variiert: der Mensch ist von Natur aus eigennützig, herzlos, unsensibel,
ein Wolf dem anderen und nächsten. Die Welt eine
Geltungsbedürfnisanstalt, sagt Blumenfeld.
Seine Haltung zum Ganzen ist weder gleichgültig noch moralisierend.
Vor nichts würde er den Blick je abwenden; je schauderhafter ist, was
er sieht, desto gnadenloser und präziser werden seine Beschreibungen.
Diese Präzision hat eine Sprache, die ihresgleichen sucht. Ohne das
Berlinische ist sie nicht denkbar. Sie ist verliebt (mitunter, vor allem
zu Beginn, bis an gewisse Grenzen meiner Toleranz) ins Spielerische,
Wortvirtuose, Schnoddrige. Behagliche Formulierung gibt es keine einzige.
Der Erzähler ist ein dartschleudernder Jupiter; kurze Bewegungen aus
dem Handgelenk, die immer mitten ins Ziel treffen. Man möchte seitenweise
zitieren, oder vorlesen. Ein Buch also, mit dem man nur eines tun kann: es
lesen und es lieben, mitsamt seiner Hauptfigur, die, angetäuscht
selberlebensbeschreibend, in Wahrheit ein viel zu lange ignorierter Wechselbalg
der deutschen Literatur ist. 23 Jahre nach einer ersten, ins französische
übersetzten Ausgabe ist der Band nun, mit äußerst glücklich
gewählten Fotografien Blumenfelds versehen, in der Anderen Bibliothek
erschienen.